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  • · Fachbeitrag · Personal

    „Gemischte chirurgische Teams können die Versorgung verbessern!“

    | Von den 416.120 berufstätigen Ärztinnen und Ärzten in Deutschland arbeiteten zum Jahresende 2021 laut Bundesärztekammer 40.194 in der Chirurgie. Nur 9.162 von ihnen, also 22,8 Prozent, waren Frauen. Dieses ungleiche Verhältnis wirkt sich auf die Versorgung aus, so Prof. Dr. Natascha C. Nüssler, seit 2007 Chefärztin der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie der München Klinik Neuperlach und 1. Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) sprach mit ihr über die Folgen der fehlenden Geschlechterparität. |

     

    Frage: Frau Prof. Nüssler, Frauen haben ein höheres postoperatives Risiko als Männer. Liegt das auch daran, dass mehr Chirurgen als Chirurginnen operieren?

     

    Antwort: Interessanterweise ist der Geschlechtsunterschied nur negativ, wenn ein Arzt eine Patientin behandelt und nicht, wenn eine Ärztin einen Patienten behandelt. Einer Hypothese zufolge operieren Chirurginnen nur in den einfacheren Fällen. Doch das kann man ausschließen. Schlüssig ist für mich die Hypothese eines Kommunikationsproblems: Patientinnen trauen sich möglicherweise gegenüber Ärzten nicht, wahrheitsgemäß über ihre Beschwerden zu berichten. Gegenüber einer Ärztin können sie eher zugeben, dass es ihnen noch schlecht geht. Auch können Schamgrenzen eine Rolle spielen, sodass Patientinnen von Ärzten weniger gründlich untersucht werden. Das kann dazu führen, dass Männer Symptome bagatellisieren oder fehlinterpretieren.

     

    Frage: Wie ließe sich dieses Problem lösen?

     

    Antwort: Es geht nicht um die Operation. Ob eine Chirurgin oder ein Chirurg operiert, macht keinen Unterschied. Es geht um die präoperative und um die postoperative Zeit. Da können gemischte chirurgische Teams helfen, denn Männer und Frauen haben einen unterschiedlichen Blickwinkel.

     

    Frage: Nun lässt sich nicht jede Visite paritätisch besetzen. Könnte die Gendermedizin (CB 04/2021, Seite 19 f.) ebenfalls helfen, indem Chirurgen sich z. B. intensiver zu Schmerzempfinden und Symptomen von Frauen weiterbilden?

     

    Antwort: Die Gendermedizin kann sicherlich zu einer Verbesserung führen. Doch ist das unterbewusste Phänomen das größere Problem. Es liegt ja auch an den Patientinnen, die nicht ehrlich über ihre Beschwerden reden. Da kann der Chirurg noch so gut weitergebildet sein.

     

    Frage: Die Chirurgie galt unter Medizinstudentinnen lange als Männerbastion, um die sie lieber einen Bogen machten. Wie ist die Situation heute?

     

    Antwort: Fast 70 Prozent der Studierenden der Medizin sind weiblich. Dennoch sind in unserer Fachgesellschaft nur 30 Prozent Frauen. Sie sind überwiegend jung. Ihr Anteil hat in den vergangenen sechs bis acht Jahren nur noch sehr langsam zugenommen. Das hat gesellschaftliche Gründe. Uns Chirurginnen wird weniger zugetraut. Eine Studie aus den USA [1] zeigt, dass Niedergelassene den Chirurginnen ‒ ganz unabhängig von deren Kompetenz ‒ weniger Patienten zuweisen als den Chirurgen ‒ selbst niedergelassene Kolleginnen handeln so. Auch in Deutschland zeigen das Fernsehen und Serien wie „Charité“ eine Chirurgie, in der Frauen die Ausnahme sind. Das ist historisch korrekt. Doch wird hier ein fest verankertes Weltbild perpetuiert. Weibliche Vorbilder, die Karriere machten, fehlen. Und diejenigen, die Karriere machten, hatten oft keine Familie. Das ist auch kein Vorbild.

     

    Frage: Liegt das auch an den jungen Chirurginnen, die ja deutlich häufiger in Elternzeit gehen als ihre männlichen Kollegen?

     

    Antwort: Frauen fokussieren oft bereitwillig auf die kleine Chirurgie wie die Koloproktologie, während Männer sich der großen Chirurgie wie der Onkologie zuwenden. Chirurginnen lassen sich leichter in Gebiete drängen, in denen ihnen das Terrain nicht streitig gemacht wird. Sobald das erste Kind kommt, arbeiten viele in Teilzeit. Ich meine, dass sie als Assistenzärztinnen in Vollzeit zurückkommen sollten. In Teilzeit dauert die Facharztzeit viel zu lang. Als erfahrene Oberärztin kann man reduzieren, aber nicht, wenn noch Erfahrung gesammelt werden muss.

     

    Frage: Wie lassen sich Studentinnen für die Chirurgie motivieren?

     

    Antwort: Wir müssen die Sichtbarkeit von Chirurginnen erhöhen. U. a. deshalb haben wir den Verein „Die Chirurginnen“ ( chirurginnen.com ) gegründet. Ein wichtiger Schritt ist, dass Fachjournale nicht mehr „Der Chirurg“ oder „Der Radiologe“, sondern „Die Chirurgie“ oder „Die Radiologie“ heißen. Auf Kongressen haben wir eingefordert, dass Sitzungen immer im Doppel von einer Frau und einem Mann geleitet werden. Doch sagen Frauen überdurchschnittlich oft ab. Sie trauen sich die Aufgabe nicht zu oder meinen, aus der Klinik nicht wegzukönnen. Interessanterweise können Männer immer aus der Klinik weg.

     

    Frage: Bleiben wir bei den Männern. Einer Medscape-Umfrage zufolge äußern mehr jüngere Männer als Frauen Kritik an der fehlenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf (CB 04/2022, Seite 18 ff.). Warum?

     

    Antwort: Die Chirurgie ist unattraktiv, weil es immer noch heißt, wir müssten wegen der Nacht- und Wochenenddienste nonstop arbeiten. Das ist ein Mythos. Nachtdienste gelten inzwischen als Arbeitszeit. In meiner Abteilung arbeitet niemand durchschnittlich mehr als maximal 48 Stunden pro Woche. Das ist eine Frage der Organisation. In einigen Häusern gilt immer noch: Wer lange da ist, ist ein guter Arzt. Das ist bedauerlich.

     

    Frau Prof. Dr. Nüssler, vielen Dank für das Gespräch! L

     

    WeiterführendeR Hinweis

    • [1] Wallis, C. J. D. et al.: Association of Surgeon-Patient Sex Concordance With Postoperative Outcomes. In: JAMA Surg. 2022; 157 (2): 146‒156. doi.org/10.1001/jamasurg.2021.6339
    Quelle: Ausgabe 07 / 2023 | Seite 17 | ID 49416843