· Fachbeitrag · Suchtmittelkonsum
„Suchterkrankte Ärztinnen und Ärzte finden es entlastend, wenn Vorgesetzte Hilfe anbieten!“
| Der Ärztekammer Berlin zufolge sind Ärztinnen und Ärzte beim Substanzmissbrauch die führende Berufsgruppe unter den Akademikern. Doch es gibt Hilfe. Ausstiegsprogramme gehören inzwischen zum Angebot vieler Ärztekammern ( iww.de/s11052 ). Dr. Maximilian Deest, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Chefarzt der Oberberg Fachklinik Weserbergland im Extertal. Mit seinem Team behandelt er suchterkrankte Kollegen. Ursula Katthöfer ( textwiese.com ) fragte ihn nach Wegen aus der Abhängigkeit. Ein Video des Interviews finden Sie online unter iww.de/s11282 ). |
Frage: Herr Dr. Deest, wie hoch ist der Anteil der Ärzte mit einer Suchterkrankung und wie lässt sich diese Zahl gesamtgesellschaftlich einordnen?
Antwort: In Deutschland geht man davon aus, dass ungefähr sieben bis acht Prozent aller Ärzte und Ärztinnen einmal in ihrem Leben eine Suchterkrankung haben. In der Allgemeinbevölkerung sind es drei bis vier Prozent. Ärzte sind im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung also doppelt bis dreifach so häufig suchterkrankt. Das ist ein ordentlicher Unterschied.
Frage: Ein Suchtmittel zu konsumieren, ist zunächst eine Strategie, um sich bei Stress zu entlasten. Warum sind Ärzte offenbar stärker gefährdet als Menschen in anderen akademischen Berufen?
Antwort: Das hat verschiedene Ursachen. Ärzte haben eine hohe Arbeitsbelastung und eine sehr verantwortungsvolle Arbeit mit viel Zeitdruck und viel Bürokratie. Unsere Patienten berichten, dass angesichts der hohen Patientenlast immer weniger Zeit bleibt und der Leistungsdruck steigt. Oft wird ein Suchtstoff wie beispielsweise Alkohol erst einmal zur Entspannung konsumiert. Was mit einem Glas Wein am Abend beginnt, steigert sich langsam und unbemerkt. Irgendwann braucht man vielleicht schon ein Glas zum Mittagessen. Weitere Risikofaktoren sind Schlafstörungen aufgrund von Schichtarbeit, Nacht- und Wochenenddiensten sowie die leichte Verfügbarkeit von gewissen Medikamenten und Suchtmitteln.
Frage: Gibt es Disziplinen mit besonders vielen suchterkrankten Kollegen?
Antwort: Ich kenne keine wissenschaftlichen Zahlen. Suchterkrankungen kommen sowohl bei stationär arbeitenden Kolleginnen und Kollegen als auch bei niedergelassenen vor. Nach meiner klinischen Erfahrung sind vor allem Anästhesisten und Hausärzte betroffen.
Frage: Liegt das auch daran, dass Medikamente schnell zur Hand sind? Und um welche Substanzen und nicht stoffgebundenen Süchte geht es noch?
Antwort: Häufig sind es stoffgebundene Süchte, Alkohol steht an erster Stelle. Dann folgen schon Medikamente, also Benzodiazepine, Schlafmittel, Schmerzmittel und Opioide. Sicherlich liegt es an der einfachen Verfügbarkeit. Wahrscheinlich spielt auch der Gedanke eine Rolle, das nötige Wissen zu haben, um Unzulänglichkeiten sehr gut medikamentös behandeln zu können. Wenn ich Schlafstörungen habe, dann nehme ich eine Schlaftablette. Manche Kolleginnen und Kollegen überschätzen sich und rutschen in die Sucht.
Frage: Das hieße ja, dass das medizinische Wissen über Medikamente den Ärzten zum Risiko oder gar zur Falle wird.
Antwort: Das kann durchaus sein. Mangelnde gesundheitliche Selbstfürsorge ist ein großes Thema bei Ärztinnen und Ärzten. Es dauert sehr lange, bis sie sich eingestehen, dass sie Hilfe brauchen.
Frage: Es versteht sich von selbst, dass Patienten nicht unter Einfluss von legalen oder illegalen Drogen behandelt werden dürfen. Aber welche Konsequenzen hat so ein Verhalten arbeitsrechtlich?
Antwort: Ich bin kein Jurist, aber grundsätzlich muss man das Arbeitsrecht vom Berufsrecht unterscheiden. Das Arbeitsrecht regelt ganz klar, dass Suchtstoffe am Arbeitsplatz nichts zu suchen haben und jederzeit zu einer außerordentlichen Kündigung führen können ‒ auch wenn der Suchtmittelkonsum in der Freizeit stattfindet und sich auf das Arbeitsleben auswirkt. Das kann sein, wenn jemand mit einem gewissen Blutalkoholwert zur Arbeit erscheint oder wegen zu großen Schlafmangels nicht arbeitsfähig ist. Berufsrechtlich kann jedes Verhalten, das Patienten gefährdet, Konsequenzen haben.
Frage: Wann droht der Verlust der Approbation?
Antwort: Die zuständige Approbationsbehörde wird immer dann tätig, wenn Patienten gefährdet sind, ohne dass es zu einer Schädigung gekommen sein muss. Wenn die Staatsanwaltschaft ermittelt, weil ein Arzt betrunken Auto gefahren ist, meldet sie diesen Vorfall automatisch der zuständigen Ärztekammer. Möglich ist auch, dass ein Patient sich an die Ärztekammer wendet, weil sein Hausarzt nach Alkohol roch und fahrig wirkte.
Frage: Welche Verantwortung tragen Vorgesetzte wie z. B. Chefärzte, die von der Suchterkrankung wissen oder zumindest Anzeichen davon bemerkt haben müssen?
Antwort: Vorgesetzte und Arbeitgeber haben eine Fürsorgepflicht, sie tragen eine hohe Verantwortung. Bei Suchterkrankungen hatte das Umfeld oft einen Verdacht. Doch für Betroffene ist die Sucht sehr schambesetzt. Die Hürde, sie selbst beim Arbeitgeber anzusprechen, ist sehr hoch. Viele Betroffene erleben es deswegen als entlastend, wenn der Vorgesetzte wohlwollend auf sie zukommt und Hilfe anbietet. Ein Vorgesetzter muss sich zudem bewusst sein, dass das Fehlverhalten seines Arbeitnehmers aufgrund des Suchtmittelkonsums immer auf ihn zurückfallen kann. Es kann für beide Konsequenzen haben.
Frage: Sie bieten in Ihrem Haus eine Therapie an. Sie startet mit der Entgiftung. Wie begleiten Sie diesen körperlich sehr anstrengenden Prozess psychotherapeutisch?
Antwort: Suchtbehandlungen muss man sich wie ein Stufenmodell vorstellen. Wir erwarten nicht, dass Patienten suchtmittelfrei in unsere Klinik kommen. Am Anfang steht daher immer die Entgiftung. Dazu gehören der körperliche Entzug sowie die Behandlung der Entzugs- oder Intoxikationssymptome. Die Entzugsbehandlung begleiten wir intensiv mit mindestens drei psychotherapeutischen Einzelgesprächen in der Woche und mindestens drei Gruppentherapien. Zusätzlich geht es um Abstinenzkompetenz und Wissen über Suchterkrankungen, um die Patienten auf ein suchtfreies Leben vorzubereiten. Während dieses Zeitraums wird auch nach weiteren Erkrankungen wie einer Depression oder einer Angstsymptomatik geschaut, die in einem Folgeschritt behandelt werden muss. Eine qualifizierte Entgiftung dauert drei bis vier Wochen, bei einer Entwöhnung sprechen wir dann noch einmal von sechs bis acht Wochen. Wenn sie wieder nach Hause gehen, schließt sich die ambulante Nachsorge an. Dazu gehören Psychotherapie, eine suchtmedizinische Anbindung und die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe.
Frage: Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Rückkehr der Patienten an den Arbeitsplatz?
Antwort: Sehr gut. Vielen gibt die Arbeit eine Struktur. Wir besprechen mit den Patienten vorher genau, wo Belastungsfaktoren sind, die vielleicht zu der Suchterkrankung geführt haben und welche alternativen Kompensationsmechanismen wie z. B. Meditation oder Sport es für sie gibt. Stress können wir aus unserem Leben nicht fernhalten. Damit umzugehen und nicht zur Flasche zu greifen, ist Teil der Therapie. Wichtig ist, die eigene Vulnerabilität zu kennen und die Freizeit dementsprechend zu gestalten.
Frage: Rückfälle gehören bei einer Therapie dazu. Wie gehen Patienten aus der Ärzteschaft damit um?
Antwort: Ärztinnen und Ärzte sind, sobald sie sich in die Therapie begeben haben, eine sehr motivierte Klientel, die sich an die Regeln hält. Deswegen haben sie nach der Behandlung auch eine relativ hohe Erfolgsquote. 70 Prozent können abstinent leben. Rückfälle gehören zur Erkrankung. Darüber klären wir auf, damit sie akzeptiert werden und die Patienten schnell Hilfe suchen.
Frage: Wie blicken nicht suchterkrankte Ärzte auf ihre betroffenen Kollegen?
Antwort: Die Stigmatisierung spielt insbesondere unter Ärztinnen und Ärzten weiterhin eine große Rolle. Sie betrachten die Sucht eines Kollegen oftmals als Schwäche. Das hat zur Folge, dass wahnsinnig viel Zeit vergeht, bis sich jemand Hilfe sucht oder in Therapie begibt. Wenn wir das in Zukunft verbessern könnten, wäre das für suchterkrankte Ärzte ebenso gut wie für ihre Patienten, die ja indirekt betroffen sind.
Herr Dr. Deest, vielen Dank für das Gespräch!
Zum Interviewpartner | Weitere Informationen online unter oberbergkliniken.de/fachkliniken/weserbergland