29.01.2014 · IWW-Abrufnummer 140279
Landgericht Bielefeld: Urteil vom 14.08.2013 – 011 Ns-16 Js 279/11-11/13
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landgericht Bielefeld
Urt. v. 14.08.2013
Az.: 011 Ns-16 Js 279/11-11/13
Tenor:
Auf die Berufung wird unter Verwerfung des weitergehenden Rechtsmittels das angefochtene Urteil im Strafausspruch dahin abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Geldstrafe von
90 Tagessätzen zu je 20,00 €
verurteilt wird.
Der Angeklagte trägt die Kosten der Berufung sowie die notwendigen Auslagen der Nebenkläger in der Berufungsinstanz.
Gründe
-abgekürzt gemäß § 267 Abs. 4 StPO-
I.
Der Angeklagte ist durch das Urteil des Amtsgerichts Bielefeld - Strafrichters - vom 22.10.2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt worden. Gegen dieses Urteil hat er form- und fristgerecht Berufung mit dem Ziel des Freispruchs eingelegt.
Sein Rechtsmittel hat nur in geringem Umfang hinsichtlich des Strafmaßes Erfolg.
II.
Der inzwischen x Jahre alte Angeklagte wurde am xx.xx.xxxx in S. geboren. Er hat noch 4 Geschwister. Altersgerecht wurde er eingeschult und besuchte zunächst die Grund-, anschließend 6 Jahre lang die Realschule. Danach nahm er noch 3 Jahre lang am Schulunterricht auf einem Gymnasium teil und erlangte das Abitur. Seinen Zivildienst leistete er als Rettungssanitäter in S. ab. Anschließend absolvierte er eine Ausbildung zum Rettungssanitäter. Der schulische Teil fand in C. statt, die praktische Tätigkeit hauptsächlich in M.. Im April 2006 nahm er sein Medizinstudium an der Universität N. auf. Am Wochenende arbeitete er in der Krankenpflege. Ab dem 21.02.2011 begann er sein praktisches Jahr. Er war zunächst 16 Wochen im F. Krankenhaus in C. in der inneren Medizin tätig. Am 13.06.2011 wechselte er in die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D.. Nach dem er zunächst ca. 9 Wochen auf einer allgemein pädiatrischen Station eingesetzt worden war, befand er sich ab dem 15.08.2011 auf der Onkologischen Station K8. Nach dem Tatgeschehen am 22.08.2011 konnte er sein praktisches Jahr im sozialpädiatrischen Zentrum fortsetzen. Im Januar 2013 hat er seine Approbation erlangt. Er arbeitet als Arzt und erzielt ein monatliches Nettoeinkommen von ca. 2.100,00 €.
Strafrechtlich ist er noch nicht in Erscheinung getreten.
III.
Die Nebenkläger Frau E. und Herr W. U. sind die Eltern ihres am 17.10.2010 geborenen Sohnes T. U.. Ende Juli 2011 befanden sie sich mit ihm zusammen im Urlaub in Albanien. Sie bemerkten bei ihm vermehrt Hämatome an den Beinen und Blässe, ohne dass er allerdings Fieber hatte. Als am 31.07.2011 noch zusätzlich eine Gesichtslähmung rechts auftrat, suchten die Nebenkläger zusammen mit ihrem Sohn ein Krankenhaus in Albanien auf. Im Blutbild zeigte sich eine deutliche Leukozytose und Anämie. Wegen des Verdachts auf eine akute Leukämie wurde ihnen eine Verlegung ihres Sohnes nach Deutschland empfohlen.
Am 02.08.2011 erfolgte T.s stationäre Aufnahme im Klinikum S.. In der Klinik bestätigte sich der Verdacht auf eine akute Leukämie mit Facialisparese (Gesichtslähmung) rechts. Zur Weiterbehandlung wurde T. am 03.08.2011 in die Kinderklinik und Kinderpoliklinik im E. Kinderspital - Klinikum der Universität O. - verbracht.
Dort wurde die Verdachtsdiagnose einer akuten myeloischen Leukämie mit ca. 60 % Blassten gestellt. Zur wohnortnahen Behandlung wurde eine Verlegung in die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im F. Krankenhaus in C. empfohlen. T. wurde dort am Abend des 04.08.2011 auf der Onkologischen Station K8 aufgenommen. Seine Mutter begleitete ihn, sie war Tag und Nacht bei ihrem Sohn. T. schlief bei ihr mit im Bett, er hatte Angst vor den Ärzten.
Am 09.08.2011 wurde T. in der Klinik für Kinderchirurgie im F. Krankenhaus in C. operativ ein einlumiger Broviac-Katheter in die Vena jugularis interna rechts implantiert. Anschließend erfolgte seine Rückverlegung auf die Station K8.
T. erhielt eine zytostatische Therapie. Bis zum 22.08.2011 war der erste Zyklus abgeschlossen. Das sogenannte "Zelltief" war gerade erreicht. Wegen der durch die Chemotherapie hervor gerufenen Infektanfälligkeit erhielt er prophylaktisch das Antibiotikum "Cotrimoxazol" als Cotrim-K Saft oral verabreicht. Seine Mutter war von den Schwestern eingewiesen worden und hatte ihrem Sohn jeweils montags, mittwochs und freitags den Cotrim-K Saft nach dem Füttern auf die Zunge geträufelt.
Die orale Vergabe des Cotrim-K Saftes ist weit verbreitet. Bei Kleinkindern hat die orale Vergabe mit einer Spritze gegenüber der Einnahme mit einem Plastiklöffel den Vorteil, dass eine genaue Dosierung erfolgen kann und auch nicht die Gefahr besteht, dass ein Teil verschüttet werden kann, wenn das Kind sich abwehrend verhält.
Für die orale Vergabe von Medikamenten wurden auf der Station K 8 in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D. normale Spritzen der Firma Braun verwandt. Sie konnten auf liegende Port-Katheter aufgesetzt werden, da der Konusdurchmesser identisch war.
Dies entsprach anscheinend auch der in den meisten Kinderkliniken praktizierten Handhabung, wie dem Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D. Prof. Dr. P. aus Gesprächen mit Fachkollegen bekannt war.
In den USA waren von 2003 bis 2006 33 Fälle bekannt geworden in denen Patienten mit Spritzen Oral zu verabreichende Mittel intravenös appliziert worden waren. Im Jahre 2007 hielt Dr. Boos in Berlin einen Vortrag über Medizinschadensfälle und Patientensicherheit. Zur Vermeidung von solchen Falschapplikationsfällen schlug er vor, für die orale Vergabe nur Spritzen einzusetzen, die keinen Lueradapter aufwiesen. Zudem sollten solche Spritzen zusätzlich exakt beschriftet werden.
Am Freitag den 19.08.2011 hatte T. den Cotrim-K Saft schlecht vertragen. Er hatte sich Freitagabends übergeben müssen. Daraufhin war ihm das Cotrimoxazol einmalig als Infusion gegeben worden, da auf der Station K8 in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D. grundsätzlich versucht wird, die Kinder an die orale Applikation des Cotrim-K Saftes zu gewöhnen. Die Stationsärztin Frau Dr. Z. hatte die einmalige Infusion des Medikamentes Cotrimoxazol angeordnet.
Da bei T. zudem hohes Fieber auftrat, wurde ärztlicherseits am nächsten Tag die Vergabe zweier zusätzlicher Antibiotika angeordnet. T. sollte 3 x täglich 400 mg Fortum intravenös und einmal täglich 40 mg Refobacin als Kurzinfusion erhalten.
Auf der Station K8 fand die Übergabebesprechung am Montag, den 22.08.2011 um 08:00 Uhr statt. Daran nahmen die Krankenschwester Frau A. und die Stationsärztin Frau Dr. Z. teil. Der Angeklagte kam erst etwas verspätet hinzu.
Frau A. hatte am Wochenende Dienst gehabt, während Frau Dr. Z. frei gehabt hatte. Frau Dr. Z. erfuhr, dass außer ihr ärztlicherseits noch der Oberarzt Dr. K. und auch der Angeklagte anwesend waren.
Frau A. berichtete ihr, wie es den Kindern geht. Sie begann mit T., da er in dem Zimmer 204 lag, das als Erstes im Rahmen der Behandlungsrunde aufgesucht wurde. Sie sprach an, dass er Fieber bekommen hatte und erwähnte auch, dass der "Spiegel" dran sei. Bei der Vergabe von Refobacin muss am dritten Tag eine Blutentnahme vor und eine weitere nach der Verabreichung des Antibiotikums durchgeführt werden. Sowohl für Frau A. als auch für Frau Dr. Z. war ein solcher Berg-Tal-Spiegel nichts Besonderes, er war ihnen aus vielfacher Handhabung geläufig. Was genau der Angeklagte aufgrund seines verspäteten Eintreffens bei der Übergabebesprechung in Bezug auf T. noch mitbekommen hat, hat nicht sicher festgestellt werden können.
Nach Abschluss der Übergabebesprechung gegen 08:30 Uhr frage Frau A. den Angeklagten, ob er bei T. die Blutentnahme durchführen könne. Dies konnte auch Frau Dr. Z. gerade noch vernehmen, während sie das Stationszimmer verließ. Der Angeklagte erklärte sich dazu bereit.
Weiterhin teilte Frau A. dem Angeklagten mit, dass T. Refobacin gegeben werde. Sie erläuterte ihm, dass der Refobacin Tag-Berg-Spiegel bedeute, dass 30 Minuten vor der Refobacin-Gabe Blut in einem kleinem Serumröhrchen entnommen, danach Refobacin angehangen und 30 Minuten später nochmals eine Blutentnahme durchgeführt werde. Für sie war klar, dass der Angeklagte zunächst erst mal nur die erste Blutentnahme durchführen sollte und hatte seine Zusage auch in diesem Sinne verstanden.
Er hingegen ging aber irrtümlicherweise davon aus, beide Blutentnahmen und auch die Refobacin-Gabe vornehmen, obwohl Frau A. den Auftrag klar formuliert auf eine Blutentnahme beschränkt hatte.
Die Durchführung einer Blutentnahme bei einem zentralen Venenkatheter war für den Angeklagten nichts Ungewöhnliches. Er befand sich bereits seit ca. sechs Monaten im praktischen Jahr. Er war im F. Krankenhaus in der inneren Medizin, anschließend aber auch in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D. von den Stations- und Oberärzten gut angeleitet worden. Anfangs hatte er den Ärzten nur zugeschaut, danach durfte er in ihrer Anwesenheit selbst ärztliche Maßnahmen, insbesondere Blutentnahmen, aber auch die Vergabe von Spritzen durchführen. Nachdem er die Arbeiten stets sorgfältig und zuverlässig ausgeführt hatte, durfte er auch selbstständig ärztliche Arbeiten übernehmen. Darunter fielen insbesondere die Durchführung von Blutentnahmen, die Verabreichung von Medikamenten, das Schreiben von Berichten aber auch die Applikation von Spritzen. Während seiner Tätigkeit als Rettungssanitäter hatte er des öfteren Spritzen intravenös gesetzt. Ihm war bekannt, dass solche Spritzen nur beschriftet appliziert werden dürfen. In Eilsituationen hatte er allerdings gelegentlich intravenöse Spritzen auch ohne Beschriftung gesetzt und zudem unbeschriftete Spritzen für andere Kollegen aufgezogen.
In der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D. hatte er nach entsprechender Einführung auch bereits intravenös Spritzen appliziert. Im Hinblick auf § 3 Abs. 4 Approbationsordnung war dafür aber stets grundsätzlich eine ärztliche Anordnung durch den Stations- oder Oberarzt notwendig. Es war aber auch nicht ungewöhnlich, dass Krankenschwestern als "Sprachrohr" der Ärzte fungierten. Frau A. allerdings war nicht bekannt, dass der Angeklagte intravenöse Injektionen vorgenommen hatte. Sie ging davon aus, dass Jahrespraktikanten aber befugt waren, nach ärztlicher Anweisung Blutentnahmen durchzuführen.
Sie hatte ihn auf der Station K8 als sehr engagierten Jahrespraktikanten kennen gelernt, der seine Aufgaben gut verrichtete. Die Stationsärztin Frau Dr. Z. hatte in der Woche zuvor ebenfalls problemlos mit ihm zusammen gearbeitet. Der Chefarzt Prof. Dr. P. schätzte ihn als gut ausgebildeten, kommunikativen Menschen. Er stufte den Angeklagten als besonders guten Jahrespraktikanten ein, dem alle Aufgaben übertragen werden konnten.
Gegen 08:40 Uhr begab sich der Angeklagte auf das Zimmer 204, in dem sich T. mit seiner Mutter Frau U. befand, um die Blutentnahme durchzuführen. Nur wenig später betrat auch die Ärztin Frau C. den Raum, um T. das Antibiotikum Fortum intravenös zu applizieren. Sie teilte dem Angeklagten mit, sie wolle dem Kind das Fortum spritzen. Sie verständigte sich mit dem Angeklagten, ihn die Blutentnahme zunächst durchführen zu lassen und verließ noch einmal kurz das Zimmer.
Inzwischen hatte die Krankenschwester Frau A. 3,75 ml Cotrim-K-Saft in eine 5 ml Spritze der Firma Braun aufgezogen und einen roten Kombistopper auf den Konus der Spritze gesteckt. Als sie die Zimmertür öffnete, bemerkte sie den Angeklagten, der damit beschäftigt war, bei T. aus dem liegenden Venenkatheter, an dem eine Heidelberger-Verlängerung angebracht war, Blut zu entnehmen.
Frau U. saß auf dem Bett mit dem Rücken an die Wand gelehnt und hielt T. im Arm der auch mit auf ihren Beinen lag. Zu ihr gewandt sagte Frau A., sie habe hier das orale Antibiotikum, sie lege das hier hin. Sie hatte dabei einen kurzen Blickkontakt mit Frau U.. Anschließend legte sie die nicht beschriftete Spritze auf den Nachttischschrank. Sie hatte den Eindruck, Frau U. habe sie verstanden. Trotz der sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten mit Frau U. hatte diese Frau A. Hinweis richtig gedeutet.
Frau U. wunderte sich nur, dass ihr Sohn das Antibiotikum wieder oral verabreicht bekommen sollte, nachdem er am Freitag es nicht hatte vertragen können und sich hatte übergeben müssen.
Frau A. verließ danach sofort wieder das Zimmer. Ein Blickkontakt mit dem Angeklagten hatte nicht stattgefunden. Er war mit der Blutentnahme beschäftigt gewesen und hatte ihr den Rücken zugewandt.
Kurz danach hatte der Angeklagte die Blutentnahme abgeschlossen. Er verließ das Zimmer und begab sich mit der Blutprobe in einen Nebenraum, um das Blut in das dafür vorgesehene Serum-Röhrchen zu füllen und es für das Labor zu beschriften.
In der Zwischenzeit kehrte die Ärztin Frau C. in das Zimmer zurück und applizierte das Fortum durch eine Membrane in eine am Infusionsständer des Kindes angebrachte Kurzinfusion.
Die Stationsärztin Frau C. hatte an diesem Morgen die sogenannte "Spritzenrunde" zu erledigen. Sie ging von Station zu Station und führte dort jeweils die vorzunehmenden intravenösen Injektionen durch.
Auf allen Stationen der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D. werden die intravenös zu applizierenden Spritzen einheitlich vorbereitet. Auf jeder Station gibt es eine sogenannte "Spritzenecke". Darunter ist ein Tisch zu verstehen, auf dem die Spritzen gebrauchsfertig abgelegt werden. Morgens ziehen die Krankenschwestern die Spritzen auf. Jede Spritze wird mit dem Namen des Patienten, dem Medikament, der Dosierung, dem Datum, der Zeit und dem Ort beschriftet. Jede Spritze ist mit einer Kanüle versehen, die sich in einer Kunststoffschutzhülle befindet. Beigefügt ist ein Kontrollzettel, auf dem der die Applikation vornehmende Arzt den Vorgang mit seiner Unterschrift dokumentieren muss. Diese krankenhausinterne einheitliche Handhabung der intravenösen Spritzen war dem Angeklagten bekannt.
Als der Angeklagte gegen 08:45 Uhr in das Zimmer zurückkehrt, ging er zum Nachttischschrank, nahm die dort von Frau A. abgelegte Spritze mit dem Cotrim-K-Saft und applizierte den Inhalt in den liegenden Venenkatheter. Dabei sagte er zu Frau U., wir müssen das Antibiotikum geben. Frau U. wunderte sich, dass der Angeklagte die Spritze in den Katheter entleerte, wusste sie doch, dass sie den Spritzeninhalt ihrem Sohn wieder oral in den Mund träufeln sollte. Sie war aber zu überrascht, um noch nachzufragen.
Der Angeklagte ging irrtümlich davon aus, in der Spritze würde sich das Antibiotikum Refobacin befinden. Er hatte fälschlicherweise angenommen, von Frau A. den Auftrag für beide Blutentnahmen und der Vergabe des Refobacin erhalten zu haben.
Bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen und ihm möglichen Sorgfalt hätte er aber erkennen können und müssen, dass er diese Spritze nicht intravenös applizieren durfte. Denn die Spritze war unbeschriftet und auch nicht mit einer Nadel versehen. Wenn auch nur für einen kurzen Zeitraum hatte die Spritze darüber hinaus unbeaufsichtigt auf dem Nachttischschrank befunden, als er das Zimmer verlassen hatte. Zudem hatte er auch nur den Auftrag erhalten, die erste Blutentnahme bei T. durchzuführen.
Der Angeklagte verließ das Zimmer, um die Handschuhe und Spritze im Mülleimer des Nebenraumes abzuwerfen. Im Untersuchungszimmer traf er auf Frau A.. Als sie ihn fragte, ob er das Blut schon abgenommen habe, erklärte er ihr, dass es hier schon liege.
Frau A. begab sich in Zimmer 204, um das Refobacin anzuhängen. Dabei fiel ihr auf, dass T. bereits blau angelaufen war, die Pupillen starr geweitet waren und er angestrengt atmete.
Zu Frau A. gewandt sagte Frau U., ihr Sohn sei gerade so komisch. Auch fragte sie, warum er das Antibiotikum in die Vene bekommen habe. Als Frau A., während sie die Pulsoximetrie anschloss, verständnislos nachfragte, welches Antibiotikum gemeint sei, kehrte der Angeklagte ins Zimmer zurück. Er wies sofort darauf hin, den Inhalt der Spritze, die Frau A. auf den Nachttischschrank gelegt hatte, in den liegenden Katheter intravenös appliziert zu haben. Der Angeklagte war noch immer in dem Glauben, Refobacin verabreicht zu haben.
Frau A. war völlig entsetzt. Es war für sie unfassbar, dass der Angeklagte die Spritze mit dem Cotrim-K-Saft intravenös appliziert hatte. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass der Angeklagte die Spritze in dieser Weise hätte einsetzen können.
Sofort danach gegen 08:46 Uhr wurde die diensthabende Ärztin Frau Dr. Z. vom Angeklagten und Frau A. hinzu gerufen. Sie stellte fest, dass es T., der stöhnte, schlecht ging. Sie bemerkte Verfärbungen an seinen beiden Unterschenkeln. Auf Schmerzreize reagierte er nicht. Seine Pupillen waren weit und lichtstarr, der Puls allerdings noch fühlbar. Sie forderte Frau A. auf, schnellst möglichst den Oberarzt Dr. K. herbeizuholen. Frau A. rannte aus dem Zimmer und erreichte sofort Herrn Dr. K., der sich gerade im Stationszimmer aufhielt. Als Herr Dr. K. gegen 08:51 Uhr auf dem Zimmer 204 eintraf, wurde er umgehend über die versehentlich erfolgte intravenöse Applikation des Cotrim-K-Saftes informiert. Er zog sofort ca. 4 ml Blut aus dem zentralen Venenkatheter ab, um evtl. noch vorhandenen Cotrim-K-Saft zu aspirieren. Er ordnete die sofortige Vergabe von Sauerstoff und T.s Verlegung auf die Intensivstation K1 an.
Frau A. informierte telefonisch die Station K1. Sie holte Beatmungsbeutel und eine Sauerstoffflasche dazu. Zusammen mit Herrn Dr. K., Frau Dr. Z. und dem Angeklagten begleitete sie den Transport T.s auf die Intensivstation. Auf dem Weg dorthin wurde der Junge bereits bebeutelt und bei ihm auch Herzdruckmassage durch Herrn Dr. K. ausgeführt. Gegen 08:55 Uhr traf der Junge unter Maskenbeatmung und Volumentherapie notfallmäßig auf der Intensivstation ein.
Der Oberarzt Dr. D. wurde hinzu gerufen und übernahm die Behandlung des Kindes auf der Intensivstation. Durch die intravenöse Gabe des oral zu verabreichenden Antibiotikums hatte T. einen anaphylaktischen Schock erlitten. Es folgte eine ca. dreieinhalbstündige Reanimation mit Gabe zahlreicher entsprechender Medikamente einschließlich einer Lysetherapie. Im durchgeführten Notfallecho zeigte sich eine sehr schlechte rechtsventrikuläre Kontraktilität und Dilatation des rechten Ventrikels. Deshalb wurde unter der Vorstellung einer Thrombosierung der pulmonalen Strombahn durch Mikroembolisierung der fehlapplizierten Medikamentenmenge zusätzlich eine Heparinisierung begonnen und eine aktive Lysetherapie durchgeführt.
Als sich gegen elf Uhr T.s Zustand vorübergehend etwas verbesserte, führte der Chefarzt Prof. Dr. P., der auf der Intensivstation ebenfalls zugegen war, ein Informationsgespräch mit dem Angeklagten, Frau Dr. Z. und Frau A.. Der Angeklagte berichtete, dass er die von Frau A. auf dem Nachttischschrank abgelegte Spritze intravenös in den liegenden Katheter appliziert habe. Er habe angenommen, dass sich in der Spritze das Antibiotikum Refobacin befinde. Er hätte den Auftrag erhalten, eine Blutentnahme durchzuführen. Frau A. habe von einem Medikamentenspiegel berichtet. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt worden, dass das Kind später Refobacin erhalten und anschließend nochmals eine Blutentnahme durchgeführt werden sollte. Er hätte das Ganze als "Paket" verstanden, er hätte beide Blutentnahmen durchführen und das Refobacin vergeben sollen. Der Angeklagte war sehr blass und psychisch stark mitgenommen.
Nachdem die Pupillen des Kindes seit über einer Stunde weit und lichtstarr waren, wurden die Reanimationsmaßnahmen nicht ausgeweitet und der Tod um 12:28 Uhr festgestellt. Als Todesart wurde "nicht natürlich" angegeben, als Todesursache "Prothahirter foudroyanter Schock. Fehlinjektion eines oralen Medikamentes i. v., Zustand nach zytostatischer Therapie einer akuten myeloischen Leukämie".
Gegen 13:00 Uhr kam es zu einem weiteren Gespräch zwischen Prof. Dr. P. und dem Angeklagten. Dabei äußerte der Angeklagte u. a., er habe einen "Black out" gehabt. Prof. Dr. P. beurlaubte den Angeklagten und veranlasste, dass er die Station K8 sofort verließ.
Frau und Herr U. waren den ganzen Vormittag über bis zum Versterben ihres Sohnes von den Ärzten über alle Ereignisse informiert worden.
Prof. Dr. P. setzte sich umgehend mit der Klinikleitung und der Rechtsabteilung in Verbindung. Noch vor 14:00 Uhr erstattete Herr G. im Namen der Klinikleitung der Klinik- und Jugendmedizin im F. Krankenhaus in C. Selbstanzeige wegen eines ärztlichen Kunstfehlers.
Am nächsten Tag meldete sich eine Stationsschwester der Säuglingsstation und regte an, die Sondenspritzen anzuschauen. Diese waren nur für Magensonden verwendet worden. Es stellte sich heraus, dass sie nicht auf "Normalspritzen" passten. Daraufhin wurde sofort angeordnet, dass nur noch diese Sondenspritzen für die orale Vergabe von Medikamenten benutzt werden sollten. Seit dem 17.01.2012 werden Oralspritzen der Firma Braun benutzt. In anderen Kliniken werden möglicherweise noch immer Normalspritzen für die orale Medikamentenvergabe verwendet.
IV.
Der Angeklagte hat sich danach einer fahrlässigen Tötung gemäß § 222 StGB schuldig gemacht. Er hat grob fahrlässig gehandelt. Bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen und ihm möglichen Sorgfalt hätte er erkennen können, dass er die von Frau A. auf dem Nachttischschrank abgelegte und den Cotrim-K-Saft enthaltende Spritze bei T. nicht intravenös applizieren durfte.
Frau A. hatte dem Angeklagten den Auftrag erteilt, bei T. eine Blutentnahme vorzunehmen. Diese Anweisung war konkret gefasst und klar umrissen, sie konnte an sich nicht missverstanden werden. Auch ihre Erläuterungen zum Berg- und Talspiegel im Zusammenhang mit dem Anhängen des Refobacins konnte er nicht dahin auslegen, einen Gesamtauftrag ausführen zu sollen, der aus der Entnahme zweier Blutproben sowie der Vergabe des Refobacins bestehen sollte.
Zudem hatte Frau A., als sie die Spritze mit dem Cotrim-K-Saft auf den Nachttischschrank ablegte, nur zu Frau U. gewandt gesagt, das hier sei das orale Antibiotikum.
Zudem war aus den Umständen der Ablage der Spritze auf dem Nachttischschrank sowie dem Aussehen der Spritze klar erkennbar, dass es sich nicht um eine für eine intravenöse Vergabe vorbereitete Spritze handelte. Frau A. hatte die Spritze auf dem Nachttischschrank abgelegt, nicht etwa mit Tupfer und Desinfektionsmittel auf einem separaten Tablett hereingebracht. Der Konus der Spritze war mit einem roten Kombistopfen verschlossen. Auf der Spritze befand sich keine Nadel mit Schutzhülle. Insbesondere aber war auf der Spritze kein Klebeetikett mit Beschriftung angebracht.
Der Angeklagte hatte jahrelang als Rettungssanitäter gearbeitet. Aus dieser Ausbildung war ihm bekannt, dass intravenös zu verabreichende Spritzen beschriftet sein müssen. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass er bei Rettungseinsätzen selbst unbeschriftete Spritzen intravenös appliziert und Spritzen unbeschriftet für Kollegen aufgezogen hatte. Er befand sich bereits seit ca. sechs Monaten im praktischen Jahr. Er war gut angeleitet worden und hatte sich als sorgfältig und gewissenhaft arbeitender Jahrespraktikant erwiesen. Er befand sich seit ca. zehn Wochen in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im F. Krankenhaus in C.. Er kannte die "Spritzenecken" und die in der Klinik allgemein übliche Handhabung der intravenösen Applikation. Zudem hatte er auch bereits selbst Spritzen intravenös injiziert.
Bei umfassender Gesamtwürdigung der Situation und seiner individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten hätte der Angeklagte unter keinen Umständen die Spritze mit dem Cotrim-K-Saft intravenös in den liegenden Katheter applizieren dürfen. Dass die Spritze nicht für eine intravenöse Vergabe vorgesehen war, war klar erkennbar. Der Angeklagte hätte deshalb zumindest bei Frau A. nachfragen müssen, um sich über den Inhalt der Spritze und deren Verwendung Klarheit zu verschaffen.
V.
Die gegen den Angeklagten zu verhängende Strafe war dem Strafrahmen des § 222 StGB zu entnehmen, der Freiheitsstrafe von einem Monat bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe innerhalb des Rahmens des § 40 StGB umfasst. Zu Gunsten des Angeklagten war zu berücksichtigen, dass er noch unbestraft ist. Er hat sich zudem ganz überwiegend geständig gezeigt. Er war noch ein recht junger Praktikant mit relativ wenig Berufserfahrung. Des Weiteren durfte auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass er möglicherweise noch berufliche Konsequenzen für sein Fehlverhalten vergegenwärtigen muss. Er bereut sein Versagen zutiefst. Hinzu kommt, dass er sowohl in der Hauptverhandlung erster Instanz als auch in der Berufungshauptverhandlung sich bei den Eltern des getöteten Kindes entschuldigt und sie um Verzeihung gebeten hat. Auch war nicht zu verkennen, dass Dr. Boos bereits 2007 zur Vermeidung von Falschapplikationen vorgeschlagen hatte, für die orale Vergabe von Medikamenten nur Spritzen einzusetzen, die nicht auf liegende Venenkatheter aufgesetzt werden können. Auch hatte er die Beschriftung solcher oral zu verwendenden Spritzen empfohlen. Durch die Verwendung normaler, unbeschrifteter Spritzen für die orale Medikationsvergabe war in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in D. eine gefahrenträchtige Behandlungsmodalität gegeben.
Demgegenüber fiel zu seinen Lasten ins Gewicht, dass ihm eine grobe Verletzung seiner Sorgfaltspflichten vorzuwerfen ist.
Bei umfassender Würdigung der vorstehend erörterten Strafzumessungserwägungen und unter Beachtung der Strafzumessungstatsachen gemäß § 46 StGB hat die Kammer bei umfassender Würdigung aller für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände die vom Amtsgericht an sich überaus angemessen verhängte Geldstrafe von 120 Tagessätzen aufgrund der der Klinik vorzuhaltenden Organisationsmitverantwortung etwas erm äßigt und eine Geldstrafe in Höhe von
90 Tagessätzen
tat- und schuldangemessen festgesetzt.
Da sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten gegenüber der Hauptverhandlung erster Instanz verbessert haben, hat die Kammer die Tagessatzhöhe auf 20,00 Euro angehoben. Ein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot gemäß § 331 Abs. 1 StPO liegt nicht vor, da das Produkt aus Anzahl der Tagessätze und der Tagessatzhöhe nicht überschritten wird.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf §§ 472, 473 StPO.