25.09.2015 · IWW-Abrufnummer 145442
Oberlandesgericht Hamm: Urteil vom 29.05.2015 – 26 U 2/13
Ein Arzt, der auf vollständig erhobenen Befunden einen falschen Schluss zieht, unterliegt einem - für sich allein noch nicht haftungsbegründenden - Diagnoseirrtum. Dieser stellt erst dann einen haftungsbegründenden Diagnosefehler dar, wenn die Diagnose im Zeitpunkt der medizinischen Behandlung aus der Sicht eines gewissenhaften Arztes medizinisch nicht vertretbar ist.
Oberlandesgericht Hamm
26 U 2/13
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 04.12.2012 verkündete Urteil der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bielefeld abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leisten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe:
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I.
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Die Kläger haben von den Beklagten wegen vermeintlicher ärztlicher Behandlungsfehler in der Hauptsache die Zahlung eines mit mindestens 5.000,00 € für angemessen gehaltenen Schmerzensgeldes, den Ersatz von Verdienstausfall für die Kindesbetreuung in Höhe von 27.972,00 €, den Ersatz von Unterhaltsschaden ab Januar 2009 in Höhe von 270% des Regelbetrages der jeweiligen Altersstufe der Regelbetragsverordnung abzüglich des Kindergeldes, die Zahlung weiterer 12.518,44 € (rückständiger Unterhaltsschaden und vorgerichtliche Anwaltskosten) sowie die Feststellung weitergehender Ersatzpflicht begehrt.
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Die Klägerin, bei der unerkannt eine Uterus-Anomalie bestand, ließ sich am 30.5.2005 durch den Beklagten zu 1), der Gesellschafter der Beklagten zu 2) ist, unter Ultraschallkontrolle eine Spirale zur Empfängnisverhütung einsetzen. Gleichwohl wurde bei ihr im März 2007 eine Schwangerschaft festgestellt, die am ##.##.2007 zur Geburt einer gesunden Tochter führte.
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Die Klägerin zu 1) und ihr Lebensgefährte, der Kläger zu 2) haben behauptet, der Einsatz der Spirale sei grob behandlungsfehlerhaft gewesen. Die bei der Klägerin vorliegende Anomalie eines Uterus bicornis hätte bereits im Rahmen der Ultraschallkontrolle bemerkt werden müssen. Das Vorliegen der Anomalie habe eine absolute Kontraindikation dargestellt; die Spirale hätte keine verhütend Wirkung entfalten können.
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Die Beklagten haben sich im Wesentlichen darauf berufen, dass die Anomalie im Rahmen des Einsetzens der Spirale und der nachfolgenden Sitzkontrolle nicht diagnostiziert war gewesen sei. Veranlassung für weitergehende Untersuchungen, die die Anomalie hätten zeigen können, aber nicht bestanden.
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Das Landgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme durch schriftliche und mündliche Begutachtung durch Prof. Dr. G im Wesentlichen stattgegeben. Es hat die Beklagten in der Hauptsache zur Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 5.000,00 € und zum Ersatz des Unterhaltsschadens im Umfang von 240% des Regelbetrages verurteilt und ferner die Ersatzpflicht für zukünftige weitere Schäden festgestellt. Abgelehnt hat es dagegen die Verurteilung zur Zahlung von Verdienstausfallschaden und den Ersatz von Unterhaltsschäden über den Satz von 240% des Regelbetrages hinaus.
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Zur Begründung hat es maßgeblich darauf abgestellt, dass dem Beklagten zu 1) entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. G ein vorwerfbare Behandlungsfehler anzulasten sei, der auch zu Haftung der Beklagten Gemeinschaftspraxis führe. Bei der Klägerin habe eine zweite Vagina und ein doppelter Uterus vorgelegen, sodass das Einlegen der Spirale nur in die linke Gebärmutter fehlerhaft gewesen sei. Die Anomalie hätte anlässlich der sorgfältigen Untersuchung, wie sie beim Einsetzen der Spirale erforderlich gewesen sei, erkannt werden können und müssen.
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Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, die die vollständige Klageabweisung begehren.
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Es liege allenfalls ein vertretbarer und deshalb nicht haftungsbegründenden Diagnoseirrtum vor. Bei der vorliegenden Fehlbildung handele es sich um eine seltene Anomalie, die auch nur sehr schwer und nur unter besonderen Untersuchungsbedingungen zu diagnostizieren gewesen sei. Überdies habe auch anl ässlich des Einsetzens der Spirale keine Veranlassung bestanden, gezielt nach einer solchen Fehlbildung zu suchen. Der Beklagte zu 1) habe sich insoweit leitliniengerecht verhalten. Wegen dieser Sachlage hätten auch Vor- Nachbehandler die Fehlbildung nicht erkannt, und auch in vergleichenden Studien seien derartige Anomalien von den Probanden häufig nicht erkannt worden. Selbst der gerichtliche Sachverständige habe sie unter Schwierigkeiten nur gefunden, weil er gezielt und in Kenntnis des Vorhandenseins der Fehlbildung nach ihr gesucht habe.
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Dessen Bewertung sei widersprüchlich und unbrauchbar gewesen, sodass dem Landgericht auch ein Verfahrensfehler vorzuwerfen sei, weil es gleichwohl kein Obergutachten eingeholt habe.
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Die Beklagten beantragen,
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das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 04.12.2012 mit dem Aktenzeichen 4 O 135/09 teilweise abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
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Die Kläger beantragen,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung. Das Landgericht habe auf der Basis der gerichtlichen Begutachtung zutreffend entschieden. Insbesondere hätte das Erkennen der Anomalie dem Facharztstandard entsprochen. Sie hätte bereits bei der erforderlichen sorgfältigen Untersuchung anlässlich des Einsetzens einer Spirale erkannt werden müssen.
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Der Senat hat die Klägerin und den Beklagten zu 1) persönlich angehört und Beweis erhoben durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. G. Ferner hat der Senat ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T eingeholt. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Berichterstattervermerk zum Senatstermin vom 06.06.2014 und das schriftliche Gutachten vom 12.12.2014 verwiesen.
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Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes, insbesondere des genauen Wortlautes der erstinstanzlich gestellten Anträge, wird auf die angefochtene Entscheidung und die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
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II.
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Die Berufung ist begründet.
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Die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche stehen ihnen nach dem Ergebnis der vor dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu. Ansprüche ergeben sich insbesondere nicht wegen des Vorliegens von Behandlungsfehlern gemäß den §§ 611, 280, 249 ff., 823, 253 Abs.2 BGB. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass dem Beklagten zu 1) derartige Fehler unterlaufen sind. Dementsprechend bestehen auch keine Ansprüche gegen die Beklagte zu 2) als von den Beklagten zu 1) mitgetragene Gemeinschaftspraxis.
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1.
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Dem Beklagten zu 1) ist kein Befunderhebungsfehler unterlaufen.
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Insoweit schuldete er die Einhaltung des medizinischen Standards, also desjenigen Verhaltens, das von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt in der konkreten Behandlungssituation aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs im Zeitpunkt der Behandlung erwartet werden kann. Er repräsentiert den jeweiligen Standard der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung, der zur Erreichung des ärztlichen Behandlungsziels erforderlich ist und sich in der Erprobung bewährt hat (vgl. etwa BGH-Urteil v. 15.04.2014 - VI ZR 382/12 -, GesR 2014, S.404) .
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Diesen Anforderungen hat das Vorgehen des Beklagten zu 1) entsprochen. Nach den Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. T hat der Beklagte zu 1) alle Untersuchungen vorgenommen, die im Zusammenhang mit der Einlage eines Intrauterinpessars geboten waren. Insbesondere hat er neben Spiegelung und Sondierung eine sonographische Kontrolle vorgenommen.
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Zu weitergehenden Untersuchungen ist er nach dem medizinischen Standard im Zusammenhang mit einer Spiraleneinlage nicht verpflichtet gewesen. Insbesondere hat der Sachverständige plausibel darauf verwiesen, dass vor der Einlage einer Spirale nicht immer nach einer intrauterinen Fehlbildung gefahndet werden muss. Erst bei dem Vorliegen einer Verdachtsdiagnose kann eine sehr genaue Untersuchung den zutreffenden Befund ergeben und kann deshalb aus der Sicht des Senates gegebenenfalls dann auch zu fordern sein. Vorliegend ist das jedoch nicht der Fall gewesen, weil hier nach der langjährigen Behandlungsvorgeschichte und auch den bildgebenden Befunden keinerlei Anhaltspunkte vorgelegen haben, die auf ein eventuelles Vorliegen einer Anomalie hingedeutet haben.
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Es ist dem Beklagten zu 1) deshalb nicht vorzuwerfen, dass er keine weitergehenden Untersuchungen vorgenommen hat, mit denen die Anomalie hätte erkannt werden können.
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2.
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Es lässt sich auch nicht feststellen, dass ein haftungsbegründende Diagnosefehler stattgefunden hat.
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Denn das Ziehen des falschen Schlusses aus den vollständig erhobenen Befunden stellt für sich allein nur einen nicht haftungsbegründenden Diagnoseirrtum dar. Ein haftungsbegründender Diagnosefehler liegt stattdessen erst vor, wenn die Diagnose für einen gewissenhaften Arzt bei ex-ante-Sicht medizinisch nicht vertretbar ist (vgl. Pauge, Arzthaftungsrecht, 13. Auflage, Rdn. 190 - 192 m.w.N.).
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Auf dieser Basis ist es den Beklagten zu 1) nicht vorzuwerfen, dass er das Vorliegen einer Vagina duplex und eines Uterus duplex nicht erkannt hat und von einer regelhaften nur einfachen Anlage ausgegangen ist. Auch insoweit folgt der Senat den überzeugenden Ausführungen des Sachverst ändigen Prof. Dr. T.
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Danach ist die bei der Klägerin zu 1) vorliegende Anomalie nicht nur extrem selten, sondern wegen der in der Regel eng an der Seitenwand anliegenden trennenden Membran bei einer Spiegelung häufig gar nicht erkennbar. Die Bewertung als regelhafte Genitale ist dann aber mangels Vorliegens anderweitiger Anhaltspunkte nicht zu beanstanden.
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Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die Klägerin zu 1) seit dem 14. Lebensjahr in frauenärztlicher Betreuung gefunden hat und die Untersuchungsbefunde der Vorbehandler einschließlich der Bildgebung keine Anhaltspunkte für eine Fehlbildung gegeben haben. Dementsprechend haben auch die Vorbehandler insoweit keinen Verdacht geschöpft. Auch die Nachbehandler haben nur partiell richtig einen Uterus bicornis diagnostiziert, während die zutreffende Diagnose einer doppelten Anlage von Vagina und Uterus erst von dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. G gestellt wurde.
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Dass Prof. Dr. G erstmals die auch aus Sicht des Sachverständigen Prof. Dr. T zutreffende Diagnose stellen konnte, lässt nicht den Schluss darauf zu, dass zuvor bei den jeweiligen Behandlungen Diagnosefehler unterlaufen sind. Prof. Dr. G hat in seinem schriftlichen Gutachten und bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Senat darauf hingewiesen, dass er selbst schon bei Beginn seiner Untersuchung davon ausgehen musste, dass eine Fehlbildung vorhanden gewesen ist. Gleichwohl hat er intensiv danach suchen müssen und die Anomalie erst nach mehrfachem Wechsel der Spekulumsgröße erkennen können. Dies war jedoch nicht die Situation, in der sich der Beklagte zu 1) befunden hat. Im Gegensatz zu Prof. Dr. G bestand zum Zeitpunkt seiner Untersuchung gerade keine Anhaltspunkte für eine Anomalie.
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Bei dieser Sachlage liegt nur ein vertretbarer, nicht haftungsbegründender Diagnoseirrtum vor.
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Einer weiteren Beweisaufnahme bedurfte es nicht. Der Sachverhalt ist zur Überzeugung des Senats umfassend aufgeklärt. Insbesondere bestehen in der medizinischen Bewertung durch den Sachverständigen Prof. Dr. T und den Sachverständigen Prof. Dr. G keine relevanten Abweichungen mehr. Der Letztgenannte hat bereits bei seiner mündlichen Anhörung vor dem Senat seine in der 1. Instanz vorgenommene Bewertung revidiert und einen vorwerfbaren Behandlungsfehler verneint. Dies entspricht der Bewertung durch den Sachverständigen Prof. Dr. T, der überdies darauf hingewiesen hat, dass bereits der Vorgutachter Prof. Dr. G in seinem Gutachten alle Anhaltspunkte für die Bewertung als Diagnoseirrtum gegeben hat. In der Auswertung des medizinischen Sachverhalts und seiner Bewertung bestehen deshalb zwischen beiden Sachverständigen keine Differenzen, die einer weiteren Abklärung bedürften.
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Eine Haftung der Beklagten ist damit insgesamt nicht gegeben. Die Entscheidung des Landgerichts ist abzuändern. Die Berufung hat somit Erfolg.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr.10, 711, 543 ZPO.
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Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch keine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert.