26.07.2022 · IWW-Abrufnummer 230430
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 21.06.2022 – VI ZR 310/21
Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, darf der Tatrichter grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 21. Juni 2022 durch den Vorsitzenden Richter Seiters, die Richterinnen Dr. Oehler und Müller sowie die Richter Dr. Klein und Böhm
beschlossen:
Tenor:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 12. Zivilsenates des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 2. September 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: bis 65.000 €
Gründe
I.
1
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Ersatz materiellen und immateriellen Schadens nach einer augenärztlichen Behandlung.
2
Der Kläger stellte sich am 13. Dezember 2016 zur Durchführung eines refraktiven Eingriffs bei Kurzsichtigkeit bei dem beklagten Augenarzt vor. Nach entsprechender Aufklärung führte der Beklagte am 10. Februar 2017 in Vollnarkose zunächst eine LASIK-Laserbehandlung am rechten Auge durch. Während des Eingriffs kam es zu einem Kneifen des Auges, so dass sich der Laserschnitt dezentrierte. Der Beklagte brach die LASIK-Behandlung ohne Flap-Öffnung ab und führte sodann eine photoreaktive EXCIMER-Laserbehandlung (nachfolgend: PRK) durch. Auch am linken Auge wurde eine PRK durchgeführt. Am 25. August 2017 führte der Beklagte, erneut in Vollnarkose, am rechten Auge des Klägers eine Revisions-PRK durch. Der Kläger macht fortbestehende Sehbeschwerden und Augentrockenheit geltend und führt dies auf die Behandlung durch den Beklagten zurück.
3
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
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Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
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1. Die Annahme des Berufungsgerichts, dem Kläger stehe ein Anspruch aus Verletzung der Aufklärungspflicht nicht zu, verstößt gegen den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Die Nichtzulassungsbeschwerde wendet sich mit Recht gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte könne sich insoweit mit Erfolg auf eine hypothetische Einwilligung des Klägers berufen, weil dieser einen Entscheidungskonflikt schriftsätzlich nicht plausibel dargelegt habe.
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a) Das Berufungsgericht hat im Ergebnis unterstellt, dass der Kläger über die Risiken der PRK-Operationstechnik nicht aufgeklärt wurde und dass es sich insoweit um eine aufklärungspflichtige Behandlungsalternative zum LASIK-Verfahren handelt. Eine Anhörung des Klägers hierzu sei gleichwohl nicht erforderlich gewesen, weil der von dem Beklagten erhobene Einwand der hypothetischen Einwilligung durchgreife. Berufe sich der Arzt auf den Einwand der hypothetischen Einwilligung, habe der Patient glaubhaft zu machen, dass er sich bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte, wobei die Darlegung des Konflikts plausibel, also nachvollziehbar sein müsse. Im Streitfall habe der Kläger bereits in seinen Schriftsätzen einen Entscheidungskonflikt nicht plausibel glaubhaft gemacht, sodass es seiner Anhörung nicht bedurft habe. Es sei nicht ersichtlich, aus welchen Gründen der Kläger einer PRK nicht zugestimmt hätte, obwohl er die Einwilligung zu einer LASIK-Operation mit den ihm bekannten Nebenwirkungen und Risiken gegeben habe. Es genüge nicht, wenn der Kläger lediglich vortrage, er hätte einer PRK nicht zugestimmt. Wie er sich stattdessen entschieden hätte bzw. vor welchem Entscheidungskonflikt er tatsächlich gestanden hätte, ob er die Operation abgesagt oder nur verschoben oder auf einer LASIK-Operation bestanden hätte, habe der Kläger nicht mitgeteilt. Der bestrittene Vortrag des Klägers, er habe sich deshalb gegen eine PRK entschieden, weil diese nicht unter Vollnarkose möglich sei, sei erst nach Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz erfolgt. Ein Entscheidungskonflikt ergebe sich daraus nicht.
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b) Mit diesen Ausführungen hat das Berufungsgericht den Kläger in entscheidungserheblicher Weise in seinem aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Das Berufungsgericht hätte nicht ohne Anhörung des Klägers über das Bestehen eines echten Entscheidungskonflikts befinden dürfen.
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aa) Genügt die Aufklärung nicht den an sie zu stellenden Anforderungen, kann sich der Behandelnde darauf berufen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte ( § 630h Abs. 2 Satz 2 BGB ). An einen dahingehenden Nachweis, der dem Behandelnden obliegt, sind strenge Anforderungen zu stellen, damit nicht auf diesem Weg der Aufklärungsanspruch des Patienten unterlaufen wird. Den Arzt trifft für seine Behauptung, der Patient hätte bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt, die Beweislast aber erst dann, wenn der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel macht, dass er - wären ihm rechtzeitig die Risiken des Eingriffs verdeutlicht worden - vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte (st. Rspr., vgl. Senat, Urteil vom 21. Mai 2019 - VI ZR 119/18 , NJW 2019, 3072 Rn. 17 mwN).
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An die Pflicht des Patienten zur Substantiierung eines solchen Konflikts sind allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. Senat, Beschluss vom 8. März 2016 - VI ZR 243/14 , juris Rn. 11 mwN). Abzustellen ist auf die persönliche Entscheidungssituation des jeweiligen Patienten. Was aus ärztlicher Sicht sinnvoll und erforderlich gewesen wäre und wie ein "vernünftiger Patient" sich verhalten haben würde, ist hingegen grundsätzlich nicht entscheidend. Der Tatrichter darf seine eigene Beurteilung des Konflikts nicht an die Stelle derjenigen des Patienten setzen (vgl. Senat, Urteil vom 27. März 2007 - VI ZR 55/05 , BGHZ 172, 1 Rn. 37 mwN). Gedankliche Voraussetzung des Entscheidungskonflikts wie der hypothetischen Einwilligung insgesamt (vgl. hierzu Senat, Urteile vom 21. Mai 2019 - VI ZR 119/18 , NJW 2019, 3072 Rn. 18; vom 5. Februar 1991 - VI ZR 108/90 ,VersR 1991, 547, 548, juris Rn. 9) ist dabei stets die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung.
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bb) Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats darf der Tatrichter Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen. Durch die persönliche Anhörung soll vermieden werden, dass das Tatgericht für die Verneinung eines Entscheidungskonflikts vorschnell auf das abstellt, was bei objektiver Betrachtung als naheliegend oder vernünftig erscheint, ohne die persönlichen, möglicherweise weniger naheliegenden oder als unvernünftig erscheinenden Erwägungen des Patienten ausreichend in Betracht zu ziehen. Die persönliche Anhörung soll es dem Gericht ermöglichen, den anwaltlich vorgetragenen Gründen für und gegen einen Entscheidungskonflikt durch konkrete Nachfragen nachzugehen und sie auch aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Patienten sachgerecht beurteilen zu können (vgl. Senat, Urteile vom 30. September 2014 - VI ZR 443/13 , NJW 2015, 74 Rn. 19, 22; vom 26. Juni 1990 - VI ZR 289/89 ,VersR 1990, 1238, 1240, juris Rn. 11). Ein Ausnahmefall kann vorliegen, wenn schon die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben (vgl. Senat, Urteile vom 30. September 2014 - VI ZR 443/13 , NJW 2015, 74 Rn. 19; vom 17. April 2007 - VI ZR 108/06 ,VersR 2007, 999, 1000, juris Rn. 17; vom 1. Februar 2005 - VI ZR 174/03 ,VersR 2005, 694, juris Rn. 7; vom 26. Juni 1990 - VI ZR 289/89 ,VersR 1990, 1238, 1240, juris Rn. 11; Beschluss vom 29. September 2015 - VI ZR 418/14 , juris Rn. 5).
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cc) Nach diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht hier nicht von einer Anhörung des Klägers absehen dürfen. Zwar mag der im instanzgerichtlichen Verfahren schriftsätzlich gehaltene Vortrag des Klägers, er hätte sich deshalb gegen eine PRK entschieden, weil diese nach seinem Kenntnisstand nicht unter Vollnarkose möglich gewesen sei, für sich genommen tatsächlich wenig plausibel erscheinen, weil, wie der Fall selbst zeigt, auch eine PRK unter Vollnarkose durchgeführt werden kann. Eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation des Klägers ohne dessen Anhörung war aber schon deshalb nicht ausnahmsweise möglich, weil die äußeren Umstände der Aufklärung und der tatsächlichen Entscheidungssituation des Klägers nicht unstreitig geblieben sind, weil das Berufungsgericht den Inhalt der im Streitfall gebotenen, insbesondere vollständigen Aufklärung nicht definiert hat und weil nicht erkennbar ist, ob der Kläger bei seinen schriftsätzlichen Ausführungen zum Entscheidungskonflikt von der Hypothese einer dem entsprechenden, vollständigen Aufklärung ausgegangen ist.
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Den in zweiter Instanz zum Entscheidungskonflikt gehaltenen Vortrag des Klägers durfte das Berufungsgericht im Übrigen nicht mit der Erwägung für irrelevant halten, der Kläger habe insoweit auf erstinstanzlichen Vortrag Bezug genommen, der in einem dort nicht nachgelassenen Schriftsatz enthalten gewesen sei. Denn das Landgericht hatte von einer Anhörung des Klägers letztlich nur abgesehen, weil es insgesamt von einer ordnungsgemäßen Selbstbestimmungsaufklärung ausgegangen war; die Frage eines plausiblen Entscheidungskonflikts wurde mithin überhaupt erst im Berufungsverfahren relevant.
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dd) Der Gehörsverstoß ist erheblich. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht nach Anhörung des Klägers zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.
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Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lässt sich die Schadensursächlichkeit des für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zu unterstellenden Aufklärungsfehlers hinsichtlich des linken Auges auch nicht mit der Erwägung verneinen, dass die geltend gemachten Schäden sämtlich das rechte Auge beträfen. Zum einen zeigt die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend auf, dass der Kläger schon mit der Klageschrift vorgetragen hatte, Schäden an beiden Augen erlitten zu haben. Zum anderen ist dem Berufungsgericht insoweit aus dem Blick geraten, dass die Primärschädigung bei einer - wie hier vom Berufungsgericht unterstellt - fehlerhaften Selbstbestimmungsaufklärung bereits in dem mangels wirksamer Einwilligung per se rechtswidrigen Eingriff als solchem liegt (vgl. Senat, Beschluss vom 20. September 2016 - VI ZR 432/15 , juris Rn. 5 mwN).
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ee) Anders als das Berufungsgericht offenbar meint, ist es dem Kläger auch nicht deshalb verwehrt, sich auf die Notwendigkeit seiner Anhörung zu berufen, weil sein persönliches Erscheinen erstinstanzlich angeordnet war, er zu diesem Termin aber nicht erschienen sei und auch eine Terminverlegung nicht beantragt habe. Denn der Kläger hat diesen Termin entschuldigt versäumt und danach kam es vom Rechtsstandpunkt des Landgerichts, das im Ergebnis eine ordnungsgemäße Aufklärung angenommen hat, auf die Frage des Entscheidungskonflikts nicht mehr an.
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2. Die weiteren Angriffe der Nichtzulassungsbeschwerde sind nicht begründet. Von einer Begründung der Entscheidung wird insoweit abgesehen ( § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO ).
Seiters
Oehler
Müller
Klein
Böhm