19.07.2011 · IWW-Abrufnummer 112452
BGH: Urteil vom 07.06.2011 – VI ZR 87/10
Bei einem einfachen Befunderhebungsfehler kommt eine Beweislastumkehr für die Frage des Ursachenzusammenhangs mit dem tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden auch dann in Betracht, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde, und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen.
Hingegen ist nicht Voraussetzung für die Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten, dass die Verkennung des Befundes und das Unterlassen der gebotenen Therapie völlig unverständlich sind (Senatsurteil vom 29. September 2009 - VI ZR 251/08, VersR 2010, 115 zum groben Befunderhebungsfehler).
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juni 2011
durch
den Vorsitzenden Richter Galke,
die Richter Zoll und Wellner,
die Richterin Diederichsen und
den Richter Stöhr
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 26. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 5. März 2010 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt materiellen Schadensersatz und Schmerzensgeld für von ihr behauptete Folgen einer ärztlichen Behandlung in einem Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, dessen Träger der Beklagte ist.
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Die am 3. November 1965 geborene Klägerin wurde am 31. Oktober 1998 in tief somnolentem Zustand durch den Notarzt in das Klinikum L.-D. eingewiesen. Nach Durchführung einer Computertomografie und einer Liquordiagnostik wurde sie mit der Diagnose eines psychogenen bzw. depressiven Stupors am 2. November 1998 in die Einrichtung des Beklagten verlegt. Aufgrund der Unterbringungsverfügung des Ordnungsamtes wegen Eigengefährdung, bestätigt durch gerichtlichen Beschluss, befand sich die Klägerin bis 11. Dezember 1998 - zuletzt freiwillig - dort in stationärer Behandlung. In der Folgezeit durchlief sie stationäre Behandlungen in verschiedenen anderen Einrichtungen. Bei einer Untersuchung im März 1999 wurde festgestellt, dass die Klägerin am 31. Oktober 1998 einen embolischen Thalamusinfarkt erlitten hatte. Sie leidet unter bleibenden Sprachbeeinträchtigungen und Schluckstörungen, die sie auf die unzureichende ärztliche Behandlung in der Einrichtung des Beklagten zurückführt. Die Einlieferungsdiagnose sei trotz dagegen sprechender Symptome von den verantwortlichen Ärzten nicht überprüft worden. Eine mögliche frühzeitigere Behandlung des Thalamusinfarkts sei deshalb unterblieben. Dadurch habe sie irreparable Schäden erlitten. Auch sei sie ohne Grund in der psychiatrischen Einrichtung untergebracht gewesen.
3
Das Landgericht hat sachverständig beraten einen groben Befunderhebungsfehler bejaht und der Klage teilweise stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Anschlussberufung der Klägerin, mit der diese Haushaltsführungsund Erwerbsschäden geltend gemacht hat, hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin das im Berufungsverfahren erweiterte Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
I.
4
Das Berufungsgericht hat ausgeführt:
5
Im Hinblick auf das im Streitfall anzuwendende alte Recht komme die Zahlung von Schmerzensgeld nur auf der Grundlage eines deliktischen Anspruchs in Betracht. Ein solcher sei aber zu verneinen, weil nicht erwiesen sei, dass die Sprach- und Schluckbeeinträchtigungen der Klägerin durch eine früher einsetzende Therapie bei rechtzeitiger Feststellung des Hirninfarkts verhindert worden wären. Ein schuldhafter Diagnosefehler könne den in der Einrichtung des Beklagten tätigen Ärzten nicht vorgeworfen werden. Der Beklagte hafte auch nicht wegen eines Befunderhebungsfehlers. Soweit die behandelnden Ärzte es unterlassen hätten, die Einlieferungsdiagnose eines psychogenen Stupors kritisch zu hinterfragen und eine neurologische Ursache in Betracht zu ziehen, könne nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden, dass eine frühere Therapie zu einem besseren Ergebnis geführt hätte. Der Befunderhebungsfehler als solcher sei nicht als grober Fehler zu bewerten. Eine Beweiserleichterung greife für die Klägerin deshalb nicht ein. Die Voraussetzungen für Beweiserleichterungen für die weitere Ursächlichkeit der unterlassenen Befunderhebung seien nicht gegeben. Soweit der Sachverständige Prof. K. die Auffassung vertreten habe, dass bei Durchführung einer MRT-Untersuchung der Schlaganfall im Zeitraum kurz nach dem 6. November 1998 mit hinreichender Sicherheit festgestellt worden wäre, h ätten beide Sachverständige die Auffassung vertreten, dass das Fehlen der sich daran anschließenden Sprachtherapie jedenfalls nicht völlig unverständlich sei, weil man nämlich gar nicht mit hinreichender Sicherheit sagen könne, dass eine frühzeitige Therapie der Klägerin wirklich geholfen hätte. Soweit es um die fehlende Schlucktherapie gehe, habe der Sachverständige Prof. K. einen schweren Fehler lediglich vor dem Hintergrund angenommen, dass damit die Gefahr des Verschluckens - insbesondere bei älteren hilfsbedürftigen oder bettlägerigen Patienten - mit der Gefahr einer Lungenentzündung gebannt werden solle. Diese Gefahr habe sich hier nicht realisiert. Beeinträchtigungen der Klägerin durch die Unterbringungsmaßnahme als solche seien nicht feststellbar. Die Mobilisationstherapien im Rahmen der psychiatrischen Behandlung seien mit denen im Rahmen einer neurologischen vergleichbar.
II.
6
Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Revision bemängelt mit Recht, dass das Berufungsgericht die rechtlichen Grundsätze für eine mögliche Beweislastumkehr für den Kausalitätszusammenhang zu Gunsten der Klägerin verkannt hat.
7
1.
Bei einem einfachen Befunderhebungsfehler - wie er vom Berufungsgericht bejaht worden ist - kommt eine Beweislastumkehr auch dann in Betracht, wenn sich bei der gebotenen Abklärung der Symptome mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft darstellen würde und diese Fehler generell geeignet sind, den tatsächlich eingetretenen Gesundheitsschaden herbeizuführen (vgl. Senatsurteile vom 13. Februar 1996 - VI ZR 402/94, BGHZ 132, 47, 51 f.; vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48, 56; vom 6. Oktober 1998 - VI ZR 239/97, VersR 1999, 60, 61; vom 3. November 1998 - VI ZR 253/97, VersR 1999, 231, 232 und vom 23. März 2004 - VI ZR 428/02, VersR 2004, 790, 792).
Es ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache des Schadens ist. Eine Umkehr der Beweislast ist nur dann ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist (vgl. Senatsurteile vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, aaO; vom 27. Juni 2000 - VI ZR 201/99, VersR 2000, 1282, 1283 und vom 5. April 2005 - VI ZR 216/03, VersR 2005, 942 Rn. 14 mwN). In einem derartigen Fall führt bereits das - nicht grob fehlerhafte - Unterlassen der gebotenen Befunderhebung wie ein grober Behandlungsfehler zu erheblichen Aufklärungsschwierigkeiten hinsichtlich des Kausalverlaufs. Es verhindert die Entdeckung des wahrscheinlich gravierenden Befundes und eine entsprechende Reaktion darauf mit der Folge, dass hierdurch das Spektrum der für die Schädigung des Patienten in Betracht kommenden Ursachen besonders verbreitert oder verschoben wird (vgl. Senatsurteile vom 21. September 1982 - VI ZR 302/80, BGHZ 85, 212, 216; vom 3. Februar 1987 - VI ZR 56/86, BGHZ 99, 391, 395 und vom 13. Februar 1996 - VI ZR 402/94, BGHZ 132, 47; Groß in Festschrift für Geiß, 2000, S. 429, 435).
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Hingegen ist nicht Voraussetzung für die Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten, dass die Verkennung des Befundes und das Unterlassen der gebotenen Therapie völlig unverständlich sind (vgl. zur Beweislastumkehr beim groben Befunderhebungsfehler, Senatsurteil vom 29. September 2009 - VI ZR 251/08, VersR 2010, 115 Rn. 8). Auch muss der Patient nicht den Nachweis dafür erbringen, dass eine frühzeitigere Therapie das Schadensbild positiv verändert hätte. Für die Begründung einer Haftung aus schweren Behandlungsfehlern reicht es grundsätzlich aus, dass der grobe Verstoß des Arztes generell geeignet ist, den konkreten Gesundheitsschaden hervorzurufen (vgl. Senatsurteil vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, aaO, S. 54 f.). Der Wegfall der Beweislastumkehr zu Gunsten des Patienten käme unter Umständen nur dann in Betracht, wenn ein ursächlicher Zusammenhang völlig unwahrscheinlich ist, was freilich zur Beweislast des Arztes steht (vgl. Senatsurteil vom 28. Juni 1988 - VI ZR 217/87, VersR 1989, 80, 81).
9
2. Feststellungen dazu, ob bei Durchführung einer MRT-Untersuchung im Zeitraum kurz nach dem 6. November 1998 der Schlaganfall bei der Klägerin mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erkannt werden musste und sich die Verkennung eines solchen Befundes oder die Nichtreaktion auf ihn als grob fehlerhaft dargestellt hätte, hat das Berufungsgericht bislang aufgrund der fehlerhaften Beurteilung der Voraussetzungen der Beweislastumkehr bei einem einfachen Befunderhebungsfehler nicht in zureichender Weise getroffen. Die medizinischen Sachverständigen sind nicht dazu gehört worden, wie das Nichterkennen des Schlaganfalls bei Durchführung der gebotenen Untersuchungen bei der Klägerin bzw. im Falle des Erkennens des Schlaganfalls das Unterlassen der gebotenen Therapie medizinisch zu bewerten sei. Darauf weist die Revision mit Recht hin. Auch wenn die Beurteilung eines Behandlungsgeschehens als grob fehlerhaft eine juristische ist, die dem Tatrichter obliegt, muss diese doch in vollem Umfang durch die vom ärztlichen Sachverständigen mitgeteilten Fakten getragen werden und sich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch den Sachverständigen stützen können; es ist dem Tatrichter nicht gestattet, ohne entsprechende Darlegungen oder gar entgegen den medizinischen Ausführungen des Sachverständigen das Behandlungsgeschehen nur aufgrund eigener Wertung zu beurteilen (vgl. etwa Senatsurteile vom 28. Mai 2002 - VI ZR 42/01, VersR 2002, 1026, 1027; vom 3. Juli 2001 - VI ZR 418/99, VersR 2001, 1116, 1117 und vom 19. Juni 2001 - VI ZR 286/00, VersR 2001, 1115, 1116 jeweils mwN).
10
3.
Das angefochtene Urteil kann danach nicht aufrechterhalten werden. Es ist aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit über die Frage der Beweislastumkehr auf der Grundlage der nachzuholenden erforderlichen Feststellungen erneut entschieden werden kann. Käme nach der gebotenen Aufklärung des Sachverhalts der Klägerin aufgrund eines grob fehlerhaften Behandlungsgeschehens die Beweislastumkehr zugute, hätte der Beklagte darzulegen und zu beweisen, dass die von der Klägerin geklagten Beschwerden nicht auf der unterbliebenen Behandlung in seiner Einrichtung beruhten. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dass die Umkehr der Beweislast wegen eines groben Behandlungsfehlers grundsätzlich nur den Beweis von dessen Ursächlichkeit für den haftungsbegründenden Primärschaden umfasst, nicht hingegen die haftungsausfüllende Kausalität (vgl. Senatsurteile vom 21. Oktober 1969 - VI ZR 82/68, VersR 1969, 1148, 1149; vom 9. Mai 1978 - VI ZR 81/77, VersR 1978, 764, 765; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228 Rn. 17 und vom 12. Februar 2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rn. 13), begegnet hingegen keinen rechtlichen Bedenken.
Galke
Zoll
Wellner
Diederichsen
Stöhr
Von Rechts wegen
Verkündet am: 7. Juni 2011