· Fachbeitrag · Verjährung
Hemmung oder Unterbrechung der Verjährung bei „verlorener“ oder unbekannter Schuldneranschrift
| Die Kenntnis der Schuldneranschrift ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Forderungseinziehung. Wenn der Schuldner aber unbekannt verzogen ist, können Rechnung, Mahnung, Mahnbescheid oder Klage auf üblichem Weg nicht zugestellt werden. Dann bleibt ‒ wenn überhaupt ‒ nur noch die öffentliche Zustellung nach §§ 185 ff. ZPO. Dabei ist es Sache des Gläubigers, alle geeigneten und zumutbaren Nachforschungen anzustellen, um den Aufenthalt des Zustellungsempfängers zu ermitteln und die ergebnislosen Bemühungen gegenüber dem Gericht darzulegen. Wegen der besonderen Bedeutung der Zustellung für das rechtliche Gehör (Art. 103 GG) gelten im Erkenntnisverfahren hohe Anforderungen. Wurden zuvor nicht alle zumutbaren Nachforschungsmöglichkeiten ausgeschöpft, ist die öffentliche Zustellung unwirksam. Folge: Vor allem die Verjährung wird nicht gehemmt. Aber läuft die Verjährungsfrist überhaupt, wenn der Gläubiger die Anschrift des Schuldners nicht kennt oder zunächst zwar kannte, wegen einer Adressänderung aber verloren hat? Unter Hinweis auf bekannte Rechtsprechung des BGH hat jetzt das OLG Brandenburg diese Frage erneut aufgeworfen und Erkenntnisse geliefert, die dem Gläubiger zugute kommen. |
Sachverhalt
Die Klägerin nahm den Beklagten aus einer selbstschuldnerischen Höchstbetragsbürgschaft vom 4.4.12 auf Zahlung von 308.394,50 EUR nebst Zinsen in Anspruch. Nachdem die Hauptschuldnerin in 2015 in Insolvenz geraten war, kündigte die Klägerin das Darlehen und forderte den Beklagten mit Schreiben vom 24.9.15 zur Zahlung aus der Bürgschaft auf. Der Beklagte verzog im März 2018 in die Schweiz, was die Klägerin nicht wusste. Die von ihr im Oktober 2018 und November 2019 beantragten Mahnbescheide konnten deshalb nicht zugestellt werden. Adressermittlungen, u. a. bei der Mutter des Beklagten und durch einen Dienstleister, blieben ohne Erfolg. Im Mai 2020 hat die Klägerin von der Schweizer Adresse des Beklagten erfahren und am 30.6.20 beim LG die Zustellung der Klage in der Schweiz beantragt. Aufgrund von Verzögerungen bei Gericht wurde die Klageschrift über die schweizerischen Behörden dann veranlasst und (erst) am 2.12.21 durch Übergabe an den Beklagten vollzogen. Im Verfahren hat der Beklagte die Einrede der Verjährung erhoben.
Entscheidungsgründe
Zu klären war, ob die Bürgschaftsforderung im Zeitpunkt der Klagezustellung am 2.12.21 bereits verjährt war.
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Mangels einer speziellen Regelung unterliegen Forderungen auf Zahlung aus einer Bürgschaft der regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB. Nach § 199 Abs. 1 BGB beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist mit Schluss des Kalenderjahrs,
- in dem der Anspruch entstanden ist,
- der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste und
- der Gläubiger Kenntnis von der Person des Schuldners hat oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.
Der Anspruch aus einer selbstschuldnerischen Bürgschaft entsteht mit Fälligkeit der gesicherten Forderung, d. h. mit Zugang der Kündigung beim Hauptschuldner (BGH 23.9.08, XI ZR 395/07). Somit ist die Bürgschaftsforderung hier am 24 9. 2015 entstanden.
Da der Gläubiger auch Kenntnis von den anspruchsbegründenden Umständen hatte, kommt es letztlich darauf an, ob die Person des Schuldners bekannt war oder wegen grober Fahrlässigkeit unbekannt geblieben ist. Kenntnis von der Person des Schuldners liegt im Allgemeinen vor, wenn dem Gläubiger die Erhebung einer Klage möglich ist. Hierzu bedarf es nicht nur der Kenntnis des Namens, sondern auch der Anschrift des Schuldners (BGH 3.6.08, XI ZR 319/06). Das Tatbestandsmerkmal der „Person des Schuldners“ erfasst deshalb nicht nur dessen Namen, sondern auch dessen aktuelle Anschrift (Grüneberg/Ellenberger, BGB, § 199 Rn. 35).
Verliert der Gläubiger seine Kenntnis von der aktuellen Anschrift des Schuldners, weil dieser zwischenzeitlich umzieht, ohne seine neue Anschrift mitzuteilen, entfällt das Tatbestandsmerkmal der Kenntnis. Maßgeblich ist insoweit die Kenntnis des Gläubigers von der richtigen, aktuellen Adresse des Schuldners (BGH 28.2.12, XI ZR 192/11). Nach Ansicht des OLG begann die Verjährungsfrist daher erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Klägerin die neue Wohnadresse des Beklagten bekannt geworden war. Das war im Mai 2020, sodass die Verjährungsfrist erst mit Schluss des Jahres 2020 beginnen konnte. Demnach wäre die Verjährungsfrist erst zum Schluss des Jahres 2023 abgelaufen.
Beachten Sie | Das Gericht vertritt hier eine extensive Auslegung von § 199 BGB. Verliert der Gläubiger die ursprünglich bekannte Anschrift des Schuldners, weil dieser ohne Mitteilung umzieht, beginnt die Verjährungsfrist erst zu laufen, wenn der Gläubiger die neue Anschrift des Schuldners kennt. Der Zeitraum, während der Gläubiger die bisherige Anschrift des Schuldners noch kannte, soll nicht in den Fristlauf eingerechnet werden. Ausdrücklich wendet sich das OLG auch gegen eine entsprechende Anwendung von § 206 BGB (so Staudinger/Peters/Jacoby, BGB, § 199 Rn. 53), der eine Hemmung bei höherer Gewalt begründet. Für eine Behinderung i. S. d. § 206 BGB würden deutlich höhere Maßstäbe an die Sorgfalt des Gläubigers angelegt als bei § 199 BGB.
Gleichwohl wirft das OLG die Frage auf, ob die zuvor verstrichene Zeit, in der der Gläubiger Kenntnis von der ursprünglichen Anschrift des Schuldners hat, anzurechnen ist. Die Frage kann nach Auffassung des Gerichts hier aber offen bleiben, da auch in diesem Fall keine Verjährung eingetreten sei.
Das Gericht geht dabei davon aus, dass die Klägerin für den im Jahr 2015 fällig gewordenen Bürgschaftsanspruch bis zum 31.3.18 und somit für zwei Jahre und drei Monate bereits die Kenntnis von der zunächst zutreffenden Anschrift des Beklagten hatte. Die Verjährungsfrist wäre dann am 11.5.20 durch die Kenntnis der neuen Anschrift wieder angelaufen. Nachdem die Klägerin am 30.6.20 die Zustellung der Klage in der Schweiz beantragt hatte, sei trotz des langen Zeitraums bis zur Zustellung der Klage am 2.12.21 die Zustellung noch „demnächst“ im Sinne des § 167 ZPO erfolgt.
Auch eine grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin von der Person des Schuldners im Sinne von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB liegt nach Auffassung des OLG nicht vor. Dem Bürgschaftsgläubiger obliege zwar nach Fälligkeit der Bürgschaftsforderung die besondere Obliegenheit, die angegebene Anschrift des Bürgen zeitnah auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Grob fahrlässige Unkenntnis liege jedoch nur vor, wenn dem Gläubiger die Kenntnis fehlt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich grobem Maße verletzt und auch ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen (BGH 13.12.04, II ZR 17/03).
Solche Umstände lägen hier nicht vor. Dies gelte vor allem, da die Klägerin umgehend Adressermittlungen eingeleitet habe, u. a. bei der Mutter des Beklagten und durch einen Dienstleister. Weitere erfolgversprechende Ansätze seien nicht ersichtlich gewesen.
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung hat erhebliche praktische Auswirkungen auf den zeitlichen Ablauf der Forderungseinziehung. So läuft die Verjährungsfrist nur, wenn der Gläubiger die aktuelle Anschrift des Schuldners kennt oder keine genügenden Nachforschungen anstellt, um diese in Erfahrung zu bringen. Verliert der Gläubiger im Rahmen des Einziehungsverfahrens die Anschrift des Schuldners, weil dieser ohne weitere Mitteilung umzieht, beginnt die Verjährungsfrist nach Ansicht des OLG Brandenburg erst, wenn der Gläubiger die neue Anschrift des Schuldners kennt. Das wird ihn entlasten, muss er doch keine aufwändige öffentliche Zustellung beantragen, weil er sich keine Sorgen um den Ablauf der Verjährungsfrist machen muss.