31.08.2012 · IWW-Abrufnummer 122701
Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 19.07.2012 – C-591/10
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
C-591/10
In der Rechtssache C-591/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 25. November 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Dezember 2010, in dem Verfahren
Littlewoods Retail Ltd u. a.
gegen
Her Majesty's Commissioners for Revenue and Customs
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts, J.-C. Bonichot und der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter K. Schiemann, E. Juhász, G. Arestis, A. Borg Barthet (Berichterstatter) und D. váby sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. November 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Littlewoods Retail Ltd u. a., vertreten durch D. Anderson und L. Rabinowitz, QC, sowie durch S. Elliott, Barrister,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte im Beistand von D. Wyatt, QC,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, K. Petersen und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und N. Rouam als Bevollmächtigte,
- der zyprischen Regierung, vertreten durch K. Lykourgos und E. Symeonidou als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels als Bevollmächtigte,
- der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und C. Soulay als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 12. Januar 2012
folgendes
Urteil:
Tenor:
Das Recht der Union ist dahin auszulegen, dass nach ihm der Steuerpflichtige, der einen zu hohen Mehrwertsteuerbetrag entrichtet hat, der vom betreffenden Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Mehrwertsteuervorschriften der Union erhoben worden war, Anspruch auf Erstattung der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuer sowie Anspruch auf deren Verzinsung haben muss. Ob der Hauptbetrag nach einer Regelung über die einfache Verzinsung, einer Zinseszinsregelung oder nach einer anderen Regelung zu verzinsen ist, ist nach nationalem Recht unter Beachtung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu bestimmen.
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Unionsrechts bei Ersatz eines finanziellen Schadens, den ein Steuerpflichtiger durch die Überzahlung von Mehrwertsteuer erlitten hat.
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Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Gesellschaften der Littlewoods-Gruppe (im Folgenden: Littlewoods) auf der einen Seite und Her Majesty's Commissioners for Revenue and Customs (im Folgenden: Commissioners) auf der anderen Seite wegen der Modalitäten für den Ersatz des finanziellen Schadens, den Littlewoods durch die Überzahlung von Mehrwertsteuer erlitten hat.
2
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Art. 8 und Anhang A Nr. 13 der Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1303) bestimmen die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer u. a. bei Lieferungen und Dienstleistungen.
3
Art. 11 Teil C Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) bestimmt:
"Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Besteuerungsgrundlage unter von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.
4
Jedoch können die Mitgliedstaaten im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von dieser Regel abweichen."
Recht des Vereinigten Königreichs
Der Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz von 1994, im Folgenden: VATA 1994) enthält die Vorschriften über die Verwaltung, Erhebung und Durchführung der Mehrwertsteuer sowie über die Rechtsbehelfe, die bei einem Fachgericht eingelegt werden können. Dieses Gesetz erlaubt den Commissioners die von den Steuerpflichtigen geschuldete, aber nicht entrichtete Mehrwertsteuer einzufordern, und den Steuerpflichtigen, entrichtete, aber nicht geschuldete Mehrwertsteuer zurückzufordern. Es enthält auch Bestimmungen über die Verzinsung von Beträgen, die den Commissioners von den Steuerpflichtigen oder den Steuerpflichtigen von den Commissioners geschuldet werden.
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Section 80 des VATA 1994 bestimmt:
"Gutschrift oder Rückzahlung zu viel erklärter oder zu viel entrichteter Mehrwertsteuer
(1) Hat eine Person
(a) mit den Commissioners Mehrwertsteuer für einen bestimmten Abrechnungszeitraum (gleichviel, wann dieser endet) abgerechnet und
(b) dabei einen Betrag als Mehrwertsteuer in Ansatz gebracht, der nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurde,
sind die Commissioners verpflichtet, der Person diesen Betrag gutzuschreiben.
…
(1B) Hat eine Person für einen bestimmten Abrechnungszeitraum (gleichviel, wann dieser endet) an die Commissioners einen Betrag als Mehrwertsteuer entrichtet, der den Commissioners nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurde, und beruht dies nicht darauf, dass
(a) ein nicht als Mehrwertsteuer geschuldeter Betrag als Mehrwertsteuer in Ansatz gebracht wurde …
…
sind die Commissioners verpflichtet, der Person diesen entrichteten Betrag zurückzuzahlen.
(2) Die Commissioners sind nur dann zur Gutschrift oder Rückzahlung eines Betrags nach Maßgabe dieser Section verpflichtet, wenn ein entsprechender Antrag gestellt wird.
(2A) Soweit
(a) einer Person aufgrund eines gemäß dieser Section gestellten Antrags ein Betrag nach Subsection 1 oder Subsection 1A gutzuschreiben ist und
(b) nach Verrechnung von gegebenenfalls nach Maßgabe oder aufgrund dieses Gesetzes zu berücksichtigenden Beträgen dieser Betrag ganz oder teilweise der Person als Guthaben verbleibt,
sind die Commissioners verpflichtet, den als Guthaben verbleibenden Betrag an die Person zu zahlen (oder zurückzuzahlen).
…
(7) Außer in den in dieser Section bezeichneten Fällen sind die Commissioners nicht zur Gutschrift oder Rückzahlung von Beträgen verpflichtet, die als Mehrwertsteuer mit ihnen abgerechnet oder an sie entrichtet, ihnen aber nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurden."
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Wird einem nach Section 80 des VATA 1994 gestellten Antrag stattgegeben, hat der Steuerpflichtige gegebenenfalls Anspruch auf Zinsen auf den zu viel gezahlten Betrag, die nach Section 78 des VATA 1994 berechnet werden. Section 78 bestimmt:
"Zinsen im Fall eines behördlichen Fehlers
(1) Hat eine Person aufgrund eines Fehlers der Commissioners
(a) mit diesen einen Betrag als Mehrwertsteuer abgerechnet, den sie nicht als Mehrwertsteuer geschuldet hat, und sind die Commissioners infolgedessen nach Section 80 (2A) zur Zahlung (oder Rückzahlung) eines Betrags an die Person verpflichtet, oder
(b) es unterlassen, nach Section 25 die Gutschrift eines Betrags zu beantragen, dessen Gutschrift sie verlangen konnte und zu dessen Zahlung an die Person die Commissioners demzufolge verpflichtet sind, oder
(c) an die Commissioners (in einem nicht von Buchst. a oder b erfassten Fall) einen Betrag als Mehrwertsteuer entrichtet, der nicht als Mehrwertsteuer geschuldet wurde und zu dessen Rückzahlung an die Person die Commissioners demzufolge verpflichtet sind, oder
(d) einen Betrag, den die Commissioners ihr im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer schulden, mit Verzug erhalten,
zahlen die Commissioners, falls und soweit sie ohne diese Section nicht hierzu verpflichtet wären, vorbehaltlich der nachstehenden Bestimmungen dieser Section Zinsen an die Person für den maßgebenden Zeitraum.
…
(3) Zinsen nach Maßgabe dieser Section werden zu dem nach Section 197 des Finance Act 1996 [Finanzgesetz von 1996] geltenden Satz gezahlt. …"
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Die nach Section 78 des VATA 1994 fälligen Zinsen werden gemäß Section 197 des Finance Act 1996 und den Air Passenger Duty and Other Indirect Taxes (Interest Rate) Regulations 1998 (Verordnung von 1998 über die Flugpassagierabgabe und andere indirekte Steuern [Zinssatz]) berechnet. Diese Bestimmungen bewirken im Wesentlichen, dass seit 1998 die Sätze für die Zwecke von Section 78 nach einer Formel festgelegt werden, die auf den durchschnittlichen Basiskreditsatz von sechs Clearingbanken verweist; dieser Satz wird als "Referenzsatz" bezeichnet. Für die Zeiträume zwischen 1973 und 1998 sind die Sätze in Tabelle 7 der Regulations von 1998 angegeben. Der für Section 78 maßgebende Zinssatz ist der Referenzsatz minus 1 %. In Section 78 ist auch der "maßgebende Zeitraum" definiert, für den Zinsen zu zahlen sind. Im Ausgangsverfahren beginnt dieser Zeitraum an dem Tag, an dem die Commissioners die Überzahlung erhalten haben, und endet an dem Tag, an dem die Commissioners die Auszahlung des zu verzinsenden Betrags angewiesen haben.
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Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts betrieben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens mit Ausnahme der Holdinggesellschaft Littlewoods Limited seit Einführung der Mehrwertsteuer im Vereinigten Königreich im Jahr 1973 Katalogversandhandel. Über ein Netz von "Vertretern" verteilten sie im Rahmen dieser Tätigkeit Kataloge und verkauften die darin enthaltenen Waren. Die Vertreter erhielten für die von ihnen oder durch sie getätigten Verkäufe ("Drittkäufe") eine Provision. Diese Provision, die in bar ausgezahlt werden konnte, wurde auf ihre eigenen in der Vergangenheit getätigten Käufe oder unter Zugrundelegung eines höheren Provisionssatzes auf zukünftige Käufe angerechnet.
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In der Zeit von 1973 bis Oktober 2004 wurde die für Drittkäufe gezahlte Provision fälschlicherweise als Gegenleistung für von Littlewoods-Vertretern erbrachte Dienstleistungen eingestuft. Diese Provisionszahlungen hätten sowohl nach Unionsrecht als auch nach innerstaatlichem Recht im Fall der Barauszahlung oder der Anrechnung auf zurückliegende Käufe als Rabatt für diese Käufe bzw. im Fall der Verwendung für zukünftige Käufe unter Zugrundelegung eines höheren Provisionssatzes als Skonto auf diese Käufe eingestuft werden müssen. Littlewoods entrichtete daher für bestimmte Lieferungen zu viel Mehrwertsteuer, da die Besteuerungsgrundlage für die gelieferten Gegenstände irrtümlich höher angesetzt worden war, als sie tatsächlich gewesen war.
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Die zu viel gezahlten Beträge waren für die Zeiträume vor 1978 nach der Richtlinie 67/228 und ab 1978 nach der Richtlinie 77/388 nicht als Mehrwertsteuer geschuldet.
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Littlewoods beantragte bei den Commissioners die Erstattung der zu viel gezahlten Mehrwertsteuer. Ab Oktober 2004 zahlten die Commissioners zu viel gezahlte Mehrwertsteuer in Höhe von 204 774 763 GBP an Littlewoods zurück. Die Rückzahlung erfolgte gemäß Section 80 des VATA 1994.
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Zu dieser Rückzahlung kamen nach Section 78 des VATA 1994 einfache Zinsen in Höhe von 268 159 135 GBP hinzu.
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Mit den beim vorlegenden Gericht anhängigen Klagen begehrt Littlewoods die Zahlung weiterer Beträge in Höhe von insgesamt rund 1 Milliarde GBP. Sie macht geltend, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland einen Vermögensvorteil in dieser Höhe aufgrund der Verausgabung der an Steuer zu viel gezahlten Hauptbeträge erlangt habe. Dieser Betrag sei anhand der jeweiligen Zinseszinssätze berechnet worden, die für eine Kreditaufnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs in dem fraglichen Zeitraum gegolten hätten. Bei dem Betrag seien die bereits gezahlten einfachen Zinsen berücksichtigt worden.
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In den Ausgangsverfahren stützt sich Littlewoods auf zwei Anspruchsgrundlagen nach nationalem Recht, zum einen auf einen Anspruch auf Ersatz der zu Unrecht erhobenen Steuer, gemeinhin als "Woolwich-Anspruch" ("Woolwich claim") bezeichnet, und einen Anspruch auf Ersatz des aufgrund eines Rechtsfehlers entrichteten Betrags ("mistake-based claim").
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Das vorlegende Gericht führt dazu aus, dass die Verjährungsfrist für einen Woolwich-Anspruch sechs Jahre ab dem Zeitpunkt der Überzahlung der Steuer betrage, während die Verjährungsfrist für einen Ersatzanspruch wegen Rechtsfehlers sechs Jahre ab dem Zeitpunkt betrage, zu dem der Betroffene den Fehler entdeckt habe oder bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte entdecken können.
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Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sind diese nach nationalem Recht geltenden Verjährungsfristen mit dem Unionsrecht vereinbar.
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In den Ausgangsverfahren ist Folgendes unstreitig:
- Von 1973 bis Oktober 2004 haben die Commissioners Mehrwertsteuerbeträge unter Verstoß gegen Unionsrecht und nationales Recht erhoben,
- Littlewoods hat nach Unionsrecht und nationalem Recht ein Recht auf Rückzahlung der zu viel gezahlten Mehrwertsteuer, da die entsprechenden Beträge an die Commissioners gezahlt wurden,
- Littlewoods hat einfache Zinsen erhalten, die nach Maßgabe der nationalen gesetzlichen Bestimmungen berechnet und gezahlt wurden, und
- die Voraussetzungen für eine Schadensersatzpflicht des Staates wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht sind nicht erfüllt.
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Das vorlegende Gericht führt aus, dass im vorliegenden Fall keine der von Littlewoods geltend gemachten Anspruchsgrundlagen gegeben sei. Die zu viel gezahlte Mehrwertsteuer könne nur im Wege eines Antrags gemäß Section 80 des VATA 1994 geltend gemacht werden, und Littlewoods könne einen Zinsanspruch nur auf Section 78 des VATA 1994 stützen. Rein nach nationalem Recht seien die Ansprüche daher nach Section 78 und Section 80 des VATA 1994 ausgeschlossen.
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Das vorlegende Gericht hegt jedoch Zweifel, ob eine solche Lösung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
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Unter diesen Umständen hat der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division, das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Steht es, wenn ein Steuerpflichtiger Mehrwertsteuer zu viel gezahlt hat, die der Mitgliedstaat entgegen den Anforderungen der unionsrechtlichen Mehrwertsteuervorschriften erhoben hat, im Einklang mit dem Unionsrecht, wenn die von einem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellte Abhilferegelung lediglich a) die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge und b) eine einfache Verzinsung dieser Beträge gemäß nationalen Rechtsvorschriften wie Section 78 des VATA 1994 vorsieht?
2. Falls nein: Gebietet das Unionsrecht, dass die von einem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellte Abhilferegelung a) die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge und b) die Zahlung von Zinseszinsen als messbare Größe für die Höhe des Nutzwerts der zu viel gezahlten Beträge in den Händen des Mitgliedstaats und/oder des entgangenen Nutzwerts des Geldes in den Händen des Steuerpflichtigen umfassen muss?
3. Falls sowohl Frage 1 als auch Frage 2 zu verneinen sind: Worauf muss sich die Abhilferegelung, die der Mitgliedstaat gemäß dem Unionsrecht vorsehen muss, über die Erstattung der zu viel gezahlten Hauptbeträge hinaus im Hinblick auf den Nutzwert der Zuvielzahlungen und/oder die Zinsen erstrecken?
4. Falls Frage 1 zu verneinen ist: Gebietet es der unionsrechtliche Effektivitätsgrundsatz, dass ein Mitgliedstaat, um dem durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Recht, das sich aus den Antworten des Gerichtshofs auf die Fragen 1 bis 3 ergibt, zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen, die im nationalen Recht vorgesehenen Beschränkungen (wie Section 78 und Section 80 des VATA 1994) hinsichtlich aller innerstaatlichen Anspruchsgrundlagen oder Abhilferegelungen unangewandt lässt, auf die sich der Steuerpflichtige andernfalls berufen könnte, oder genügt es, wenn das nationale Gericht diese Beschränkungen lediglich hinsichtlich einer dieser innerstaatlichen Anspruchsgrundlagen oder Abhilferegelungen unangewandt lässt?
Von welchen anderen Grundsätzen soll sich das nationale Gericht bei der Durchsetzung dieses durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechts leiten lassen, um dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz zu genügen?
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Zu den Vorlagefragen
Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der ein wegen Nichtbeachtung des Unionsrechts zu viel erhobener Mehrwertsteuerbetrag dem Steuerpflichtigen erstattet wurde, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn das nationale Recht eine einfache Verzinsung dieses Betrags vorsieht, oder ob das Unionsrecht verlangt, dass das nationale Recht die Zahlung von Zinseszinsen als messbare Größe für die Höhe des Nutzwerts der zu viel gezahlten Beträge und/oder des entgangenen Nutzwerts dieser Beträge oder eine andere, gegebenenfalls vom Gerichtshof zu bestimmende, Abhilferegelung vorsieht. Für den Fall der Unvereinbarkeit der anwendbaren nationalen Vorschrift mit dem Unionsrecht möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Konsequenzen es aus einer solchen Unvereinbarkeit ziehen muss.
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Hierzu ist zunächst festzustellen, dass Littlewoods nach den Ausführungen in der Vorlageentscheidung im Ausgangsrechtsstreit keine Schadensersatzklage wegen eines Verstoßes des Vereinigten Königreichs gegen das Unionsrecht erhoben hat, sondern eine Klage auf Erstattung von Mehrwertsteuer, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben wurde.
23
Nach ständiger Rechtsprechung stellt das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen (vgl. u. a. Urteile vom 9. November 1983, San Giorgio, 199/82, Slg. 1983, 3595, Randnr. 12, und vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a., C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1727, Randnr. 84). Die Mitgliedstaaten sind also grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobene Abgaben zu erstatten (Urteile vom 14. Januar 1997, Comateb u. a., C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-165, Randnr. 20, Metallgesellschaft u. a., Randnr. 84, vom 2. Oktober 2003, Weber's Wine World u. a., C-147/01, Slg. 2003, I-11365, Randnr. 93, und vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C-446/04, Slg. 2006, I-11753, Randnr. 202).
24
Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass die Einzelnen, wenn ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Unionsrechts Steuern erhoben hat, Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge haben, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind. Darunter fallen auch die Einbußen aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen infolge der vorzeitigen Fälligkeit der Steuer (vgl. Urteile Metallgesellschaft u. a., Randnrn. 87 bis 89, und Test Claimants in the FII Group Litigation, Randnr. 205).
25
Nach dieser Rechtsprechung ergibt sich der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten, aus dem Unionsrecht.
26
In Ermangelung einer Regelung der Union kommt es der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zu, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere den Zinssatz und die Berechnungsmethode für die Zinsen (einfache Verzinsung oder Zahlung von Zinseszinsen) festzulegen. Diese Bedingungen müssen den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (vgl. in diesem Sinne Urteile San Giorgio, Randnr. 12, vom 2. Oktober 2003, Weber's Wine World u. a., Randnr. 103, und vom 6. Oktober 2005, MyTravel, C-291/03, Slg. 2005, I-8477, Randnr. 17).
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So verbietet nach ständiger Rechtsprechung der Effektivitätsgrundsatz den Mitgliedstaaten, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. Urteile vom 7. Januar 2004, Wells, C-201/02, Slg. 2004, I-723, Randnr. 67, und vom 19. September 2006, i-21 Germany und Arcor, C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559, Randnr. 57).
28
Im vorliegenden Fall verlangt dieser Grundsatz, dass die nationalen Vorschriften, die u. a. die Berechnung eventuell zu zahlender Zinsen regeln, nicht dazu führen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die zu Unrecht gezahlte Mehrwertsteuer erlitten hat, vorenthalten wird.
29
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob dies unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens der Fall ist. Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, haben die Commissioners Littlewoods gemäß Section 78 des VATA 1994 Zinsen auf die Mehrwertsteuer gezahlt, die unter Verstoß gegen Unionsrecht erhoben worden war. Gemäß dieser Bestimmung erhielt Littlewoods einfache Zinsen in Höhe von 268 159 135 GBP, einen Betrag, der einer Zinsschuld über etwa 30 Jahre gleichkommt und der den Hauptbetrag von 204 774 763 GBP um mehr als 23 % übersteigt.
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Zu der Frage, ob im Ausgangsverfahren der Grundsatz der Äquivalenz gewahrt ist, ist festzustellen, dass die Wahrung dieses Grundsatzes voraussetzt, dass die streitige nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben. Der Grundsatz der Äquivalenz darf jedoch nicht so verstanden werden, dass er einen Mitgliedstaat verpflichtet, die günstigste innerstaatliche Regelung auf alle Rechtsbehelfe zu erstrecken, die in einem bestimmten Rechtsbereich eingelegt werden. Um sich zu vergewissern, ob der Grundsatz der Äquivalenz gewahrt ist, hat das vorlegende Gericht, das allein eine unmittelbare Kenntnis der Modalitäten für gegen den Staat und auf Erstattung gerichtete Rechtsbehelfe im Bereich des innerstaatlichen Rechts besitzt, zu untersuchen, ob die Modalitäten, die im innerstaatlichen Recht den Schutz der Rechte gewährleisten sollen, den die Bürger aufgrund des Unionsrechts genießen, diesem Grundsatz entsprechen, und sowohl den Gegenstand als auch die wesentlichen Merkmale der angeblich vergleichbaren Rechtsbehelfe, die das innerstaatliche Recht betreffen, zu prüfen. Zu diesem Zweck hat das nationale Gericht die Gleichartigkeit der betreffenden Rechtsbehelfe unter dem Gesichtspunkt ihres Gegenstands, ihres Rechtsgrundes und ihrer wesentlichen Merkmale zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Oktober 2009, Pontin, C-63/08, Slg. 2009, I-10467, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31
Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts führt die Anwendung von Section 78 des VATA 1994 zu einem Ausschluss zweier "Common law"-Ansprüche, nämlich des Woolwich-Anspruchs und des Ersatzanspruchs wegen Rechtsfehlers. Im Wesentlichen möchte es wissen, ob im Fall der Feststellung der Unvereinbarkeit von Section 78 und Section 80 des VATA 1994 mit dem Unionsrecht die Nichtanwendung der in diesen Bestimmungen enthaltenen Beschränkung hinsichtlich des Woolwich-Anspruchs im Ausgangsrechtsstreit zu einer unionsrechtskonformen Verzinsung führen könnte oder ob dazu die Beschränkung hinsichtlich aller Anspruchsgrundlagen oder Abhilferegelungen nach dem "Common law" unangewandt bleiben sollte.
32
Nach ständiger Rechtsprechung ist das nationale Gericht bei einer Vorschrift, die nicht mit unmittelbar anwendbarem Unionsrecht vereinbar ist, verpflichtet, diese nationale Vorschrift unangewandt zu lassen, wobei diese Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt, unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 27. Oktober 1993, van Gemert-Derks, C-337/91, Slg. 1993, I-5435, Randnr. 33, vom 22. Oktober 1998, IN. CO. GE. 90 u. a., C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307, Randnr. 21, und vom 19. November 2009, Filipiak, C-314/08, Slg. 2009, I-11049, Randnr. 83).
33
Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass nach ihm der Steuerpflichtige, der einen zu hohen Mehrwertsteuerbetrag entrichtet hat, der vom betreffenden Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Mehrwertsteuervorschriften der Union erhoben worden war, Anspruch auf Erstattung der unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuer sowie Anspruch auf deren Verzinsung haben muss. Ob der Hauptbetrag nach einer Regelung über die einfache Verzinsung, einer Zinseszinsregelung oder einer anderen Regelung zu verzinsen ist, ist nach nationalem Recht unter Beachtung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz zu bestimmen.
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Kosten
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.