· Fachbeitrag · Einkünftequalifikation
Wie ist eine selbstständige von einer nicht-selbstständigen Tätigkeit abzugrenzen?
von StB Jürgen Derlath, Münster
Ob eine Tätigkeit selbstständig oder nicht-selbstständig ist, hängt vom Gesamtbild der Verhältnisse ab. Dazu gehört auch die Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses, sofern die Vereinbarungen ernsthaft gewollt und tatsächlich durchgeführt worden sind. Die tatrichterliche Gesamtwürdigung ist revisionsrechtlich nur begrenzt überprüfbar. Allerdings ist sie materiell-rechtlich fehlerhaft, wenn die Tatsacheninstanz die maßgeblichen Umstände nicht vollständig oder ihrer Bedeutung entsprechend in ihre Überzeugungsbildung einbezieht (BFH 18.6.15, VI R 77/12). |
Sachverhalt
Streitig war, ob Telefoninterviewer einer Marktforschungsagentur als Arbeitnehmer oder selbstständig tätig waren. Die Agentur hatte weder Lohnsteuer noch Sozialversicherungsbeiträge einbehalten und sollte dafür in Anspruch genommen werden. Die Agentur hatte den Telefoninterviewern Räume und Arbeitsplatzausstattungen zur Verfügung gestellt. Die Interviewer arbeiteten zumeist in Zeitblöcken von je vier Stunden mit Fragebögen der Agentur und wurden von einem Supervisor überwacht. Der Ablauf des Interviews richtete sich nach festen durch ein Computerprogramm vorgegebenen Regeln.
In einer „Rahmenvereinbarung“ war geregelt, dass
- der Interviewer als freier Mitarbeiter (freiberufliche Nebentätigkeit) tätig ist,
- sich die Tätigkeit nach dem Einzelauftrag richtet,
- der freie Mitarbeiter die vorgeschlagenen Interviewzeiten ablehnen könne und auch keinen zeitlichen Bindungen unterliege,
- dass der Interviewer sich für die Annahme von Aufträgen nicht bereithalten muss; es keine Einsatzpläne gibt und er zu den Öffnungszeiten beliebig kommen und gehen kann (keine festen Arbeitszeiten),
- die vom Institut angegebenen Termine nur für übernommene Aufträge einzuhalten sind,
- dass die im Einzelfall durchzuführenden Interviews ein einheitliches Werk i.S. des § 631 des Bürgerlichen Gesetzbuchs sind und
- die Honorare für jeden Einzelauftrag gesondert vereinbart und vom freien Mitarbeiter monatlich in Rechnung zu stellen waren.
Anmerkungen
Das FG hielt die Interviewer für Arbeitnehmer. Der BFH hob die Vorentscheidung jedoch auf, weil die Gesamtwürdigung des FG nicht vollständig die maßgeblichen Umstände berücksichtigte, die für und gegen das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses sprechen. Dies stellte einen materiell-rechtlichen Fehler dar.
Maßgeblich für die Beurteilung sind § 1 Abs. 2 S.1 und 2 der LStDV i.V. mit § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a EStG. Danach beurteilt sich die Frage, wer Arbeitnehmer ist, nach dem Gesamtbild der Verhältnisse. Der BFH (14.6.85, VI R 150-152/82, BStBl II 85, 661) hat zahlreiche Kriterien (Indizien) beispielhaft aufgeführt, die eine Rolle spielen und im konkreten Einzelfall jeweils zu gewichten und gegeneinander abzuwägen sind.
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Aber neben diesen Indizien ist auch das Vertragsverhältnis, sofern die Vereinbarungen ernsthaft gewollt und tatsächlich durchgeführt worden sind, in das Gesamtbild miteinzubeziehen. |
Sodann setzt sich der BFH mit einigen Merkmalen auseinander, mit denen das FG belegen wollte, dass die Interviewer kein Unternehmerrisko tragen:
- Honorare auf Stundenbasis/Erfolgshonorare: Das FG hat ein Unternehmerrisiko der Interviewer damit verneint, dass die Klägerin faktisch „ein begrenzt variables Stundenhonorar“ gezahlt habe. Aber Stundenhonorare sind auch bei Selbstständigen und gewerblich Tätigen durchaus üblich. Vereinbaren die Vertragsparteien eine Vergütung auf der Basis von Erfolgshonoraren, ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass kein lohnsteuerrechtlich erhebliches Beschäftigungsverhältnis vorliegt, sofern diese Vereinbarung den tatsächlichen Verhältnissen nicht widerspricht.
- Risiko eines Honorarausfalls: Für nicht nachvollziehbar hielt der BFH die Würdigung des FG, nach der das festgestellte Risiko eines möglichen Honorarausfalls bei einem Interviewabbruch kein Unternehmerrisiko darstelle. Denn ein möglicher Honorarausfall entspreche der typischen wirtschaftlichen Situation eines selbständig Tätigen, findet sich dagegen praktisch nicht bei Arbeitnehmern.
- Keine Lohnfortzahlung bei Urlaub, Krankheit: Können Auftragnehmer wegen Urlaub oder Krankheit keine Aufträge ausführen und keine Einnahmen erzielen, liegt typischerweise keine Arbeitnehmertätigkeit vor. Entsprechendes gilt, wenn die Mitarbeiter — wie im Streitfall — darüber hinaus sogar die Möglichkeit hatten, Aufträge abzulehnen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die betreffenden Mitarbeiter von dieser Möglichkeit in großem Umfang Gebrauch gemacht haben.
- Ausschließlich nebenberufliche Tätigkeit: Der Umfang des wirtschaftlichen Risikos richtet sich nicht nach dem Verhältnis der tatsächlichen zu der maximal möglichen gesamten Wochen- oder Monatsarbeitszeit; dementsprechend trägt auch ein ganztägig Beschäftigter nicht allein deshalb ein Unternehmerrisiko, weil er in Vollzeit tätig ist. Zudem spricht ein geringer zeitlicher Umfang einer Tätigkeit nach der Rechtsprechung des Senats eher für eine selbständige als für eine nichtselbständige Tätigkeit, weil in den Fällen, in denen der Auftragnehmer jeweils nur kurz mit dem Betrieb des Auftragsgebers in Berührung kommt, die Eingliederung in den Betrieb fehlen kann.
- Nichtgewährung von Sozialleistungen: Auch dass die Nichtgewährung von Sozialleistungen, insbesondere die Nichtgewährung von Lohnfortzahlungen im Urlaubs- und im Krankheitsfall nicht für die Selbständigkeit der Interviewer sprechen soll, weil die Interviewer nur in Teilzeit im Rahmen einer Nebentätigkeit beschäftigt gewesen seien, findet in der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats keine Grundlage. Danach deuten die Merkmale Urlaubsanspruch, Anspruch auf sonstige Sozialleistungen und Anspruch auf Fortzahlung der Bezüge im Krankheitsfall vielmehr für eine Arbeitnehmereigenschaft.
Praxishinweis
Da die Revision schon aus den vorgenannten Gründen keinen Erfolg hatte, musste sich der BFH leider nicht mehr damit auseinandersetzen, ob die Schätzungen des FG rechtmäßig waren. Die Marketingagentur hatte gerügt, dass:
- das FG gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen habe, indem es keine Gelegenheit gegeben habe, sich zu dem Inhalt der Schätzung zu äußern, wonach 40 % der Interviewer der Lohnsteuerklasse I und 10 % der Lohnsteuerklasse VI unterlegen hätten, dass 40 % ihre Zahlungen bereits versteuert hätten und 10 % als geringfügig Beschäftigte anzusehen seien.
- dass es für die vom FG gewählte Aufteilung keinerlei tatsächliche Grundlagen gebe, das FG diese Aufteilung auch in keiner Weise begründet habe und deshalb das Urteil insoweit keine Begründung enthalte.
Zur Frage der Darlegung und Begründung einer Schätzung verweist der Senat lediglich auf sein Urteil (BFH 29.5.08, VI R 11/07, BStBl II 08, 933) zu einem vergleichbaren Fall. Danach müssen die Schätzergebnisse schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig sein. Weiter muss die finanzgerichtliche Entscheidung in einer für die Revisionsinstanz nachprüfbaren Weise erkennen lassen, dass die finanzgerichtliche Schätzung den Anforderungen an eine möglichst wirklichkeitsnahe Schätzung entspricht.