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  • · Fachbeitrag · Praxisaufkauf

    Die kalte Enteignung der Ärzte nach neuem Recht

    von RA Dr. jur. Lars Lindenau, Erlangen, ETL Medizinrecht, und RAin Isabel Wildfeuer, ETL Lüdemann Wildfeuer & Partner, München

    | Die Möglichkeit, dass Kassenärztliche Vereinigungen (KV) Arztpraxen aufkaufen, um Überversorgung abzubauen, besteht schon nach geltendem Recht. Jedoch wurde es bislang kaum angewendet. Das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) zielt darauf ab, Überversorgung abzubauen und Ärzte und Psychotherapeuten besser zu verteilen. Künftig „können“ die Zulassungsausschüsse nicht nur, sie „sollen“ sogar in überversorgten Regionen die Nachbesetzung eines frei werdenden Arztsitzes ablehnen, wenn er für die medizinische Versorgung nicht gebraucht wird. Die KV muss den Praxisinhaber dann entschädigen. |

    1. Neuregelung und Gesetzesbegründung

    Die Regelung des § 103 Abs. 3a SGB V sieht die Einziehung des Vertragsarztsitzes und damit sozusagen die kalte Enteignung der Vertragsärzte bei der Praxisnachfolge im überversorgten Gebiet wie folgt vor:

     

    • § 103 Abs. 3a SGB V (geplante Fassung)

    „Der Zulassungsausschuss soll [bisher: kann] den Antrag (auf Durchführung der Nachbesetzung) ablehnen, wenn eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist.“

     

    Die Gesetzesbegründung erläutert hierzu:

     

    „Dem Zulassungsausschuss wurde die Möglichkeit eingeräumt, Nachbesetzungsanträge abzulehnen, wenn eine Nachbesetzung des Vertragsarztsitzes aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist. Von dieser Möglichkeit haben die Zulassungsausschüsse kaum Gebrauch gemacht. Um zu erreichen, dass Vertragsarztsitze, die für eine bedarfsgerechte Versorgung nicht benötigt werden, konsequent abgebaut werden und damit auch mehr Ärztinnen und Ärzte für die Versorgung der Patientinnen und Patienten in weniger gut versorgten Regionen zur Verfügung stehen, wird aus der bisherigen Kann-Regelung eine Soll-Regelung.

     

    Aufgrund der Soll-Regelung haben die Zulassungsausschüsse nach wie vor die Möglichkeit, einem Antrag auf Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes auch in bedarfsplanungsrechtlich überversorgten Planungsbereichen zu entsprechen, wenn sie dies aus Versorgungsgründen für erforderlich halten. Versorgungsgründe für eine Nachbesetzung können beispielsweise dann anzunehmen sein, wenn ein besonderer lokaler oder qualifikationsbezogener Versorgungsbedarf besteht oder ein Arztsitz einer speziellen Fachrichtung weiterhin benötigt wird. Weitere Versorgungsgründe sind denkbar.“

     

    2. Betroffene und nicht betroffene Sachverhalte

    Das Risiko einer möglichen „kalten Enteignung“ betrifft die folgenden Ausschreibungsfälle:

     

    • (Einzel-)Praxisabgabe an einen Nachfolger
    • Gesellschafterwechsel innerhalb einer Berufsausübungsgemeinschaft
    • Rückumwandlung der Anstellung in die Zulassung eines anderen Arztes
    • Teilung der Zulassung

     

    Das Risiko besteht hingegen in diesen Fällen eher nicht:

     

    • Weitergabe der Praxis an Kinder, Ehegatten oder Lebenspartner
    • Praxisverlegung in ein unterversorgtes Gebiet des Planungsbereichs
    • mindestens dreijährige gemeinsame Berufsausübung bzw. Anstellung
    • Nachfolge in die Zulassung eines Arztes, der in unterversorgtem Gebiet tätig war

     

    Die Ablehnung droht grundsätzlich nur im überversorgten Gebiet. Es wird nunmehr geregelt, dass der Aufkauf von Arztsitzen im Sinne einer Soll-Vorschrift erst ab einem Versorgungsgrad von 140 % zur Anwendung kommt. Ab einem Versorgungsgrad von 110 % ist weiterhin von Überversorgung auszugehen. Es bleibt bei der Regelung, dass der Landesausschuss Zulassungsbeschränkungen anzuordnen hat und der Zulassungsausschuss einen Antrag auf Durchführung eines Nachbesetzungsverfahrens in einem entsprechenden Planungsbereich ablehnen kann, wenn eine Nachbesetzung aus Versorgungsgründen nicht erforderlich ist und keine gesetzlich geregelten Privilegierungstatbestände erfüllt sind. Neben dieser Kann-Regelung wird nunmehr ab einem Versorgungsgrad von 140 % eine Soll-Bestimmung vorgesehen. Das bedeutet, dass ab einem Versorgungsgrad von 140 % das Ermessen des Zulassungsausschusses bei der Entscheidung darüber, ob ein Nachbesetzungsverfahren nach Absatz 4 durchgeführt werden soll, eingeschränkt ist.

     

    PRAXISHINWEIS | Es liegt auf der Hand, dass für dieses neue „Vorverfahren“ neben der „üblichen Praxisübergabezeit“ von bislang etwa mindestens einem Jahr mindestens ein weiteres halbes Jahr Vorlaufzeit einzuplanen ist. Die Vorlaufzeit verlängert sich entsprechend bei der o.g. Fallgruppe „bei mindestens dreijähriger gemeinsamer Berufsausübung bzw. Anstellung“.

     

    3. Ablehnung der Nachbesetzung aus Versorgungsgründen

    Aus praktischer Sicht ist fraglich, wann der Zulassungsausschuss die Nachbesetzung „aus Versorgungsgründen“ ablehnt. Das Ermessen bei der Entscheidung durch den Zulassungsausschuss ist zwar in Richtung einer Ablehnung gesteuert („soll ablehnen“).

     

    Aber es sind auch positive Versorgungsgründe zu berücksichtigen, die in der o.g. Gesetzesbegründung beispielhaft genannt wurden:

     

    • besonderer lokaler Versorgungsbedarf
    • besonderer qualifikationsbezogener Versorgungsbedarf
    • Mitversorgungsaspekte
    • Versorgungsbedürfnisse von Menschen mit Behinderung
    • Erhalt des besonderen Versorgungsangebots eines MVZ oder einer BAG

     

    Dagegen liegen „negative Versorgungsgründe“ vor, wenn die Praxis keine relevante Rolle bei der Versorgung mehr spielt und damit nicht mehr versorgungsrelevant ist. Die Praxis ist dann nicht mehr versorgungsrelevant, wenn keine nennenswerte Fallzahl („Scheine“/Patienten) mehr vorhanden ist; die Praxis somit erheblich unter dem Fachgruppendurchschnitt liegt. Die Versorgungsrelevanz wird je nach Zulassungsausschuss anders beurteilt. Nach den bisherigen Erfahrungswerten soll eine Versorgungsrelevanz nicht mehr gegeben sein bei einer Spannbreite von

     

    • unter 25 % der Fallzahl des Durchschnitts der Fachgruppe oder
    • unter 50 % der Fallzahl des Durchschnitts der Fachgruppe oder
    • unter 75 % der Fallzahl des Durchschnitts der Fachgruppe.

     

    Die absolute Untergrenze dürfte bei 20 % der Fallzahl des Durchschnitts der Fachgruppe liegen. Denn bei dieser Prozentzahl war bislang auch die Einziehung der vertragsärztlichen Zulassung nach der Rechtsprechung gerechtfertigt, da der damit verbundene Versorgungsauftrag nicht mehr hinreichend wahrgenommen wird.

     

    PRAXISHINWEIS | Aus Abgebersicht sollte die Praxis auf gar keinen Fall vor dem Abgabestadium durch Absenkung der Fallzahlen heruntergefahren werden, sondern im Gegenteil eher noch im zulässigen Maße gesteigert werden. Dies hat auch positive Auswirkungen auf die Verhandlungen zum möglichen Übernahmewert.

     

    Weiterhin ist für den jeweiligen Einzelfall dringend anzuraten, aufgrund der o.g. divergierenden Meinungen die Geschäftsstelle des zuständigen Zulassungsausschusses anzufragen, ob ein Risiko einer Einziehung im konkreten Vorhaben besteht. Daneben verfügen die Präsenzberater der KVen über entsprechende Erfahrungswerte in ggf. sogar örtlich vergleichbaren Fällen. Der Arzt muss damit rechnen, bei ggf. zweifelhaften Versorgungsgründen die Praxisfortführung begründen zu müssen.

     

    Schließlich dürfte für die Gestaltungspraxis die Ausnahme von der Einziehung der Zulassung bei mindestens dreijähriger gemeinsamer Berufsausübung interessant sein. Durch die Umwandlungsmöglichkeiten von der (Teil-) Zulassung in die (Teilzeit-)Arztstelle und zurück sind in einem dreijährigen Übergabemodus Praxisnachfolgen, insbesondere in BAG und MVZ, bei überschaubarem Risiko gestaltbar.

    4. Die Entschädigung bei Ablehnung der Nachfolge

    Hat der Zulassungsausschuss den Antrag abgelehnt, hat die KV dem Vertragsarzt eine Entschädigung in der Höhe des Verkehrswerts der Arztpraxis zu zahlen (§ 103 Abs. 3a SGB V). Diese Vorschrift ist mindestens doppelt problematisch.

     

    4.1 Umfang der Entschädigung

    In § 103 Abs. 3a S. 9 SGB V wird geregelt, dass bei der Ermittlung des Verkehrswerts der Arztpraxis auf den Verkehrswert abzustellen ist, der bei der Fortführung der Praxis durch einen Praxisnachfolger nach Abs. 4 S. 8 anzusetzen gewesen wäre. Dabei gilt auch hier, dass der am Markt theoretisch erzielbare höhere Verkaufspreis im Sinne eines echten Marktwerts bei Praxisfortführung durch einen Nachfolger nicht in Ansatz zu bringen ist, wenn er den Verkehrswert der Praxis übersteigt. Zu berücksichtigen sind bei der Ermittlung des Verkehrswerts sowohl der materielle als auch der immaterielle Wert der Praxis. Die Entschädigung schließt den Ersatz von Folgeschäden, die z.B. aufgrund von längerfristigen Verträgen entstehen können, ein. Der ausscheidende Vertragsarzt ist dabei zur Schadensminderung verpflichtet. Etwaige Vermögensvorteile des ausscheidenden Vertragsarztes sind auf die zu zahlende Entschädigung anzurechnen.

     

    4.2 Bewertung der Entschädigung

    Schließlich gibt es generell keine verbindliche Wertmethode zur Bestimmung des Verkehrswerts. Die neuere Rechtsprechung von BGH, BFH und BSG tendieren wohl zum „modifizierten Ertragswertverfahren“, lassen aber auch weitere nachvollziehbare Berechnungsmethoden zu.

     

    PRAXISHINWEIS | Das Problem der „kalten Enteignung“ führt also direkt in die offenen und sehr streitanfälligen Bereiche der Praxisbewertung. Hier dürfte es zu einer Vielzahl an Verfahren kommen. Trotzdem sollte man sich mit einer eigenen Stellungnahme zur Praxiswerteinschätzung wappnen und diese durch geeignete Berater erstellen lassen.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Gerichtsgutachten - Sind Arzt- und Zahnarztpraxen aus Erwerber- oder aus Veräußerersicht zu bewerten? (Leuner, PFB 13, 250)
    • Praxisbewertung - Die Bewertung von Freiberuflerpraxen im Zugewinnausgleich nach der BGH-Rechtsprechung (Nies/Nies, PFB 12, 337)
    • Auswirkungen der aktuellen Rechtsprechung des BGH zur Bewertung von freiberuflichen Praxen im Zugewinnausgleich (Stabenow/Czubayko, FamRZ 12, 686)

     

    HINWEIS | Unter www.iww.de/pfb/downloadrubrik/sonderausgaben können Sie alle Beiträge auch als PDF-Datei herunterladen!

    Quelle: Ausgabe 09 / 2015 | Seite 243 | ID 43517766