· Fachbeitrag · Prozessrecht
So muss ein Berufungsgericht mit einem Vorgutachten umgehen
| Der BGH hat aktuell betont, dass ein Berufungsgericht nicht zwingend eine vorinstanzliche Beweisaufnahme wiederholen muss. Allerdings kann es geschehen, dass es die gesundheitlichen Einschränkungen Ihres Mandanten völlig anders würdigt, als es das vorherige Gericht auf Basis eines Gutachtens tat. In diesen Fällen muss der Gutachter aber auch erneut angehört werden. |
Sachverhalt
Der Kläger war Sachbearbeiter bei einer Versicherung. Er klagte rückständige Leistungen aus seiner Berufsunfähigkeitsversicherung sowie die fortlaufende Rentenzahlung ein. Er sei wegen einer krankhaften Überempfindlichkeit gegenüber verschiedenen, insbesondere in der Büroluft vorhandenen Chemikalien berufsunfähig (Reaktionen auf Deosprays, Parfums, Teppichkleber, Drucker-Tonerstaub oder mit Weichspülern gewaschene Kleidung). Er leide unter Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Kopf- und Gelenkschmerzen, Hautirritationen, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. In der ersten Instanz kam der umweltmedizinische Sachverständige in seinem Gutachten und mündlicher Erläuterung vor Gericht zu dem Ergebnis, dass der Kläger seinen Beruf im Versicherungsinnendienst aktuell nicht ausüben könne. Er ging weiter davon aus, dass die vom Kläger geschilderten Beschwerden wie die eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit, seine Müdigkeit und die Durchfälle usw. tatsächlich bestünden und dass tatsächlich hierfür eine Reaktion auf chemische Stoffe ursächlich sei, auch wenn dies mittels Allergietestung nicht nachweisbar sei. Das LG war davon überzeugt, dass der Kläger rückwirkend zu mindestens 50 Prozent außerstande sei, seine zuletzt verrichtete Tätigkeit auszuüben.
Das OLG wies die Berufung beider Parteien hiergegen zurück. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers war erfolgreich, der BGH wies die Sache an das OLG zurück (BGH 6.3.19, IV ZR 128/18, Abruf-Nr. 208170).
Entscheidungsgründe
Es liegt zwar im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts, ob und inwieweit es eine vorinstanzliche Beweisaufnahme wiederholt. Das Berufungsgericht hat vorliegend aber gegen entscheidende Grundsätze verstoßen, wie mit den gutachterlichen Ergebnissen und den mündlichen Erläuterungen des Gutachters umzugehen ist, die in der Vorinstanz erhoben wurden.
Wenn ein Gericht die gutachterlichen Ausführungen aus der Vorinstanz abweichend würdigt, insbesondere ein anderes Verständnis der Ausführungen zugrunde legt und damit andere Schlüsse aus diesen ziehen will als das vorinstanzliche Gericht, muss der Gutachter erneut angehört werden (vgl. BGH 18.7.18, VII ZR 30/16; 24.3.10, VIII ZR 270/09). Das Gericht hätte daher bezüglich des Sachverhalts, inwieweit die körperlichen Beschwerden des Klägers auf Stoffe und Reize am Arbeitsplatz zurückzuführen sind, den Umweltgutachter nicht einfach außen vor lassen dürfen. Insoweit kann nichts anderes gelten, als wenn die Aussagen von Zeugen in der zweiten Instanz abweichend beurteilt würden (BGH 21.3.18, IV ZR 248/17).
Relevanz für die Praxis
Das Berufungsgericht hatte hier auch keine Umstände dargelegt, warum es ausnahmsweise schon aufgrund des Akteninhalts zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können als das LG zuvor. In solchen Fällen liegt ein Verfahrensfehler vor, auf den Sie gemäß BGH-Rechtsprechung mit einer Nichtzulassungsbeschwerde reagieren können.
PRAXISTIPP | Der Kläger kann auch benachteiligt sein, wenn das Gericht neue, bislang nicht ins Verfahren eingeführte, sozialmedizinische Gesichtspunkte einführt (Überraschungsentscheidung, BSG 9.1.19, B 13 R 170/17 B, Abruf-Nr. 207343).
Als Bevollmächtigter müssen Sie die ärztlichen Stellungnahmen zum Gesundheitszustand Ihres Mandanten kennen und sich zu diesen gegenüber dem Gericht äußern können. Sonst liegt auch ein Verfahrensmangel vor, den Sie nicht hinnehmen müssen (SR 19, 44). |
Weiterführende Hinweise
- Ohne nachvollziehbare Begründung darf Versicherer Zahlungen nicht einstellen, SR 19, 43
- BU-Versicherung widerrufen: Versicherer darf nicht hingehalten werden, SR 18, 148
- So genau müssen Versicherte ihren Beruf und dabei ausgeübte Tätigkeiten beschreiben, SR 18, 94