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· Fachbeitrag · Außensteuergesetz

Die Wegzugsbesteuerung im Lichte des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz

von Dino Höppner, M.Sc. und Mathis Schuh, M.Sc., beide Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

| Die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz, die weder Mitglied der EU noch des EWR ist, werden über zahlreiche bilaterale Verträge geregelt. Dabei ist im Bereich der direkten Steuern dem Freizügigkeitsabkommen (FZA) besondere Bedeutung beizumessen. Inwieweit das im FZA verankerte Diskriminierungsverbot einen vergleichbaren Schutz wie der AEUV für die Wegzugsbesteuerung vorsieht, ist in der Vergangenheit vereinzelt durch den EuGH entschieden worden ( EuGH 15.3.18, C-355/16, Picart; EuGH 26.2.19, C-581/17, Wächtler). Dieser Beitrag fasst die bisherigen Erkenntnisse zusammen und beleuchtet weitere Fallkonstellationen. |

1. Die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG

Unter die Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG fallen natürliche Personen, die mindestens zehn Jahre in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig waren und Anteilseigner einer Kapitalgesellschaft i. S. d. § 17 Abs. 1 S. 1 EStG sind. Ferner sind neben dem Grundtatbestand des Wegzugs vier weitere Ersatz- bzw. Ergänzungstatbestände kodifiziert (§ 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 4 AStG). Diese folgenden Ergänzungstatbestände sind dem Wegzug, d. h. der Aufgabe der unbeschränkten Steuerpflicht, gleichgestellt:

 

  • 1. Die (teilweise) unentgeltliche Übertragung zwischen Lebenden oder der Erwerb von Todes wegen auf nicht unbeschränkt Steuerpflichtige
  • 2. Die Begründung der Ansässigkeit nach einem DBA in einem anderen Vertragsstaat (sog. Doppelansässigkeit)
  • 3. Die Einlage der Anteile in das Betriebsvermögen in einem anderen Staat
  • 4. Der Ausschluss oder die Beschränkung des deutschen Besteuerungsrechts hinsichtlich des Veräußerungsgewinns

 

Verlagert der Steuerpflichtige seinen Wohnsitz und/oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland und endet damit seine unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland, besteht die Gefahr, dass der deutsche Besteuerungsanspruch an den latenten Wertzuwächsen der Kapitalgesellschaftsanteile verloren geht. Das uneingeschränkte Besteuerungsrecht für die Veräußerung dieser Anteile steht dann nach Art. 13 Abs. 5 OECD-MA dem (neuen) Ansässigkeitsstaat zu. Vor diesem Hintergrund fingiert § 6 Abs. 1 S. 1 AStG im Zeitpunkt des Wegzugs eine Veräußerung nach § 17 EStG. Kehrt der Steuerpflichtige innerhalb von fünf Jahren nach Deutschland zurück bzw. begründet er wieder die unbeschränkte Steuerpflicht, entfällt gemäß § 6 Abs. 3 AStG der Steueranspruch nach § 6 Abs. 1 AStG. Die Dauer der vorübergehenden Abwesenheit kann auf Antrag um höchstens fünf Jahre auf insgesamt zehn Jahre verlängert werden (§ 6 Abs. 3 S. 2 AStG).

 

Um unionsrechtlichen Vorgaben zu genügen, sieht § 6 Abs. 5 AStG eine zinslose, zeitlich unbegrenzte Stundung ohne Gestellung von Sicherheiten von Amts wegen vor, die mit einer jährlichen Mitteilungspflicht über den Verbleib der Anteile verbunden ist. Voraussetzung für die Inanspruchnahme dieser Stundung ist der doppelte EU-/EWR-Bezug. Neben dem Innehaben der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats der EU oder des EWR, muss der Steuerpflichtige nach Wegzug der unbeschränkten Steuerpflicht in einem EU- oder EWR-Staat unterliegen. Des Weiteren müssen die Amtshilfe und die Unterstützung bei der Beitreibung zwischen dem Zugzugsstaat und Deutschland sichergestellt sein.

 

Alternativ zur Stundung nach Abs. 5 sieht § 6 Abs. 4 AStG sowohl für EU-/EWR- als auch für Drittstaatensachverhalte eine ratierliche Stundung über fünf Jahre samt der Gestellung von Sicherheiten vor. Diese Stundung ist jedoch nur auf Antrag zu gewähren und setzt voraus, dass die sofortige Einziehung der Steuer mit erheblichen Härten für den Steuerpflichtigen verbunden ist. Dabei stellt allein die Zahlung der Steuern noch keine erhebliche Härte dar.

2. Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz

Das FZA trat am 1.6.02 in Kraft und ist als völkerrechtlicher Vertrag integraler Bestandteil des Unionsrechts, weshalb das Abkommen unmittelbar für die EU-Mitgliedstaaten und ihre Bürger anwendbar ist. Dabei ist der EuGH für die Auslegung des FZA nur zuständig, soweit es um die Konformität des Rechts der EU-Mitgliedstaaten mit dem FZA handelt. Hierfür verweist das Abkommen explizit auf die EuGH-Rechtsprechung zum AEUV. Diese Rechtsprechung ist aber gemäß Art. 16 Abs. 2 FZA nur insoweit zu übertragen, als sie vor dem 21.6.99 ergangen ist. Bei der Auslegung von Begriffen des Unionsrechts werden Entscheidungen, die nach dem Abschluss des FZA ergangen sind, nur berücksichtigt, soweit diese Entscheidungen die Grundsätze bestätigen oder präzisieren, die in der vor dem Abschluss des Abkommens bestehenden Rechtsprechung aufgestellt waren. Inwieweit Schweizer Recht gegen das FZA verstößt oder mit diesem im Einklang steht, ist nur durch die schweizerischen Gerichte zu klären (vgl. Spies, StuW 17, 49).

 

Die Ziele des FAZ gemäß Art. 1 FAZ zugunsten der Staatsangehörigen beider Vertragsparteien umfassen:

 

  • a) Die Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbstständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien
  •  
  • b) Die Erleichterung der Erbringung von Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien, insbesondere Liberalisierung kurzzeitiger Dienstleistungen
  •  
  • c) Die Einräumung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien für Personen, die im Aufnahmestaat keine Erwerbstätigkeit ausüben
  •  
  • d) Die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer

 

Der Schutzbereich des FZA erstreckt sich nur auf natürliche Personen, die Selbstständige, Arbeitnehmer, Dienstleistungserbringer und -empfänger (nur hier auch auf Gesellschaften, vgl. Anh. I Art. 18 FZA), Studierende, Arbeitssuchende oder andere Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, sind. Ebenfalls sind vom persönlichen Anwendungsbereich des Abkommens Grenzgänger i. S. d. Anh. I Art. 7 und Art. 13 FZA umfasst.

 

Die beiden Vertragsparteien sind nach der Präambel des FZA entschlossen, auf Grundlage des AEUV (seinerzeit EG-Vertrag) die Freizügigkeit zwischen den Vertragsparteien zu verwirklichen. Zur Zielerreichung ist in Art. 2 FZA, ähnlich wie Art. 18 AEUV, ein allgemeines Diskriminierungsverbot vorgesehen, das durch die Anhänge I, II und III konkretisiert wird. Nach Anh. I des FZA sind die allgemeinen Grundfreiheiten, d. h. die Niederlassungsfreiheit, die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die Dienstleistungsfreiheit i. S. d. AEUV, allerdings nur partiell übernommen worden und folglich restriktiver ausgestaltet (vgl. Cortez/Schmidt, IWB 2017, 837):

 

  • Im Vergleich zur Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV sieht der Grundtatbestand der Arbeitnehmerregelung des FZA (Anh. I Art. 6 FZA) engere Grenzen vor. So wird Staatsangehörigen einer der beiden Vertragsparteien, die Arbeitnehmer sind, eine Aufenthaltsgenehmigung nur erteilt, sofern ein Arbeitsverhältnis mit einem Arbeitgeber im Aufnahmestaat im Umfang von mindestens einem Jahr geschlossen wurde. Eine solche Mindestdauer wird durch Art. 45 AEUV nicht gefordert.

 

  • Die Niederlassungsfreiheit des AEUV wird im FZA ebenfalls nur partiell umgesetzt. Sie umfasst nur selbstständige Erwerbstätige. Das FZA hält keine eigene Definition für den Begriff des Selbstständigen vor. Dabei ergibt sich die Abgrenzung zum Arbeitnehmer aus dem Verhältnis zum Arbeitgeber bzw. Auftraggeber. Mangelt es an einem Unterordnungsverhältnis bei der Ausübung einer Tätigkeit, ist der Sachverhalt unter die selbstständige Erwerbstätigkeit zu subsumieren. Hinsichtlich der Aufnahmevoraussetzungen wird ein Nachweis über die Aufnahme und Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit verlangt (Anh. I Art. 12 FZA).

 

  • Die Dienstleistungsfreiheit wird im FZA durch Anh. I Art. 17 bis Art. 23 FZA umgesetzt. Dabei ist der persönliche Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit des FZA der einzige, der nicht nur natürliche Personen, sondern auch „Gesellschaften“ umfasst (Anh. I Art. 18 FZA). Zudem ist der Aufenthalt im anderen Hoheitsgebiet der Vertragsparteien zur Erbringung einer Dienstleistung auf 90 Tage begrenzt. Für einen längeren Aufenthalt ist eine zusätzliche Erlaubnis notwendig. Damit sieht das FZA im Bereich der Dienstleistungsfreiheit ebenfalls höhere Anforderungen als der AEUV vor.

 

Ergänzend zu den Regelungen für Erwerbstätige beinhaltet das FZA auch Einreise- und Aufenthaltsregelungen für Personen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, wie z. B. für Arbeitssuchende oder Studierende (Anh. I Art. 24 FZA). Nach Anh. I Art. 24 Abs. 4 und Abs. 5 FZA wird Studierenden ein Aufenthaltsrecht für die Dauer ihrer Ausbildung gewährt, wenn diese nicht bereits aufgrund anderer Bestimmungen unter den Schutz des FZA fallen.

 

Neben den Einreise- und Aufenthaltsregelungen beinhaltet das FZA spezielle Gleichbehandlungsgebote für Selbstständige, Arbeitnehmer und Dienstleistungserbringer. Hierunter befindet sich ein steuerlicher Gleichbehandlungsgrundsatz für Arbeitnehmer (Anh. I Art. 9 Abs. 2 FZA) sowie für Selbstständige (Anh. I Art. 15 Abs. 2 FZA). Folglich sind Arbeitnehmer und Selbstständige i. S. d. FZA vor einer steuerlichen Diskriminierung gegenüber Inländern geschützt. Dieses Diskriminierungsverbot entfaltet neben dem Zuzugsstaat ebenfalls gegenüber dem Herkunftsstaat seine Wirkung ‒ auch im Kontext des steuerrechtlichen Gleichbehandlungsgebots i. S. d. FZA (Anh. I Art. 9 und Art. 15 FZA; u. a. EuGH 15.3.18, C-355/16, Picart; EuGH 26.2.19, C-581/17, Wächtler).

 

Das FZA beinhaltet demgegenüber für Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, auch keinen steuerlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Daher ist es fraglich, ob diese Personengruppen einen steuerlichen Diskriminierungsschutz über das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 2 FZA ableiten können (vgl. Häck/Kahlenberg, IStR 19, 258). Inwieweit Arbeitnehmer, Selbstständige, Studierende und andere Personen, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, durch das FZA hinsichtlich der deutschen Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG vor einer steuerlicher Diskriminierung geschützt sind und damit eine Stundung nach § 6 Abs. 5 EStG genießen, soll anhand der folgenden Fallkonstellationen, die teilweise bereits dem EuGH vorlagen, verdeutlicht werden.

3. Die Entscheidungen des EuGH zur Wegzugsbesteuerung und zum Freizügigkeitsabkommen

3.1 EuGH 15.3.18, C-355/16

  • Sachverhalt

Herr P verzog im Jahr 2002 aus Frankreich in die Schweiz, während er wesentliche Beteiligungen an französischen Gesellschaften hielt. Zwar wurde Herrn P eine Stundung der auf die nicht realisierten stillen Reserven festgesetzten Steuer gewährt, allerdings wurde diese nach der tatsächlichen Veräußerung im Jahr 2005 aufgehoben und nachträglich zu seinen Ungunsten neu bewertet. Der Steuerpflichtige brachte vor, die steuerliche Mehrbelastung durch zusätzliche Abgaben und Strafzuschläge i. R. d. Neubewertung behindere ihn in der durch das FZA garantierten Niederlassungsfreiheit und damit darin, in der Schweiz ansässig zu werden. Nach dem Einspruchs- und Klageverfahren legte der Conseil d’Etat dem EuGH die Frage vor, ob das verankerte Niederlassungsrecht für Selbstständige im FZA (Anh. I Art. 12 FZA) wie die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV auszulegen sei.

 

Der EuGH verneinte in seinem Urteil den persönlichen Anwendungsbereich für Selbstständige i. S. d. FZA, da Herr P. beabsichtigte, seine selbstständige Tätigkeit weiterhin in Frankreich auszuüben. Für die Anwendung des Niederlassungsrechts i. S. d. FZA wird die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei vorausgesetzt. Auch eine Anwendbarkeit der Grenzgängerregelung (Ahn. I Art. 13 FZA) schloss der EuGH aus, da der Steuerpflichtige seine selbstständige Tätigkeit in Frankreich ausübte und dabei nicht mindestens einmal die Woche zwischen Wohnort und Tätigkeitsort pendelte. Infolgedessen war Herr P nicht unter den Selbstständigkeitsbegriff i. S. d. FZA zu fassen, weshalb er sich nicht auf das Niederlassungsrecht i. S. d. FZA und das damit verbundene steuerliche Gleichbehandlungsgebot berufen konnte (Anh. I Art. 12 i. V. m. Art. 15 FZA).

 

3.2 EuGH 26.2.19, C-581/17

  • Sachverhalt

Herr W verzog als deutscher Staatsbürger aus dem Inland in die Schweiz. Im Zeitpunkt des Wegzugs war er zu 50 % an einer in der Schweiz ansässigen Kapitalgesellschaft beteiligt und zugleich ihr Geschäftsführer. Das Finanzamt erließ einen Steuerbescheid über den fiktiven Veräußerungsgewinn, ohne dabei einen Aufschub der Steuereinziehung zu gewähren. In der Folge legte das FG Baden-Württemberg dem EuGH die Frage vor, ob eine sofortige Einziehung bei der Besteuerung von nicht realisierten Wertsteigerungen im Zeitpunkt des Wegzugs in die Schweiz mit dem Diskriminierungsverbot des FZA vereinbar sei (FG Baden-Württemberg 14.6.17, 2 K 2413/15, EFG 18, 18).

 

Der EuGH unterscheidet zwischen einer abhängigen (Arbeitnehmer) und selbstständigen Erwerbstätigkeit. Aufgrund der Geschäftsführertätigkeit sowie der wesentlichen Beteiligung (50 %) an der schweizerischen Gesellschaft, fehlt es an einem Unterordnungsverhältnis, wodurch Herr W nicht als Arbeitnehmer, sondern als Selbstständiger nach Anh. I Art. 12 Abs. 1 FZA zu qualifizieren ist. Da Herr W aus Deutschland in die Schweiz verzieht, um dort eine selbstständige Tätigkeit auszuüben, fällt er unter den Schutz des FZA (Anh. I Art. 9 Abs. 2 i. V. m. Art. 15 Abs. 2 FZA). In der Folge ist die einschlägige Rechtsprechung des EuGH zur Wegzugsbesteuerung anzuwenden, weshalb eine sofortige Einziehung der Steuer unverhältnismäßig und eine Stundung gemäß § 6 Abs. 5 AStG zu gewähren ist (so auch Kahlenberg, DStRK 19, 93).

 

Ferner stellt der EuGH in Rs. Wächtler klar: Eine ratierliche Einziehung der Steuer über fünf Jahre, die in Fällen von erheblicher Härte vorgesehen ist (§ 6 Abs. 4 AStG), sei im Ausgangssachverhalt ebenfalls keine geeignete Maßnahme, um eine Beschränkung zu rechtfertigen. Nach dem aktuellen BMF-Schreiben vom 13.11.19 (IV B 5 - S 1325/18/10001 :001) zu urteilen, will die Finanzverwaltung diese Ansicht nicht auf Fälle anwenden, in denen das steuerrechtliche Gleichbehandlungsgebot für Arbeitnehmer (Anh. I Art. 9 Abs. 2 FZA) berührt ist. Stattdessen sei bis zu einer gesetzlichen Änderung des § 6 AStG in diesen Fällen eine ratierliche Stundung auf Auftrag gemäß § 6 Abs. 4 AStG unter Verzinsung nach § 234 AO zu gewähren. Dabei komme es nicht auf das Vorliegen einer erheblichen Härte bei alsbaldiger Einziehung der Steuer an. Zudem soll die ratierliche Stundung ohne Gestellung von Sicherheiten erfolgen, es sei denn, der Steueranspruch erscheint gefährdet.

 

Die Ansicht der Finanzverwaltung ist u. E. nicht aus den Entscheidungsgründen der Rs. Wächtler abzuleiten. Als Argumentationsgrundlage für die Ansicht der Finanzverwaltung kann möglicherweise das EuGH-Urteil in der Rs. Kommission/Portugal (EuGH 21.12.16, C-503/14) dienen. Hierin urteilte der EuGH im Falle einer Entstrickungsvorschrift des portugiesischen Rechts, keine Gründe für eine Unterscheidung zwischen juristischen und natürlichen Personen zu sehen. Folglich könnten künftig die Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung im Bereich der Entstrickungsbesteuerung auch auf natürlich Personen Anwendung finden. Dies führe auch bei natürlichen Personen zu einer ratierlichen Stundung über fünf Jahre samt Verzinsung und im Ausnahmefall unter Gestellung von Sicherheiten (ausführlich dazu Hagemann/Kahlenberg/Höppner/Schuh, FR 19, 427).

 

Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass das Urteil in der Rs. Wächtler dieser Argumentation entgegensteht und eine abweichende Behandlung von natürlichen Personen mit Anteilen an Kapitalgesellschaften vorsieht. Denn eine ratierliche Stundung ist für den Steuerpflichtigen kostspieliger als eine Maßnahme, die die Stundung der geschuldeten Steuer bis zur Veräußerung dieser Gesellschaftsanteile vorsähe. Dies gilt nicht nur für Selbstständige sondern auch für Arbeitnehmer i. S. d. FZA. Denn soweit der Schutzbereich des FZA eröffnet ist, ist dem Steuerpflichtigen nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz ebenso eine Stundung gemäß § 6 Abs. 5 AStG zu gewähren.

 

PRAXISTIPPS |

Um in den Schutzbereich des FZA zu gelangen ist eine Qualifikation als Selbstständiger i. S. d. Anh. I Art. 12 FZA oder als Arbeitnehmer i. S. d. Anh. I Art. 15 FZA notwendig. Ist der persönliche Anwendungsbereich i. S. d. FZA eröffnet, besteht für den Steuerpflichtigen ein steuerlicher Diskriminierungsschutz nach dem FZA. Folglich ist de lege lata eine Stundung der Wegzugsteuer nach § 6 Abs. 5 AStG geboten. Hier ist die abweichende Auffassung der Finanzverwaltung in Fällen von Arbeitnehmern durchaus strittig.

 

Im Lichte des aktuellen BMF-Schreibens könnte ein Bestreben des Gesetzgebers gesehen werden, § 6 AStG im Zuge einer Reform dahin gehend anzupassen, dass den Steuerpflichtigen grundsätzlich nur noch eine ratierliche Stundung gewährt wird. Inwieweit dies dann mit dem Unionsrecht im Einklang steht, ist u. E. noch nicht abschließend geklärt.

 

4. Weitere Fallkonstellationen zum Verhältnis zwischen Wegzugsbesteuerung und Freizügigkeitsabkommen

4.1 Kapitalgesellschaft mit Sitz und Geschäftsleitung in Deutschland

Abweichend zur Rs. Wächtler (C-581/17) könnten der Sitz und die Geschäftsleitung der Kapitalgesellschaft in Deutschland liegen und der Gesellschafter-Geschäftsführer mit deutscher Staatsbürgerschaft von Deutschland in die Schweiz verziehen. Dabei wird der Geschäftsführer zur Vermeidung einer doppelansässigen Kapitalgesellschaft sowie einer Entstrickung auf Ebene der Gesellschaft die Geschäfte der Kapitalgesellschaft stets aus Deutschland führen. Inwieweit ein solch abweichender Sachverhalt hinsichtlich der Wegzugsbesteuerung ebenfalls durch das FZA geschützt ist, wurde vom EuGH bisher nicht entschieden. Jedoch können aus seiner bisherigen Rechtsprechung Lösungsansätze abgeleitet werden:

 

  • In einem solchen Sachverhalt ist mangels Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit im Zuzugsstaat (Schweiz) der Schutzbereich über die Regelungen zu Selbstständigen nach Anh. I Art. 12 i. V. m. Art 15 FZA nicht eröffnet. Denn der Steuerpflichtige verzieht nicht in die Schweiz, um dort eine Tätigkeit aufzunehmen (anders als in der Rs. Wächtler), weshalb er keinen Selbstständigen i. S. d. FZA (Anh. I Art. 12 FZA) darstellt und die Berufung auf das steuerliche Gleichbehandlungsverbot nach Anh. I Art. 15 FZA ins Leere läuft (entsprechend der Rs. Picart). In der Folge des Wegzugs in die Schweiz wäre die festgesetzte Wegzugsteuer ohne Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG an den deutschen Fiskus zu entrichten.

 

  • Jedoch könnte sich der Steuerpflichtige auf die Regelungen zu selbstständigen Grenzgängern i. S. d. FZA berufen (Ahn. I Art. 13 FZA). Hierbei wird die Eigenschaft des Grenzgängers bejaht, soweit der Steuerpflichtige „in der Regel täglich oder mindestens einmal in der Woche an seinen Wohnort zurückkehrt“ (Anh. I Art. 13 Abs. 1 FZA).

 

  • Beachten Sie | Der EuGH hatte in der Rs. Bukovansky (EuGH 19.11.15, C-241/14, BStBl II 17, 238), im Falle eines sogenannten umgekehrten Grenzgängers, über die Schutzwirkung des FZA zu entscheiden. Im Verfahren klagte ein deutscher Staatsbürger, der in die Schweiz verzogen war und weiterhin einer unselbstständigen Tätigkeit in Deutschland nachging. Der Kläger sah einen Verstoß gegen das FZA durch die Regelung der sog. überdachenden Besteuerung nach Art. 4 Abs. 4 DBA Schweiz gegeben. Fraglich war, ob der Kläger als Grenzgänger nach Anh. I Art. 7 FZA zu qualifizieren ist und ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Anh. I Art. 9 FZA vorliegt. Der EuGH bejahte den persönlichen Anwendungsbereich der Grenzgängerregelung, weshalb steuerliche Maßnahmen durch den Herkunftsstaat gegenüber seinen eigenen Staatsangehörigen ebenfalls nicht gegen ein Gleichbehandlungsgebot i. S. d. FZA verstoßen dürfen. Im Ergebnis legt der EuGH den Anwendungsbereich der Grenzgängerregelung für Arbeitnehmer i. S. d. FZA (Anh. I Art. 7 FZA) weiter aus, als der restriktive Wortlaut des FZA dies vermuten lässt und subsumiert umgekehrte Grenzgänger ebenfalls unter diese Regelung.

 

  • Aufgrund der nahezu wortlautidentischen Formulierung der Grenzgängerregelung für Selbstständige (Anh. I Art. 13 FZA) im Vergleich zu Arbeitnehmern sind u. E. die vom EuGH in der Rs. Bukovansky (C-241/14) aufgestellten Grundsätze ebenfalls auf selbstständige Grenzgänger zu übertragen. Dies bedeutet für den oben skizzierten Sachverhalt, dass der Schutzbereich des FZA zu bejahen ist, wenn der Steuerpflichtige regelmäßig von seinem Wohnsitz in der Schweiz nach Deutschland pendelt, um dort die Geschäfte der Kapitalgesellschaft zu leiten. In der Konsequenz ist aufgrund der Grenzgängerregelung im FZA, verbunden mit dem steuerlichen Diskriminierungsverbot, die im Wegzugszeitpunkt festgesetzte Steuer auf einen fingierten Veräußerungsgewinn nach den Regelungen des § 6 Abs. 5 AStG zu stunden. Dabei ist jedoch der geforderte wöchentliche Grenzübertritt des Steuerpflichtigen für Zwecke der Tätigkeitsausübung zu beachten.
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  • Nichts anderes ergibt sich, sofern der Geschäftsführer der deutschen Kapitalgesellschaft nicht als Selbstständiger i. S. d. des FZA qualifiziert wird, sondern als Arbeitnehmer. Diese sind als Grenzgänger ebenfalls durch das FZA geschützt und unterliegen den gleichen Voraussetzungen hinsichtlich des Umfangs des Grenzübertritts (vgl. Anh. I Art. 7 FZA).

 

4.2 Sonderregelung für Familienangehörige und Nichterwerbstätige

Inwieweit Familienangehörige ebenfalls durch das FZA geschützt sind, soll durch folgenden Sachverhalt verdeutlicht werden: Analog zur Rs. Wächtler unterliegt ein Arbeitnehmer mit Anteilen an einer schweizerischen Kapitalgesellschaft bei einem Umzug in die Schweiz dem Schutz des Abkommens, wenn der Zuzug für Zwecke der Aufnahme einer Arbeitnehmertätigkeit erfolgt und zunächst ein Arbeitsverhältnis mit der Mindestdauer von einem Jahr vereinbart wird (Anh. I Art. 6 Abs. 1 i. V. m. Art. 9 Abs. 2 FZA). Folglich wäre die festgesetzte Wegzugsteuer wie auch für einen Selbstständigen i. S. d. FZA nach § 6 Abs. 5 AStG zu stunden. Werden die Kapitalgesellschaftsanteile nun aber nicht vom Arbeitnehmer selbst, sondern von seinem nicht erwerbstätigen Ehepartner gehalten, der aufgrund des Umzugs des Arbeitnehmers ebenfalls in die Schweiz verzieht, ist fraglich, ob dem Ehepartner ebenfalls der Diskriminierungsschutz gewährt wird.

 

Eine Besonderheit im FZA ist die Berücksichtigung von Familienangehörigen. Wer als familienangehörig zu qualifizieren ist, sieht Anh. I Art. 3 FAZ vor. Das sind

  • Ehepartner und die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind oder denen Unterhalt gewährt wird, sowie
  • Verwandte beider Ehepartner in aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird.

 

Das FZA sieht für diese Familienangehörigen einen gleichwertigen Diskriminierungsschutz vor und stellt sogar explizit auf die Gewährung der gleichen steuerlichen Vergünstigungen wie für Arbeitnehmer ab (vgl. Anh. I Art. 9 Abs. 2 FZA). Hier ist eindeutig erkennbar, dass die Vertragsparteien willens sind, eine Beschränkung der Freizügigkeit von Familienangehörigen und in der Folge auch von Arbeitnehmern konsequent zu verhindern. Im Ergebnis sollte u. E. auch für den Ehepartner und alle anderen Familienangehörigen i. S. d. FZA die Stundungsvorschrift nach § 6 Abs. 5 AStG bei einem Wegzug in die Schweiz zu gewähren sein (ebenso Häck/Kahlenberg, IStR 19, 258; abweichend wohl BMF 13.11.19, IV B 5 -S 1325/18/10001 :001). Für Familienangehörige eines Selbstständigen besteht der Diskriminierungsschutz über Anh. I Art. 15 Abs. 2 i. V. m. Art. 9. Abs. 2 FZA analog.

 

Nach dem FZA gelten ebenfalls Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen für Personen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen und nicht als Familienangehörige i. S. d. FZA zu qualifizieren sind (Anh. I Art. 24 FZA). Unter diesen Personenkreis fallen auch Studierende, die für Zwecke der Aufnahme eines Studiums in das Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei verziehen (Anh. I Art. 25 Abs. 4 FZA).

 

Ein spezieller Gleichbehandlungsgrundsatz hinsichtlich steuerlicher Vergünstigungen, wie für Arbeitnehmer und Selbstständige, ist für diesen Personenkreis nach dem FZA allerdings nicht vorgesehen. Es gilt lediglich das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 2 FZA. Der Ansicht, aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot auch ein steuerliches Gleichbehandlungsgebot abzuleiten, erteilte der EuGH eine Absage. In seiner Entscheidung zur Rs. Hengartner und Gasser (EuGH 15.7.10, C-70/09) verneinte der EuGH einen über das Einreise- und Aufenthaltsrecht hinausgehenden Diskriminierungsschutz für Dienstleistungsempfänger, da für diese keine explizite Regelung bzgl. steuerlicher Vergünstigungen im FZA vorgesehen ist (Spies, StuW 17, 51). Der EuGH führt des Weiteren aus, dass das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 2 FZA nicht jede mögliche Form der Ungleichbehandlung verhindern könne.

 

Folglich kann für Personen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, Art. 2 FZA keine spezielle Schutzwirkung im Bereich der Steuern entfalten. Daher ist u. E. Studierenden und ihren nicht erwerbstätigen Familienangehörigen im Falle der Auslösung einer Wegzugsbesteuerung nach § 6 AStG keine Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG zu gewähren. Für diese verbleibt nur die Möglichkeit zur Stundung in Härtefällen nach § 6 Abs. 4 AStG.

 

Beachten Sie | Denkbar wäre jedoch, dass ein in die Schweiz verzogener Studierender dort eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger aufnimmt. Fraglich ist dabei, ob die Aufnahme einer Tätigkeit in Form einer Nebentätigkeit (Studentenjob) die Qualifikation des Studierenden als Arbeitnehmer oder Selbstständiger zur Folge hat. Da Anh. I Art 24 Abs. 4 FZA bei Studierenden explizit den Anwendungsvorrang anderer Bestimmungen des Abkommens bzgl. des Einreise- und Aufenthaltsrechts vorsieht, könnte der Studierende auf diese Weise ebenfalls eine Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG erlangen.

 

FAZIT | Das FZA zwischen der Schweiz und der Europäischen Union soll den Staatsangehörigen beider Vertragsparteien die Freizügigkeit auf Grundlage des AEUV gewähren. Anhand der in den beiden Urteilen Rs. Picart (C-355/16) und Wächtler (C-581/17) aufgestellten Grundsätzen zum Verhältnis zwischen der Wegzugsbesteuerung und dem FZA wurde dargelegt, dass über diese streitgegenständlichen Sachverhalte hinaus der Schutz des FZA eine Stundung nach § 6 Abs. 5 AStG bewirken kann. Dabei ist es eindeutig, dass der EuGH den Grundsatz der steuerlichen Gleichbehandlung sowohl im Zuzugsstaat als auch im Wegzugsstaat anwendet. Eine Stundung von fiktiven Veräußerungsgewinnen auf der Grundlage von § 6 Abs. 5 AStG und damit eine Bewahrung der durch das FZA geschaffenen Freizügigkeit kann für steuerliche Zwecke nur bei Selbstständigen, Arbeitnehmern und deren Familienangehörigen bewirkt werden. Personen, die keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, sind aufgrund des Fehlens eines speziellen Diskriminierungsverbots steuerlich nicht geschützt.

 
Quelle: Seite 345 | ID 46177731