· Fachbeitrag · Heilmittelverordnung
Wann liegt ein langfristiger Heilmittelbedarf vor?
von RA Ralph Jürgen Bährle, Bährle & Partner, Nothweiler, baehrle-partner.de
| Ein langfristiger Heilmittelbedarf liegt vor, wenn gemäß § 8a Abs. 2 ff. Heilmittel-Richtlinie alter Fassung (HeilM-RL a. F.) eine Diagnose gemäß Anlage 2 vorliegt oder die Krankenkasse entscheidet, dass es sich um eine der Schwere nach vergleichbare Erkrankung handelt (Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Urteil vom 02.09.2020, Az. L 9 KR 214/17, Abruf-Nr. 221772 ). Da der langfristige Heilmittelbedarf auch in der seit dem 01.01.2021 gültigen Fassung der HeilM-RL geregelt ist, ist das Urteil teilweise auf die Neufassung übertragbar. |
Heilmittelverordnung bis zum 31.12.2020
Bis zum 31.12.2020 galt für Heilmittelverordnungen ein sog. Drei-Stufen-Schema. Die unterschiedlichen Verordnungen richteten sich dabei nach dem Heilmittelbedarf des Patienten:
- 1. Regelverordnung (Erst- und Folgeverordnung),
- 2. Verordnung außerhalb des Regelfalls, wenn die durch Erst- und Folgeverordnung vorgegebene Gesamtverordnungsmenge überschritten wird (PP 03/2016, Seite 2), teilweise durch die gesetzliche Krankenkasse genehmigungspflichtig sowie
- 3. Langfrist-Heilmittelverordnung (bei langfristigem Heilmittelbedarf des Patienten), bei der gesetzlichen Krankenkasse antragspflichtig (zu den Antragsvoraussetzungen und -unterlagen siehe PP 07/2017, Seite 2; zum Genehmigungsverfahren siehe PP 08/2017, Seite 9).
Rechtsgrundlage für eine Langfrist-Heilmittelverordnung hierfür ist § 8a HeilM-RL a. F. Danach liegt ein langfristiger Heilmittelbedarf vor, wenn
- eine der Diagnosen gemäß Anlage 2 zur HeilM-RL (Diagnoseliste) vorliegt (Abs. 2) oder
- die Krankenkasse auf Antrag entscheidet, dass
- eine Diagnose vorliegt, die nach Art und Schwere mit denen der Anlage 2 HeilM-RL vergleichbar ist (Abs. 3) bzw.
- sich eine Schwere der Schädigung durch die Summe mehrerer einzelner Schädigungen ergibt (Abs. 5).
Der Sachverhalt
Ein gesetzlich Versicherter, der Erwerbsminderungsrente sowie Grundsicherungsleistungen bezog, klagte gegen seine Krankenkasse. Streitig war die Genehmigung eines langfristigen Heilmittelbedarfs im Bereich der Physiotherapie. Der Kläger litt seit Längerem an mehreren muskuloskelettalen, psychischen und neurologischen Erkrankungen (siehe deren Aufzählung unter Randnummer 8 ff. im Urteilstext online unter iww.de/pp, Abruf-Nr. 221772). Zu seiner Krankengeschichte gehörte eine Abhängigkeitserkrankung. Der Kläger befand sich in regelmäßiger psychotherapeutischer und physiotherapeutischer Behandlung. Die Physiotherapiebehandlung hatte zum Ziel, ein chronisch-degeneratives Wirbelsäulensyndrom (M47.26) zu therapieren. Die Behandlung wurde zunächst auf Basis regulärer Verordnungen, später auf Basis von Verordnungen außerhalb des Regelfalls erbracht. Den Antrag des Patienten auf eine Langfristverordnung hatte die Krankenkasse abgelehnt. Begründung: Die Voraussetzungen für einen langfristigen Heilmittelbedarf des Patienten seien nicht gegeben.
Vor Gericht verwies der Patient auf seine prekären Lebensumstände und brachte zahlreiche ärztliche und therapeutische Unterlagen bei, die seine langfristige Behandlungsbedürftigkeit belegen sollten. Der Krankenkasse warf er vor, zu wenig Unterlagen angefordert, den Antrag nicht sorgfältig genug geprüft und den Sozialmedizinischen Dienst (SMD) zu spät eingeschaltet zu haben. Wie auch die Vorinstanz (Sozialgericht [SG] Berlin, Urteil vom 22.03.2017, Az. S 89 KR 1636/16) wies das LSG Berlin-Brandenburg als Berufungsinstanz die Klage ab.
Die Entscheidungsgründe
Das LSG hielt die Berufung für unbegründet. Rechtsgrundlage für die langfristige Heilmittelversorgung sei § 32 Abs. 1a SGB V in der seit dem 23.07.2015 geltenden, hier maßgeblichen Fassung. Dieser gebe dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) auf, die Heilmittelversorgung und insbesondere den langfristigen Heilmittelbedarf in einer Richtlinie ‒ der HeilM-RL ‒ zu regeln. Ein langfristiger Heilmittelbedarf gemäß HeilM-RL liege nicht vor. Das Gericht verwies auf das schon vom SG Berlin dargestellte Drei-Stufen-Schema (s. o). Dieses liefere überzeugende und gesetzeskonforme Lösungen für die unterschiedlichen Versorgungsbedarfe im Heilmittelbereich.
Hinzu komme, dass beim Kläger ein „Katalogleiden“ i. S. d. § 8a Abs. 2 und Anlage 2 der HeilM-RL nicht vorliege. Keine der vom Kläger vorgebrachten Erkrankungen (siehe diese unter Randnr. 56 ff. im Urteilstext) entspreche den dort aufgeführten Diagnosen. Die Richter kamen zum Ergebnis, dass keine schwere dauerhafte funktionelle bzw. strukturelle Schädigung vorliege, die den aufgeführten schweren Erkrankungen nahekomme ‒ auch nicht in der Summe seiner Leiden.
Die vom Kläger benannten weiteren Umstände, wie etwa den Bezug einer vollen unbefristeten Rente wegen Erwerbsminderung oder die „Probleme Budget und Regress“, waren nicht zu berücksichtigen, weil die gesetzlichen Vorgaben in § 32 Abs. 1a SGB V und § 8a HeilM-RL dies nicht vorsehen. Im Übrigen sahen die Richter den Kläger durchgehend mit Leistungen der physikalischen Therapie versorgt. Denn die beklagte Krankenkasse habe die Heilmittelverordnungen außerhalb des Regelfalls nach § 8 Abs. 2 HeilM-RL unbeanstandet gelassen. Offensichtlich habe der Kläger keine praktischen Probleme gehabt, sich solche ärztliche Heilmittelverordnungen regelmäßig zu beschaffen. Zudem sei wegen der Vorgeschichte mit Abhängigkeitserkrankung eine engmaschige ärztliche Betreuung sinnvoll. Eine Langfristverordnung würde solche regelmäßigen Arztbesuche konterkarieren.
Änderungen der HeilM-RL ab 01.01.2021
Zum 01.01.2021 ist die geänderte Fassung der HeilM-RL in Kraft getreten (PP 12/2020, Seite 4 und PP 12/2019, Seite 3). U. a. ist die Unterscheidung zwischen Regelverordnungen und Verordnungen außerhalb des Regelfalls entfallen. Zu jeder Erkrankung, bei der eine Heilmittelbehandlung infrage kommt, legt die HeilM-RL eine orientierende Behandlungsmenge fest.
Reicht die orientierende Behandlungsmenge nicht aus, um das Therapieziel zu erreichen, kann die Heilmittelbehandlung ohne Genehmigung der Krankenkasse fortgesetzt werden. Liegen schwere und dauerhafte funktionelle/strukturelle Schädigungen vor, kann ein langfristiger Heilmittelbedarf anerkannt werden. Die Regelungen dazu im § 8 HeilM-RL sind weitgehend identisch mit denen des § 8a HeilM-RL a. F. Ist die orientierende Behandlungsmenge überschritten, ergibt sich für den verordnenden Arzt folgendes Prüfschema.

Wichtig | Die Antragstellung bei der Krankenkasse ist Sache des Patienten, nicht Ihre Aufgabe als Therapeut. Im Interesse einer guten Patienten-Therapeuten-Beziehung können Sie den Patienten über das Prozedere informieren und ihm das G-BA-Merkblatt empfehlen (online unter iww.de/s4840).