- 1.Gesetzliche Ausgangslage: Anders als § 459 BGB a.F. kennt § 434 BGB keine Bagatellklausel. Der Verkäufer haftet damit grundsätzlich auch für einen „unerheblichen“ Mangel. Wegen Geringfügigkeit ausgeschlossen ist der Käufer nur mit dem Rücktritt (§ 437 Nr. 2, § 323 Abs. 5 S. 2 BGB) und dem großen Schadenersatz (§ 437 Nr. 3, § 281 Abs. 1 S. 3 BGB). Alle übrigen Mängelrechte - Nacherfüllung, Minderung und kleiner Schadenersatz - sind unabhängig von einer Erheblichkeit des Mangels.
- 2.Darlegungs- und Beweislast: Für die tatsächlichen Voraussetzungen der Unerheblichkeit des Mangels (= Pflichtverletzung) trägt der Verkäufer die Darlegungs- und Beweislast (st. Rspr., z.B. OLG Düsseldorf NJW-RR 08, 1199). Argument: Ausschlussgrund. Verkäufer tun gut daran, zur Untermauerung ihres Bagatelleinwands die Kosten der Mängelbeseitigung anhand eines konkreten Kostenvoranschlags zu belegen (nicht Eigen-, sondern Fremdkosten incl. USt.).
- 3.Beurteilungszeitpunkt: Abzustellen ist auf den Zeitpunkt der Rücktrittserklärung (BGH NJW 09, 508). Ein zu diesem Zeitpunkt „erheblicher“ Mangel verliert sein Gewicht nicht durch nachträgliche Ereignisse wie etwa eine provisorische Beseitigung durch den Gerichts-SV (BGH NJW 09, 508). Merke: Der Mangel wird in seiner Erheblichkeit quasi eingefroren. Dass durch spätere Aufklärung (z.B. Gerichtsgutachten) die Ursache geklärt wird und der Aufwand für die Beseitigung des Mangels sich jetzt als verhältnismäßig geringfügig herausstellt, kommt dem Verkäufer nicht zugute (BGH 15.6.11, VIII ZR 139/09, Abruf-Nr. 112197).
- 4.Problemfall Mängelmehrheit: Bei Mehrfachstörungen, typisch für Neuwagenfälle, ist zunächst zu klären, ob es sich, wie häufig bei Elektronikproblemen, um einen sog. Systemmangel handelt (= einheitlicher Mangel). Wenn ja, kann der Käufer Spätsymptome zur Anreicherung des Rücktrittsgrunds heranziehen. Bei einer Mehrheit von Mängeln, die im Zeitpunkt des Rücktritts noch vorhanden sind, stellt sich die Frage: Einzelbetrachtung oder Gesamtschau? Dass mehrere geringfügige Mängel in der Summe erheblich sein können, ist gefestigte OLG-Rspr. (OLG Düsseldorf 18.8.08, I-1 U 238/07, Abruf-Nr. 082879; OLG Köln NJW-RR 11, 61).
- Hinweise: Die Nichtbeseitigung des geringfügigen Erstmangels kann eine zusätzliche Pflichtverletzung darstellen: Verstoß gegen § 439 Abs. 1 BGB. Den später aufgetauchten Zweitmangel bei dem Nachbesserungsversuch des ersten Mangels nicht entdeckt und nicht mitbeseitigt zu haben, kann dem Verkäufer als weitere Pflichtverletzung anzulasten sein. Grds. hat ein Fahrzeugverkäufer indes nicht die Pflicht, bei einem Mängelbeseitigungsversuch zu prüfen, ob weitere, vom Käufer nicht gerügte Mängel vorhanden sind. Liegen jedoch konkrete Anhaltspunkte für einen bisher verborgen gebliebenen Mangel vor, kann das Untätigbleiben pflichtwidrig sein. Konsequenz: Schadenersatz und Verbesserung der Position in der Erheblichkeitsfrage. Im Übrigen ist es dem Käufer unbenommen, wegen des später aufgetauchten Mangels erneut den Rücktritt zu erklären, ggf. nach vorheriger erfolgloser Fristsetzung. In die Erheblichkeitsbeurteilung kann der noch offene Erstmangel einbezogen werden. Ist er beseitigt, fällt er aus der Wertung (BGH VA 11, 127 Tz. 22).
- 5.Bindungs- und Wechselprobleme: Die Gefahr für den Käufer-Anwalt besteht in der grds. Unwiderruflichkeit eines wirksam ausgeübten Gestaltungsrechts wie Rücktritt und Minderung. Ein wegen Geringfügigkeit des Mangels unwirksamer Rücktritt hat dagegen keine Sperrwirkung. Der Käufer kann problemlos umsteigen, z.B. auf Minderung oder den kleinen Schadenersatz. Diese Rechtsbehelfe kann er im Prozess von Anfang an hilfsweise geltend machen. Bei Verschlimmerung des zunächst unerheblichen Mangels wird er mit Überschreiten der Bagatellgrenze nachträglich rücktrittsberechtigt. Wenn der Käufer mit dem Antrag auf Rückzahlung des Kaufpreises weiterverhandelt, gibt er konkludent eine erneute Rücktrittserklärung ab. Bei einer Mehrheit von Mängeln ist es zulässig, nach einer Minderung wegen des geringfügigen Mangels A wegen des nachträglich aufgetauchten erheblichen Mangels B vom Kauf zurückzutreten.
- 6.Grundsatz der Interessenabwägung: Allgemein anerkannt ist die Notwendigkeit einer „umfassenden Interessenabwägung“, wobei es auf die Umstände des Einzelfalls ankommt (BGH VA 10, 92).
- 7.Abwägungskriterien: Da das Gesetz keine Abwägungskriterien nennt und auch die amtl. Begründung unergiebig ist, sind die Gerichte am Zug. Es gelten folgende zehn Regelsätze:
- Regelsatz Nr. 1: Was nach altem Recht unerheblich war, ist es auch nach neuem (BGH NJW 07, 2111 - Spritmehrverbrauch/10 Prozent-Grenze).
- Regelsatz Nr. 2: Bruch einer Beschaffenheitsvereinbarung (§ 434 Abs. 1 S. 1 BGB) = Erheblichkeit (BGH VA 10, 92). Hinweis: Dass ein gebrochenes Garantieversprechen kein „Pipifax“ ist, sagt schon der Gesetzgeber. Der BGH hat diesen Gedanken auf die „einfache“ Beschaffenheitsvereinbarung übertragen. Käufer, die, wie meist, keine Beschaffenheitsgarantie anführen können, sind gut beraten, den Bagatelleinwand mit dem Hinweis auf eine Beschaffenheitsvereinbarung zu kontern (möglichst einer ausdrücklichen, nicht einer stillschweigenden/konkludenten). Eine bloße Wissensmitteilung (z.B. „unfallfrei lt. Vorbes.“) genügt nicht, erst recht nicht eine unrichtige öffentliche Äußerung i.S.d. § 434 Abs. 1 S. 3 BGB, z.B. eine Falschangabe bei autoscout24, die nicht Vertragsinhalt geworden ist (wenn doch, dann Beschaffenheitsvereinbarung, s.o.).
- Regelsatz Nr. 3: Ungeklärter Mangel = erheblicher Mangel. Wenn im Zeitpunkt der Rücktrittserklärung die Ursache der Mangelhaftigkeit trotz mehrfacher vorausgegangener Reparaturversuche im Dunkeln liegt, ist ein solcher Befund regelmäßig als erheblicher Mangel einzustufen (BGH NJW 09, 508; 15. 6.11, VIII ZR 139/09, Abruf-Nr. 112197).
- Regelsatz Nr. 4: Reparaturkosten unter ein Prozent des Kaufpreises = unerheblich. Ein Mängelbeseitigungsaufwand von nur knapp ein Prozent des Kaufpreises liegt klar unterhalb der Bagatellgrenze (BGH NJW 05, 3490), auch bei einem „Luxusfahrzeug“ (BGH VA 11, 127 - Reisemobil für 134 437 EUR). Bei welchem Prozentsatz die Grenze überschritten ist, ob bei 3 oder 5 oder erst bei 10 Prozent (alles wird vertreten), hat der BGH noch nicht entschieden (vgl. VA 11, 127 Tz. 19). Gute Gründe sprechen für die Zehn-Prozent-Grenze (OLG Bamberg DAR 06, 456; Palandt/Grüneberg, BGB, 70. Aufl., § 323 Rn. 32).
- Regelsatz Nr. 5: Nach BGH VA 11, 127 Tz. 21 ist bei behebbaren Mängeln grundsätzlich nur auf die Kosten der Mängelbeseitigung abzustellen, nicht auf das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung. Darauf kommt es nur dann entscheidend an, wenn der Mangel nicht oder nur mit hohen Kosten behebbar oder die Mangelursache im Zeitpunkt des Rücktritts ungeklärt ist (BGH VA 11, 127 Tz. 21). Fälle mit „hohen Kosten“ sind z.B. überhöhter Spritverbrauch oder erhöhter CO2-Wert, wo die Mängelbeseitigung u.U. den Austausch des kompletten Motors verlangt.
- Regelsatz Nr. 6: Die Pflichtverletzung, die in der Lieferung eines Gebrauchtwagens mit dem unbehebbaren Mangel der Eigenschaft als Unfallwagen liegt, ist i.S.v. § 323 Abs. 5 S. 2 BGB unerheblich, wenn sich der Mangel allein in einem merkantilen Minderwert des Fahrzeugs auswirkt und dieser weniger als ein Prozent des Kaufpreises beträgt (BGH NJW 08, 1517). Achtung! Bei Unfallschäden ist in den meisten Fällen eine doppelte Bagatellprüfung erforderlich: 1. Liegt überhaupt ein Mangel vor? Ja, wenn´s ins Blech gegangen ist. 2. Ist im Fall ordnungsgemäßer Instandsetzung die 325er Bagatellgrenze überschritten? Nein, wenn kein merkantiler Minderwert oder unter ein Prozent des Kaufpreises.
- Regelsatz Nr. 7: Geringfügigkeit plus Arglist = Erheblichkeit (BGH NJW 06, 1960). Zu beachten ist, dass bei Bagatellmängeln Arglist häufig aus tatsächlichen Gründen nicht feststellbar ist.
- Regelsatz Nr. 8: Ein unbehebbarer Mangel (z.B. Unfallwageneigenschaft, zu hohe Gesamtfahrleistung, Überalterung) ist nicht per se erheblich (BGH NJW 08, 1517).
- Regelsatz Nr. 9 (Instanzgerichte): Beim Kauf neuer Pkw/Kombis/SUVs liegt die Bagatellschwelle tendenziell niedriger als bei Gebrauchtfahrzeugen (OLG Düsseldorf 18.8.08, I-1 U 238/07, Abruf-Nr. 082879; OLG Köln VRR 08, 228).
- Regelsatz Nr. 10 (Instanzgerichte): Zum „Aufpeppen“ eines Mangels können auch Begleitumstände der Nachbesserung diesseits der Vertragsverletzung dienen (Inkompetenz u.Ä.), vgl. OLG Naumburg OLGR 07, 815.
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