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  • · Fachbeitrag · Unionsrecht

    Entstrickungsbesteuerung bei Überführung von Wirtschaftsgütern unionsrechtskonform

    von Univ.-Prof. Dr. Stephan Kudert und M.Sc. Christian Kahlenberg, beide Frankfurt (Oder)

    Im Spannungsfeld zwischen nationaler Gesetzgebung und Unionsrecht zählen die Entstrickungsregelungen der Mitgliedstaaten wohl zu den wichtigsten Themen. Dies gilt vor allem, weil Entstrickungsregelungen insbesondere das Motiv der Sicherung von Steueraufkommen zugrunde liegt. Sie sind deshalb für die nationalen Fisken von besonderem Interesse. Gleichzeitig können sie für die Steuerpflichtigen erhebliche Liquiditätsprobleme auslösen. Es überrascht daher kaum, dass die einzelstaatlichen Regelungen regelmäßig auf den unionsrechtlichen Prüfstand gehoben werden. So hatte der EuGH auch jüngst darüber zu befinden, ob die deutsche Entstrickungsregelung in § 4 Abs. 1 S. 3 f. EStG mit dem Unionsrecht vereinbar ist (EuGH 21.5.15, C-657/13, DStR 15, 1166).

     

    Sachverhalt

    Die inländische Verder LabTec KG (Klägerin) befasste sich seit Mai 2005 ausschließlich mit der Verwaltung eigener Patent-, Marken- und Gebrauchsmusterrechte und übertrug diese auf ihre in den Niederlanden belegene Betriebsstätte. Das Finanzamt forderte daraufhin im Rahmen der Betriebsprüfung die Auflösung der stillen Reserven im Zeitpunkt der Überführung. Die Bewertung der stillen Reserven erfolgte - unbestritten - zum Fremdvergleichspreis. Diese sollte sodann der Besteuerung unterworfen werden. Um Liquiditätshärten zu vermeiden, wurde als Billigkeitsmaßnahme die Bildung eines Ausgleichspostens gewährt, der über einen Zeitraum von zehn Jahren gewinnerhöhend aufzulösen sei. Dem erfolglosen Einspruch gegen diese Form der Steuerentstrickung folgte die Klage. Als Begründung führte die Verder LabTec KG die Unverhältnismäßigkeit der zeitlich vorgezogenen Auflösung der stillen Reserven gegenüber einer Besteuerung im Realisierungszeitpunkt an. Die Vorinstanz (FG Düsseldorf 5.12.13, 8 K 3664/11 F) legte dem EuGH daraufhin die Frage vor, ob die in § 4 Abs. 1 S. 3 f. EStG statuierte Steuerentstrickung bei Überführung von Wirtschaftsgütern einer in Deutschland ansässigen Gesellschaft in eine EU-Betriebsstätte einen Verstoß gegen die unionsrechtlich verbürgte Niederlassungsfreiheit darstellt.

     

    Anmerkungen

    Für die Vorlagefrage war die Verletzung der Niederlassungsfreiheit zu prüfen. Art. 49 AEUV umfasst auch die Verlagerung von Tätigkeiten einer Gesellschaft eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat. Dabei ist die Niederlassungsfreiheit unabhängig davon anwendbar, ob die betreffende Gesellschaft ihren Sitz oder ihre tatsächliche Geschäftsleitung verlegt oder Wirtschaftsgüter in einen anderen Mitgliedstaat überführt.

     

    Sofern die Überführung von Wirtschaftsgütern dazu führt, dass der Mitgliedstaat des Überführenden die Steuerhoheit über die hierin enthaltenen stillen Reserven verliert und daher eine sofortige Besteuerung der stillen Reserven anordnet, ist diese Maßnahme zur Beschränkung der Niederlassungsfreiheit geeignet (vgl. EuGH 18.7.13, C-261/11, Kommission/Dänemark m.w.N.).

     

    MERKE | Nach § 4 Abs. 1 S. 3 u. 4 EStG wird die Besteuerung stiller Reserven angeordnet, wenn das deutsche Besteuerungsrecht ausgeschlossen oder beschränkt wird. Durch die Überführung in die niederländische Betriebsstätte wurde Deutschland die Besteuerungsbefugnis entzogen, weil die Gewinne aus den Wirtschaftsgütern nach deren Überführung in Deutschland unter Progressionsvorbehalt freizustellen sind.

     

    Die Ungleichbehandlung mit einem Steuerinländer kam dadurch zum Ausdruck, dass bei rein innerstaatlichen Überführungsvorgängen die Aufdeckung der stillen Reserven unterbleibt, weshalb der grenzüberschreitende Sachverhalt mit Liquiditätsnachteilen verbunden ist. Auch bietet der inländische Überführungsvorgang das objektive Vergleichspaar (vgl. EuGH 16.4.15, C-591/13, Kommission/Deutschland, DStR 15, 870, m.w.N.). Folglich war von einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit auszugehen, die aber durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann, wenn die Maßnahme verhältnismäßig ausgestaltet ist.

     

    Beachten Sie | In den jüngst zu Steuerentstrickungsvorschriften ergangenen Entscheidungen wurde regelmäßig die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse als denkbarer Rechtfertigungsgrund vorgebracht (vgl. EuGH 16.4.15, C-591/13, Kommission/Deutschland; EuGH 23.1.14, C-164/12, DMC, DStR 14, 193; EuGH 29.11.11, C-371/10, National Grid Indus, DStR 11, 2334).

     

    Auch vorliegend wurde allein dieser Rechtfertigungsgrund einer gründlichen Prüfung unterzogen. Zwar äußerte der EuGH hiergegen zunächst Zweifel, kam letztlich aber zu dem Schluss, dass die Besteuerung der bis hierhin entstandenen stillen Reserven zur Sicherung des Besteuerungszugriffs durchaus haltbar sei (vgl. EuGH 23.1.14, C-164/12, DMC). Die anschließende Wertentwicklung ist demgegenüber nur Sache des Aufnahmestaats. Etwas anderes wird durch die in Rede stehende Regelung auch nicht bewirkt.

     

    Abschließend war noch die Verhältnismäßigkeit der Vorschrift zu prüfen. In diesem Zusammenhang konstatierte der EuGH, dass das Wahlrecht zwischen sofortiger Besteuerung und einem Aufschub der Steuerzahlung ausreiche, um die Verhältnismäßigkeit zu wahren (vgl. EuGH 29.11.11, C-371/10, National Grid Indus).

     

    Hinweis | Für das Streitjahr 2005 mangelte es (noch) an einer gesetzlichen Regelung zur Steuerstundung. Auf dem Billigkeitswege wurde jedoch eine ratierliche Verteilung der zu entrichtenden Steuer auf zehn Jahre gewährt (vgl. BMF 24.12.99, IV B 4 - S 1300 - 111/99, BStBl I 99, 1076, Tz. 2.6.1).

     

    Vorliegend ging die aufgeschobene Steuerzahlung über einen Zehn-Jahreszeitraum sogar über das hinaus, was der EuGH in einer vorangegangen Entscheidung als verhältnismäßig erachtete. In der Rs. DMC genügte bereits ein Stundungszeitraum von nur fünf Jahren zum Attest der Verhältnismäßigkeit. Nach alledem war daher zu konstatieren, dass die deutsche Entstrickungsregel in § 4 Abs. 1 S. 3 f. EStG im Einklang mit der unionsrechtlich verbürgten Niederlassungsfreiheit steht.

     

    Praxishinweise

    In dem Urteil war allein fraglich, ob § 4 Abs. 1 S. 3 f. EStG den unionsrechtlichen Anforderungen gerecht wird. Dabei wurde die Entstrickungsbesteuerung dem Grunde nach zwar abgesegnet, doch solcherart Regelungen sind stets daraufhin zu überprüfen, ob sie auch verhältnismäßig ausgestaltet sind. Dies galt für den Streitfall aufgrund der billigkeitsweise gewährten Steuerstundung über zehn Jahre, die unterdessen mit Einführung des § 4g EStG auf fünf Jahre verkürzt wurde. Gleichwohl lässt der EuGH, in Anlehnung an die Entscheidung in der Rs. DMC (vgl. EuGH 23.1.14, C-164/12, DMC) durchblicken, dass auch dieser verkürzte Stundungszeitraum ausreichend erscheint.

     

    Beachten Sie | Aus Beratersicht dürfte dieser Hinweis bedauerlich erscheinen, wenn man sich vor Augen führt, dass Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens einen erheblich größeren Amortisationszeitraum aufweisen können, als die ausgewiesenen fünf Jahre. Mithin dürfte es in solchen Fällen zu erheblichen Liquiditätsnachteilen kommen. Den Hoffnungen der Beraterschaft, dass die in der Rs. DMC aufgestellten Grundsätze nicht auf andere Normen zwangsläufig übertragbar sind und diese Entscheidung vielmehr als „Fehltritt“ des Gerichtshofs interpretiert werden könnte (vgl. mit Zweifeln Linn, IStR 14, 140; Müller, ISR 14, 138 f.), wurde mit der hier besprochenen Entscheidung eine deutliche Absage erteilt (weiterhin kritisch Kahle/Beinert, FR 15, 585 ff.).

     

    Gleichwohl sollte dadurch nicht zwangsläufig auf eine unionskonforme Ausgestaltung des § 4g EStG geschlossen werden. Denn die Vorschrift wurde lediglich für die Beurteilung einer verhältnismäßigen Ausgestaltung des § 4 Abs. 1 S. 3 f. EStG mitgeprüft. Weiterhin europarechtlich problematisch ist, dass § 4g EStG lediglich unbeschränkt Steuerpflichtigen die Bildung eines Ausgleichspostens ermöglicht. Allein dadurch drängt sich die Frage auf, ob es nicht aus unionsrechtlicher Sicht geboten wäre, auch beschränkt Steuerpflichtigen eine entsprechende Ausgleichspostenbildung zu ermöglichen (vgl. mit diesbezüglichen Bedenken Crezelius in: Kirchhof § 4g, Rz. 11; Schnitger, ifst-Schrift Nr. 487, S. 77 m.w.N.).

     

    Darüber hinaus ist die Regelung nur bei Überführung von Wirtschaftsgütern vom inländischen Stammhaus in eine ausländische Betriebsstätte und nicht für den umgekehrten Fall tatbestandlich einschlägig, nämlich wenn die Überführung von der inländischen Betriebsstätte in das ausländische Stammhaus erfolgt. Mithin bleibt festzuhalten, dass der EuGH allein die Stundungsdauer als europarechtskompatibel erachtete und keinesfalls § 4g EStG insgesamt. Diese Bedenken kann man freilich nicht unmittelbar auf den auf die Betriebsverlegung ausgerichteten § 36 Abs. 5 EStG übertragen, weil der dort konstituierte Anwendungsbereich deutlich weiter gefasst ist (vgl. A. Schnitger, ifst-Schrift Nr. 487, 45 ff.; zu den Differenzen auch Sydow, DB 14, 269 f.).

     

    Achtung | Der EuGH hat mit der vorliegenden Entscheidung einmal mehr bestätigt, dass bei drohendem Verlust der Steuerhoheit ein vorgezogener Besteuerungstatbestand durchaus anerkannt wird und für eine verhältnismäßige Regelungsausgestaltung eine pauschalierende Steuerverteilung genügt. Dabei ist für die Auslösung des „Besteuerungstatbestands“ der tatsächliche Realisationszeitpunkt vollkommen irrelevant. Insoweit bestätigt der EuGH die Abkehr seiner zunächst eingeschlagenen Rechtsprechungsrichtlinie, wonach die Steuerstundung durchaus bis zur tatsächlichen Realisation verhältniswahrend war (vgl. EuGH 29.11.11, C-371/10, National Grid Indus, Tz. 68). Hiervon wurde ausnahmsweise abgewichen, sofern es sich um die Verbringung von Einzelwirtschaftsgütern handelte (vgl. EuGH 18.7.13, C-261/11, Kommission/Dänemark). Von diesem Grundsatz scheint sich der Gerichtshof aber nunmehr endgültig trennen zu wollen.

     

    Schließlich ist noch anzumerken, dass der EuGH im vorliegenden Streitfall die Niederlassungsfreiheit als einschlägige Grundfreiheit ansah. Dies ist insofern relevant, als die Entscheidungsgründe folglich auch nur für binnenmarktinterne Vorgänge heranzuziehen sind. In der Rs. DMC wurde noch eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit erkannt und mithin erschien auch eine Projektion der Grundsätze auf Drittstaatensachverhalte möglich. Einer fundierten Begründung nahm sich der EuGH jedoch nicht an. Nunmehr folgt der Gerichtshof aber der Auffassung, dass bei Entstrickungsregelungen, wenngleich sie nicht eine „Beherrschung“ oder „Kontrolle“ fordern, die Niederlassungsfreiheit als Grundfreiheit durchschlägt (vgl. zuletzt auch zur Übertragung von Einzelwirtschaftsgütern EuGH 16.4.15, C-591/13, Kommission/Deutschland).

     

    FAZIT | Aus der hier besprochenen Entscheidung folgt kein unmittelbarer Handlungsdruck für den deutschen Gesetzgeber. Gleichwohl ist eine europarechtskonforme Normenerweiterung des § 4g EStG zu überdenken. Zukünftige Gesetzesanpassungen, die durch das Unionsrecht bedingt werden, sind daher nicht ausgeschlossen.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Zur Rechtssache National Grid Indus BV - Wohin führt der Weg der Entstrickungsbesteuerung? s. auch Kessler/Philipp/Eicke PIStB 12, 67.
    • Zu „Entstrickungsbesteuerung und EU-Recht“ s. Wilke, PIStB 14, 122.
    Quelle: Ausgabe 08 / 2015 | Seite 209 | ID 43448066