· Fachbeitrag · Technische Hilfsmittel
Krankenkassen müssen teure Hörgeräte zahlen
von Christian Noe, Leipzig
| Hörbehinderte benötigen oft besonders leistungsfähige Hörgeräte. Seit dem 1.11.13 gelten zudem neue Festbeträge für die Kassenzuschüsse. Das SG Aachen hat entschieden, wann Versicherte einen Anspruch auf teurere Geräte haben und was bei Antragstellung und Selbstbeschaffung des Hörgeräts zu beachten ist SG Aachen, 20.4.15, S 11 SF 11/15 E, Abruf-Nr. 145311 . |
1. Der Fall des SG Aachen
Strittig zwischen den Parteien war die Übernahme von Mehrkosten für ein beidseitiges Hörgerät in Höhe von 2.886 EUR. Der Kläger (Sozialpädagoge) leidet an einer hochgradigen, beidseitigen Innenohrschwerhörigkeit und wird seit seiner Kindheit vom demselben Hörgeräteakustikunternehmen betreut.
PRAXISHINWEIS | Die Krankenkassen zahlen im Rahmen von Versorgungsverträgen einen so genannten Festbetrag für ein Hörgerät. Dieser beträgt seit der letzten Anpassung zum 1.11.13 (ausgenommen für an Taubheit grenzend schwerhörige Versicherte) 733,59 EUR. Bei beidseitiger Hörgeräte-Versorgung wird ein Abschlag für das zweite Gerät vorgenommen (146,72 EUR). Hörgeräte, deren Kosten die Festbeträge übersteigen, sind so genannte „Zuzahlungsgeräte“. |
Seit Oktober 2013 erprobte der Kläger privat und beruflich ein Festbetragsgerät sowie das Zuzahlungsgerät Phonak Naida Q 70 SP. Sein HNO-Arzt verordnete am 26.11.13 eine Neuversorgung des Klägers und bescheinigte, dass das vorgeschlagene Phonak-Modell zweckmäßig sei. Die Beklagte (Krankenkasse) gab eine Kostenzusage in Höhe der Vertragspreise, während der Kläger noch weitere Modelle testete und die beiden Probegeräte weiter angepasst wurden (Einstellungen entsprechend dem individuellen Hörverlust).
Am 9.1.14 ging bei der Beklagten eine Versorgungsanzeige des Hörgeräteunternehmens ein. Am 1.3.14 stellte der Kläger bei der Beklagten einen Antrag auf vollständige Kostenübernahme für ein bedarfsgerechtes Gerät. Unter Hinweis auf seine massive Hörverschlechterung und das mit den Festpreis-Geräten kein ausreichendes Verstehen in Gruppen und größeren Räumen möglich sei, hätte nur das Modell Phonak Naida Q 70 SP befriedigende Ergebnisse erbracht. Der Kläger fügte neben der ärztlichen Verordnung Hörprotokolle, Messergebnisse der erprobten Hörgeräte sowie Kostenvoranschläge bei. Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme ab. Der Kläger legte Widerspruch ein und teilte im weiteren Verlauf mit, dass er sich die Geräte selbst beschaffen wolle. Die Rechnung des Hörgeräteunternehmens über 2.906 EUR legte er vor. Mit Widerspruchsbescheid vom 13.11.14 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Hiergegen erhob der Kläger Klage und beantragte die vollständige Kostenübernahme für das Phonak-Zuzahlungsgerät in Höhe von 2.886 EUR.
2. Die Entscheidung des SG Aachen
Das Gericht gab der Klageforderung vollumfänglich statt. Bereits in der Versorgungsanzeige/Übermittlung des Kostenvoranschlages des Leistungserbringers ist gleichzeitig ein Antrag des Versicherten i.S. des § 19 S. 1 SGB IV zu sehen. Es sind nicht zwei verschiedene Anträge notwendig (Bewilligung sowohl eines Festpreis-, als auch eines Zusatzgeräts). Daher gilt der einheitliche Leistungsantrag mit Eingang der Versorgungsanzeige vom 9.1.14 bei der Beklagten als gestellt. Die Beklagte erklärte am 14.1.14 ihre Kostenzusage für ein Festpreisgerät und lehnte damit darüber hinausgehende Kostenübernahmen ab. Erst danach entschloss sich der Kläger für den Kauf eines Zuzahlungsgeräts. Damit hatte die Beklagte Gelegenheit, den Antrag auf Komplettversorgung zu prüfen.
Nach § 33 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen. Diese dienen dem unmittelbaren Behinderungsausgleich, wobei aktuelle medizinische und technische Fortschritte zu berücksichtigen sind.
PRAXISHINWEIS | Die Hörgeräte-Entwicklung ist in den vergangenen Jahren stark vorangeschritten. Die Miniaturisierung der Modelle sowie die komplexen Funktionen digitaler Hörgeräte (automatische Anpassung an individuelle Geräuschsituationen) bedeuten starke Entwicklungssprünge und Verbesserungen für Nutzer. Krankenkassen würden den Versorgungsanspruch verkennen, wenn sie nur Geräte für Einzelgesprächsverständigung bezahlen und den Stand der Hörgerätetechnik außer Acht lassen (BSG 17.12.09, B 3 KR 20/08 R; 24.1.13, B 3 KR 5/12 R). |
Zwar haben die Krankenkassen das Wirtschaftlichkeitsgebot zu berücksichtigen (§ 12 Abs. 1 SGB V), nachdem Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen. Allerdings ist der Versicherte aufgrund der Schwere seiner Behinderung (hochgradige Innenohrschwerhörigkeit) und aus beruflichen Gründen auf ein besonders leistungsfähiges Gerät angewiesen. Er muss in der Lage sein, berufliche Telefonate zu führen, an Dienstbesprechungen teilzunehmen und insbesondere beidseitig telefonieren zu können. Das bedeutet, dass die Sprache aus dem Hörer über ein Mikrofon auf beide Ohren übertragen wird. Das Phonak-Modell verfügt über besondere Ausstattungsmerkmale bei der Störgeräuscheunterdrückung, die eben nicht nur dem Komfort, sondern einem subjektiv besseren Ausgleich des Hörverlusts dienen. Es liegt ein echter Gebrauchsvorteil vor, der die Krankenkasse verpflichtet, die vollständigen Kosten für die beidseitigen Hörgeräte zu übernehmen.
3. Hörgeräte testen bedeutet keine Selbstbeschaffung
Die Selbstbeschaffung einer Leistung der Krankenversicherung kann Probleme mit sich bringen. Der zuständigen Kostenträger muss die Möglichkeit haben, sich mit dem Antrag zu beschäftigen und über ihn zu entscheiden. Darüber hinaus muss eine angemessene Frist mit der Erklärung gesetzt werden, sich die Leistung nach Fristablauf selbst zu beschaffen. Wird beispielsweise eine Reha-Maßnahme angetreten und erst danach ein Kostenübernahmeantrag gestellt, kann der Kostenträger die Kostenübernahme ablehnen (LSG Hessen 24.6.15, L 5 R 418/14, Abruf-Nr. 145057).
PRAXISHINWEIS | Nicht endgültig bindende Auswahlentscheidungen, die notwendig sind, sind noch keine Selbstbeschaffung. So können ein oder mehrere Hörgeräte in verschiedenen Lebenssituationen bzw. über bestimmte Zeiträume ausprobiert werden (privat, Berufsalltag, Gesprächssituationen). Das Gerät wird technisch weiter angepasst, bei Bedarf werden geeignetere Modelle gesucht. |
Die Selbstbeschaffung geschah nach Meinung des SG durch die im Juni 2014 erfolgte verbindliche Kaufentscheidung, also nach der Leistungsablehnung der Beklagten (Bescheid vom 15.4.14). Entsprechend wurde auch die Rechnung für das Hörgerät erst am 16.6.14 erstellt. Auch das BSG hat ausgeführt, dass die Kostenbelastung des Versicherten wesentlich darauf beruhen muss, dass die Krankenkasse die beantragte Leistung ablehnt. Dann ist ein Freistellungsanspruch (hier: Mehrkosten des Hörgeräts) begründet (17.12.09, B 3 KR 20/08 R).
Checkliste / Hinweise für Prozessführung und Beratungsangebote |
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Weiterführende Hinweise
- Verspäteter Kostenübernahmeantrag bei selbstbeschaffter Reha-Maßnahme, SR 15, 138
- Technologien und Eingabehilfen für eingeschränkte Mandanten, SR 14, 3
- Hörgerät verloren - zahlt die Krankenkasse ein Ersatzgerät? (ogy.de/iuxr)