24.07.2008 | Erwerbsschaden
Die 12 wichtigsten Punkte zur Erfassung und Durchsetzung des Erwerbsschadens
„Was hätte aus dem Jungen noch alles werden können!?“ – so die häufige Wehklage von Angehörigen, wenn die berufliche Karriere infolge unfallbedingter Verletzungen früh verändert oder gar verbaut worden ist. Bei der Ermittlung und dem Nachweis des Erwerbsschadens steht der Rechtsanwalt vor der Frage, wie er den Schwierigkeiten bei der Prognose der zukünftigen beruflichen Entwicklung des Geschädigten optimal begegnen kann. Weitere erhebliche Streitpunkte über eine zutreffende Berechnung bieten der Umfang von Schadensminderungspflichten und des Vorteilsausgleichs. Bei den einzelnen Fallgruppen (Arbeitnehmer, Beamte, Selbstständige, Arbeitslose, Schüler) sind jeweils Besonderheiten zu beachten. Der Überblick zeigt, worauf Sie besonders achten müssen.
Checkliste: Erfassung und Durchsetzung des Erwerbsschadens | ||||||||||||||||||||||||||||||
1. Vermögensschaden: Voraussetzung für einen gem. §§ 249 ff., §§ 842, 843 BGB, § 11 StVG, § 6 HaftpflG, § 36 LuftVG ersatzpflichtigen Erwerbsschaden ist, dass sich die Beeinträchtigung bzw. der Wegfall der Arbeitskraft tatsächlich in einem Vermögensschaden niederschlägt (BGH NZV 95, 183). Zu ersetzen sind aber nicht etwa nur der vereinbarte Lohn, sondern alle wirtschaftlichen Nachteile, die im Zusammenhang mit der Beeinträchtigung der Arbeitskraft entstehen.
2. Ersatzfähige Positionen (Beispiele):
3. Nicht ersatzfähige Positionen (Beispiele):
Praxishinweis: Auf den Schaden sind häufig Ersatzleistungen der Sozialversicherungsträger anzurechnen, die i.d.R. mit einer Legalzession (§ 116 SGB X, § 67 VVG) verbunden sind (insoweit also keine Aktivlegitimation des Geschädigten). Beispiele: Krankengeld, Verletztengeld und Verletztenrente, Übergangsgeld, Erwerbsminderungsrente, zum Teil Sozialversicherungsbeiträge; bei Arbeitnehmern ist der Anspruchsübergang (und das Quotenvorrecht) gem. § 6 EFZG zu berücksichtigen (hierzu Diehl, zfs 07, 543), bei Beamten etwa gem. § 87a BBG.
4. MdE: Die von dem Arzt/Sachverständigen festgestellte – prozentuale – Minderung der Arbeitskraft belegt nicht zwangsläufig einen entsprechenden finanziellen Nachteil (BGH VersR 78, 1170). Der Geschädigte muss daher die Auswirkungen der MdE auf sein Erwerbseinkommen konkret darlegen und nachweisen. Das gilt verstärkt bei einer MdE bis zu 20 Prozent, weil i.d.R. ansonsten davon ausgegangen wird, dass es an einer messbaren Einbuße fehlt (OLG Nürnberg VersR 68, 359).
5. Prognose: Welche wahrscheinliche berufliche Entwicklung der Geschädigte ohne den Unfall genommen hätte und welches Erwerbseinkommen er in diesem Fall erzielt hätte, bemisst sich nach § 287 ZPO (i.V.m. § 252 BGB). Zum Nachweis genügt bereits eine erhebliche/höhere Wahrscheinlichkeit. Obwohl grundsätzlich Schwierigkeiten bei der Prognose zulasten des Schädigers gehen, weil er für die schwierige Nachweissituation verantwortlich ist (BGH VersR 00, 233) und die Anforderungen an die Darlegungslast deshalb nicht strapaziert werden dürfen, muss der Geschädigte jedoch zur Ermöglichung der Schadensschätzung alle ihm möglichen relevanten Tatsachen und Anknüpfungspunkte vortragen und unter Beweis stellen (BGH VersR 95, 422).
Prognoseregeln:
6. Verzögerter / verhinderter Eintritt in das Erwerbsleben: Bei Kindern, Schülern, Studenten muss der Schädiger alle Nachteile ausgleichen, die aus dem verzögerten oder verhinderten Berufseinstieg entstehen (BGH VersR 85, 62). Die Prognose, welchen Beruf mit welchem Erwerbseinkommen der Verletzte wahrscheinlich ergriffen hätte, ist umso schwieriger, je jünger der Verletzte und je weniger weit er in seiner bisherigen Berufsausbildung fortgeschritten ist.
Beispiele:
I.d.R. ist davon auszugehen, dass es einem jungen Menschen jedenfalls gelungen wäre, den Einstieg in das Berufsleben zu finden und ein gewisses Einkommen zu erzielen (BGH VersR 98, 772). Anknüpfungspunkte für die Berufs- und Einkommensprognose:
7. Einsatz verbliebener Arbeitskraft: Der Verletzte muss gemäß § 254 Abs. 2 BGB seine verbliebene Arbeitskraft – in den Grenzen der Zumutbarkeit und der gegebenen Möglichkeiten – zur Minderung des Schadens einsetzen (BGH NJW 98, 3706). Hierbei ist ein mögliches – fiktives – Einkommen zu schätzen und auf den Erwerbsschaden anzurechnen, nicht etwa der Anspruch quotenmäßig zu kürzen (BGH NJW 07, 64). Wichtig ist die Beachtung der wechselseitigen Darlegungs- und Beweislast beim Schädiger und Geschädigten (BGH NJW 79, 2142):
8. Zumutbarkeit: Die Zumutbarkeit für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch den Geschädigten bestimmt sich nach dessen Persönlichkeit, sozialer Lage, bisherigem Lebenskreis, Begabung und Anlagen, Bildungsgang, Kenntnissen und Fähigkeiten, bisheriger Erwerbsstellung, gesundheitlichen Verhältnissen, Alter, seelischer und körperlicher Anpassungsfähigkeit, Umstellungsfähigkeit, Art und Schwere der Unfallfolgen, Familie und Wohnort (vgl. BGH VersR 74, 142; NZV 94, 63; 07, 29). Wohnsitzwechsel (im Inland) und längere Fahrtzeiten (BGH NJW 98, 3706) sind nicht generell unzumutbar. Dabei ist zu beachten:
9. Umschulung: Der Geschädigte ist grundsätzlich verpflichtet, an einer Umschulung teilzunehmen, wenn er unfallbedingt in dem erlernten Beruf nicht mehr arbeiten kann und zu erwarten ist, dass die erfolgreiche Umschulung nutzbringend umgesetzt werden kann (BGH NZV 91, 265). Die Einleitung dieser Maßnahmen liegt im Regelfall bei den Rehabilitationsträgern (Sozialversicherungsträger, Bundesagentur für Arbeit), deren Kosten dann vom Schädiger zu erstatten sind.
10. Operationen und Medikamente: Zur Verbesserung seiner Arbeitsfähigkeit kann der Geschädigte verpflichtet sein, sich medizinischen Eingriffen zu unterziehen (BGH VersR 89, 635; OLG Frankfurt r+s 06, 164: Fusion von Wirbelkörpern; NZV 93, 472). Die operativen Eingriffe müssen ihm zumutbar sein. Hierzu genügt nicht, wenn der Arzt den Eingriff für empfehlenswert hält. Die Operation muss – was selten sein dürfte – einfach und gefahrlos sein, keine besonderen Schmerzen bereiten und eine sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Besserung bieten (BGH r+s 94, 217; VersR 87, 408; OLG Düsseldorf VersR 75, 1031). Bei dauerhafter Medikation wird auf die erkennbaren Risiken (Nebenwirkungen) abzustellen sein.
11. Anrechnung von Vorteilen: Der Geschädigte soll nicht besser gestellt werden, als er ohne den Unfall stehen würde (BGH NZV 90, 225). Außer Betracht bleiben dabei Leistungen regressberechtigter Dritter (z.B. § 6 EFZG) sowie Einkommen aus überobligationsmäßiger Anstrengung. Erspart werden aber häufig berufsbedingte Aufwendungen; die Rechtsprechung arbeitet dabei nach § 287 ZPO gern mit Quoten im Bereich von 5 bis 10 Prozent des Nettoeinkommens (OLG Celle SP 06, 96; OLG Naumburg SP 99, 90; LG Tübingen ZfS 92, 82).
Beispiele:
12. Dauer der Ersatzpflicht: Die Ersatzpflicht ist auf den Zeitpunkt begrenzt, zu dem die Erwerbstätigkeit des Geschädigten auch ohne den Unfall geendet hätte. Sind insoweit keine Besonderheiten in der Person oder den Lebensumständen des Geschädigten zu entdecken, ist bei abhängig Beschäftigten regelmäßig das vom Gesetzgeber vorgesehene Ende des Erwerbslebens (nur in Ausnahmefällen: das statistisch durchschnittliche Ausscheiden) zugrunde zu legen (BGH VersR 95, 1447).
Bei Arbeitnehmern wie bei Beamten und Richtern daher bis zum 65. (zunehmend des 67.) Lebensjahres, bei Soldaten und Polizisten bis zum 41. (bis 59.) bzw. 60. Lebensjahr, bei Schwerbehinderten bis zum 63. Lebensjahr; Haushaltsführungsschaden i.d.R. bis zum 75. Lebensjahr (VA 08, 45). Bei Selbstständigen sind die Umstände des Einzelfalls maßgeblich (mutmaßliche Leistungsbereitschaft des Geschädigten, seine in der Vergangenheit zum Ausdruck gekommene Zukunftsplanung, die Anforderungen der konkreten Tätigkeit an die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, wirtschaftliche Lage des Geschädigten). |