01.02.2006 | Haftpflichtprozess
Wichtiges BGH-Urteil zum Sachverständigenbeweis
Eine Partei ist auch außerhalb des Arzthaftungsprozesses grundsätzlich nicht verpflichtet, Einwendungen gegen ein Gerichtsgutachten bereits in erster Instanz auf ein Privatgutachten oder auf sachverständigen Rat zu stützen, wenn ihr Vortrag fachspezifische Fragen betrifft und eine besondere Sachkunde erfordert (BGH 18.10.05, VI ZR 270/04, Abruf-Nr. 053566). |
Sachverhalt
Die Klägerin verlangt Schadensersatz wegen eines behaupteten Verkehrsunfalls, bei dem der Beklagte zu 2 mit einem bei der Erstbeklagten versicherten VW-Transporter auf den Porsche der Klägerin aufgefahren sein soll. Schon die Kollision als solche und erst recht die Verursachung der Schäden am Porsche durch den VW sind strittig. Das LG hat ein schriftliches Kompatibilitätsgutachten eingeholt und dieses wegen der Einwendungen der Klägerin – im Beisein ihres Privatgutachters – mündlich erläutern lassen. Mit der Begründung ihrer Berufung gegen die klageabweisende LG-Entscheidung hat die Klägerin ein Privatgutachten eines zweiten Sachverständigen vorgelegt und ihren erstinstanzlichen Vortrag zur Schadenskompatibilität vertieft und ergänzt. Das OLG hat die Berufung zurückgewiesen. Begründung: Bindung an die erstinstanzlichen Feststellungen. Was die Klägerin unter Berufung auf ihr zweites Privatgutachten zur „Anstoßkonstellation“ vortrage, sei nicht ergänzender Vortrag, sondern ein neues Angriffsmittel, das nach § 531 Abs. 2 ZPO nicht zuzulassen sei. Die Revision der Klägerin führte zur Urteilsaufhebung.
Entscheidungsgründe
In zwei entscheidenden Punkten ist der BGH dem OLG nicht gefolgt. Das zurückgewiesene Vorbringen aus der Berufungsbegründung sei schon kein neues Angriffsmittel (§ 531 Abs. 2 ZPO) und selbst wenn, so sei der Klägerin keine Nachlässigkeit (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO) vorzuwerfen. Ein in zweiter Instanz konkretisiertes Vorbringen sei nicht neu, wenn ein bereits schlüssiges Vorbringen aus der ersten Instanz durch weitere Tatsachenbehauptungen zusätzlich konkretisiert, verdeutlicht oder erläutert werde. Davon sei im Streitfall entgegen der Ansicht des OLG auszugehen. Doch auch von dessen Standpunkt aus, so der BGH weiter, hätte das Vorbringen der Klägerin berücksichtigt werden müssen. Denn von einer Nachlässigkeit i.S.d. § 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO könne nicht ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang geht der BGH auf die Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion von Verkehrsunfällen mit bestrittener Schadenskompatibilität ein. Was eine Klagepartei ohne eigene Sachkunde in diesem Bereich prozessual tun müsse und was sie sanktionslos unterlassen dürfe, sagt u.a. der obige Leitsatz.
Praxishinweis
Dass die von zwei Privatsachverständigen unterstützte Klägerin nicht an den Hürden des Präklusionsrechts scheitern durfte, war unter den gegebenen Umständen eine klare Sache; wohl auch für den BGH. Sein rundum überzeugendes Urteil ist von großer praktischer Relevanz. Es gehört zur Pflichtlektüre eines jeden Anwalts, der in Unfallsachen gerichtlich tätig ist.
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