Nötigung im Straßenverkehr
Zufahren auf einen Fußgänger nur bei Überschreiten der Erheblichkeitsschwelle strafbare Nötigung
Zur Frage der Nötigung beim Zufahren mit einem Kraftfahrzeug auf einen anderen (OLG Düsseldorf, 30.8.2000, 2a Ss 164/00-33/00, rkr.). (Abruf-Nr. 001321)
Sachverhalt
Ein Polizist wollte die Weiterfahrt des Angeklagten unterbinden. Er stellte sich deshalb ca. 2,5 m frontal vor das Auto des Angeklagten und forderte diesen durch Winken mit beiden Armen sowie verbal wiederholt auf, sein Auto an den rechten Straßenrand zu fahren. Um den Polizisten zur Seite zu zwingen, trat der Angeklagte zunächst mehrfach auf das Gaspedal und ließ den Motor laut aufheulen. Sodann fuhr er „mit langsamer Anfahrgeschwindigkeit“ auf den Polizisten zu, der daraufhin zur Seite trat. Die Strafkammer hat den Angeklagten wegen Nötigung nach § 240 StGB verurteilt worden. Die hiergegen eingelegte Revision hatte beim OLG Erfolg.
Entscheidungsgründe
Das OLG hat auf den Sachverhalt die Rechtsprechung zum Zufahren auf einen eine Parklücke freihaltenden Fußgänger angewendet. Danach liegt eine Nötigung vor, wenn der Fußgänger durch das Zufahren zur Freigabe des Parkplatzes gezwungen werden soll und dabei eine erhebliche Gefährdung für dessen körperliche Unversehrtheit verursacht oder dieser gar verletzt wird. Den objektiven Tatbestand einer Nötigung hat das OLG danach als gegeben angesehen. Das Gericht hat allerdings Bedenken wegen der Annahme der Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB geäußert. Da keine Körperverletzung des Polizeibeamten festgestellt worden ist, könne von „Verwerflichkeit“ nur die Rede sein, wenn zumindest die körperliche Unversehrtheit des Polizeibeamten erheblich gefährdet gewesen ist. Die dazu vom LG getroffenen tatsächlichen Feststellungen haben dem OLG nicht ausgereicht. Deshalb hat es das LG-Urteil aufgehoben und die Sache zur Nachholung ergänzender Feststellungen zurückverwiesen.
Praxishinweis
Das „Zufahren auf einen Anderen“ hat – wie das OLG Düsseldorf aufzeigt – nicht immer strafrechtliche Relevanz. Für den Verteidiger empfiehlt sich folgendes Prüfungsschema:
Prüfungsschema „Nötigung durch Zufahren auf einen Fußgänger“
1. Frage: Ist der objektive Tatbestand der Nötigung nach § 240 StGB erfüllt?
„Ja“ (BGH VRS 40, 104; OLG Düsseldorf VerkMitt. 78 Nr. 68; OLG Hamm Verk-Mitt. 69 Nr. 123). Ggf. liegt beim Zufahren auf einen Anderen, z.B. auf einen anhaltenden Polizeibeamten, um diesen zur Freigabe des Weges zu zwingen, sogar ein Verstoß gegen § 315b Abs. 1 Nr. 3 StGB vor, wenn das Zufahren zu einer konkreten Gefahr für den Anderen führt (Fischer in Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 315b Rz 5c m.w.N.).
2. Frage: Ist die Gewaltanwendung verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB) und damit rechtswidrig?
Hierfür kommt es darauf an, ob das Mittel der Willensbeeinflussung im Hinblick auf den erstrebten Zweck als anstößig anzusehen ist. Das rechtlich Verwerfliche ist allerdings nicht einseitig in dem angewendeten Mittel oder in dem angestrebten Zweck, sondern in der Beziehung beider zueinander zu suchen. Nur wenn die Anwendung der Gewalt über das billigenswerte Maß hinausgeht, ist die Tat als Nötigung zu bestrafen. Demgemäß wird in der Rspr. nicht schon jede Behinderung, Belästigung oder Gefährdung eines Verkehrsteilnehmers, die in ihrem Unrechtsgehalt den Rahmen einer nach § 1 StVO zu ahndenden Ordnungswidrigkeit nicht übersteigt, als sittlich so missbilligenswert angesehen, dass sie verwerflich wäre.
Ob das Verhalten eines Kraftfahrers in diesen Fällen besonders zu missbilligen ist, lässt sich daher zutreffend nur entscheiden, wenn alle Umstände des Falles berücksichtigt werden. Dazu hat die obergerichtliche Rspr. folgende Grundsätze aufgestellt:
• Ein Erzwingen der Fahrtfreigabe ist verwerflich, wenn die Gewaltanwendung eine nicht unerhebliche Verletzung der körperlichen Unversehrtheit des Genötigten bewirkt, indem dieser durch das anfahrende Kraftfahrzeug erfasst wird und einen körperlichen Schaden davonträgt (OLG Düsseldorf VerkMitt. 78 Nr. 68).
• Ist keine Körperverletzung eingetreten ist, verlangt die Rspr. für eine Bestrafung nach § 240 StGB, dass zumindest eine erhebliche Gefährdung der körperlichen Unversehrtheit des Dritten eingetreten ist.
Die Frage, wann und unter welchen konkreten Voraussetzungen eine Gefährdung als erheblich anzunehmen ist, wird in Rspr. und Lit. allerdings unterschiedlich beantwortet. Da es sich jeweils um Einzelfallentscheidungen bei unterschiedlichen Einzelheiten der Fallgestaltung handelt, kann man eine generelle Antwort, wann die Erheblichkeitsschwelle erreicht und überschritten ist, nicht geben. Zu berücksichtigen sind alle Umstände des Einzelfalls.
Zu den zu berücksichtigenden Umstände gehört auch das Verhalten desjenigen, auf den zugefahren wird (OLG Düsseldorf, aaO m.w.N.). Insofern wird auch darauf abgestellt, wer ggf. die Parklücke zuerst erreicht hat (OLG Hamm VerkMitt. 69, Nr. 123; zur Geltung des neuen § 12 Abs. 5 StVO: OLG Düsseldorf NZV 92, 199). Außerdem ist von Bedeutung, ob vom Dritten ggf. erwartet werden konnte, dass er dem angewendeten Zwangsmittel in besonnener Selbstbehauptung standhält (BGH NStZ 92, 278).
Verneint hat die Rspr. die Verwerflichkeit der Nötigung, wenn der Kraftfahrer äußerst langsam gefahren ist, jederzeit anhalten konnte und den Umständen im Übrigen nicht die Drohung entnommen werden konnte, er werde weiter fahren, wenn der Fußgänger zu Fall oder unter die Räder des Pkws zu kommen drohte (BGH VRS 44, 437, 439). Von Bedeutung war in anderen Fällen, ob der Fußgänger durch die Stoßstange des langsam auf ihn zufahrenden Wagens nur geschoben wurde und der Pkw jederzeit angehalten werden konnte (OLG Hamburg NJW 68, 662), sowie die Frage, ob die Gefahr für den Fußgänger relativ gering war, weil er ohne weiteres jederzeit hätte ausweichen können (OLG Stuttgart VRS 35, 438 und NJW 66, 745).
Bejaht worden ist eine Nötigung hingegen, wenn durch die Art und Weise des Zufahrens auf den rückwärts ausweichenden Fußgänger, der sich auf der Vorderseite des Pkws abstützte, die hohe Gefahr einer körperlichen Verletzung hervorgerufen wurde (OLG Hamm NJW 70, 2074) und ihm ggf. außerdem noch verbal mit den Worten gedroht wurde: „Gehen Sie weg, oder ich überfahre sie.“ (BayObLG VerkMitt. 63 Nr. 40).
Frage 3: Reichen die vom Tatgericht getroffenen Feststellungen aus, um eine erhebliche Gefährdung des anderen annehmen zu können (Rechtsmittelprüfung)?
Insoweit muss das Urteil ausreichende Feststellungen treffen (OLG Düsseldorf, 30.8.2000, 2a Ss 164/00-33/00, Abruf-Nr. 001321):
• zur Geschwindigkeit des anfahrenden Fahrzeugs,
• zum Verhalten des anderen Verkehrsteilnehmers,
• zu dessen Abstand zum Fahrzeug während des Beiseitetretens,
• zur Art und Weise des Beiseitetretens des anderen,
• zur Frage, ob der andere ohne ein Beiseitetreten einem Angefahren- oder Überrolltwerden ausgesetzt war.
Hinweis: Vertritt der Verteidiger nicht den Kfz-Führer, sondern den Fußgänger, der z.B. dem parkwilligen Kraftfahrer die Einfahrt versperrt, scheidet ein Nötigungsvorwurf in der Regel schon tatbestandsmäßig aus. Denn der Fußgänger wendet im Hinblick auf den (neuen) Gewaltbegriff des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 92, 1 = NJW 95, 1141) wohl keine Gewalt an, jedenfalls handelt er in der Regel nicht verwerflich (Tröndle in Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 240 Rz 28a m.w.N.).
Quelle: Verkehrsrecht aktuell - Ausgabe 07/2000, Seite 104