24.05.2011 | OWi-Recht
Verkehrs-OWi-Sachen: Die Rechtsprechung in 2010
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
Wir haben Ihnen in VA 11, 68 die wichtigsten Urteile des Jahres 2010 aus dem Verkehrsstrafrecht vorgestellt. Das setzen wir hier für die Verkehrsordnungswidrigkeiten fort (im Anschluss an VA 10, 104). Ausgenommen sind die mit der Verhängung eines Fahrverbots zusammenhängenden Fragen und zum Teil auch verfahrensrechtliche Fragen. Darüber werden wir gesondert berichten.
Rechtsprechungs-ABC |
Abstandsverstoß
Akteneinsicht, Messfoto/Bedienungsanleitung/Lebensakte Zu den Unterlagen des Bußgeldverfahrens gehören alle verfahrensbezogenen Unterlagen der Verwaltungsbehörden, die zu den Akten genommen werden und auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird. Das gilt für die Bedienungsanleitung (AG Schwelm VA 10, 103) und auch für Lebensakten von technischen Messgeräten (AG Erfurt VA 10, 125; AG Schwelm, a.a.O.; a.A. AG Verden (Aller) 23.8.10, VA 10, 190). Teilweise wird davon ausgegangen, dass der Fertigung von Kopien urheberrechtliche Bestimmungen zum Schutz der Aufzeichnungen entgegensteht (AG Gelnhausen VA 11, 16). Das ist jedoch unrichtig (vgl. dazu VA 11, 102 und AG Ellwangen VA 11, 54). Lehnt die Bußgeldbehörde (weitere) Akteneinsicht ab, soll ein dagegen gestellter Antrag auf gerichtliche Entscheidung unzulässig sein (AG Gütersloh VA 10, 190).
Beweisantrag Eine Verletzung des förmlichen Beweisantragsrechts setzt voraus, dass in der Hauptverhandlung überhaupt ein prozessordnungsgemäßer Beweisantrag gestellt worden ist. Allein die Stellung von Beweisanträgen in einem Hauptverhandlungstermin, die zur Aussetzung der Hauptverhandlung führte, reicht dazu nicht aus. Grund: Nach einer Aussetzung der Hauptverhandlung müssen bereits früher gestellte Beweisanträge im neuen Hauptverhandlungstermin wiederholt werden (KG VA 10, 197). Die Ablehnung eines Beweisantrags als verspätet ist im Bußgeldverfahren nach § 77 Abs. 2 Nr. 2 OWiG nur zulässig, wenn nicht die dem Gericht obliegende Aufklärungspflicht die Erhebung des beantragten Beweises gebietet (OLG Celle VA 11, 13; OLG Hamm VA 10, 122).
Bußgeldbescheid, Wirksamkeit Wesentlich für den Bußgeldbescheid als Prozessvoraussetzung ist seine Aufgabe, den Tatvorwurf in persönlicher, sachlicher und rechtlicher Hinsicht von anderen denkbaren Tatvorwürfen abzugrenzen. Wird ein Ordnungswidrigkeitenvorwurf betreffend des „1.3.10“ erhoben, fehlt es an der Prozessvoraussetzung für eine am „2.3.10“ begangene Ordnungswidrigkeit (AG Dillenburg zfs 10, 652). Das OLG Düsseldorf hat zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Tatortbezeichnung im Bußgeldbescheid Stellung genommen und die abgekürzten Tatortbezeichnung „Wuppertal, BAB 01 W/01-373,0/DO 100“ als eindeutig angesehen (VA 10, 123).
Drogenfahrt (§ 24a Abs. 2 StVG), insbesondere Fahrlässigkeit
Einspruch, Schriftformerfordernis Dem Schriftformerfordernis des § 67 Abs. 1 OWiG wird nicht dadurch genügt, dass der Betroffene eine als Einspruch zu wertende Erklärung auf einen Überweisungsträger (Feld: Verwendungszweck) schreibt und diese Erklärung dann im Rahmen des Buchungsverkehrs elektronisch an die Verwaltungsbehörde gelangt (AG Lüdinghausen NZV 10, 424).
Erzwingungshaft
Geldbuße, Rotlichtverstoß Im Rahmen der Regelgeldbuße von 125 EUR für einen qualifizierten Rotlichtverstoß ist die erhöhte abstrakte Gefahr durch die lange Dauer der Rotlichtphase bereits berücksichtigt. Eine zusätzliche Erhöhung wegen besonders langer Rotlichtdauer kommt nicht in Betracht. Das gilt auch bei einer Rotlichtdauer von 7 Sekunden (KG VA 10, 136).
Geschwindigkeitsüberschreitung - Allgemeines
Geschwindigkeitsüberschreitung - standardisiertes Messverfahren
Geschwindigkeitsüberschreitung - tatsächliche Feststellungen
Halterhaftung, Vollstreckung österreichischer Geldbußen Eine Vollstreckung österreichischer Geldbußen wegen Nichtbenennung des Fahrers ist in der Bundesrepublik (vorläufig) nicht möglich. Sie kann gegen verfassungsrechtliche Grundsätze, wie dem Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung oder dem Schutz des Kernbereichs des Angehörigenverhältnisses, verstoßen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung von Art. 6 EMRK und des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rats der Europäischen Union (FG Hamburg VA 10, 122; zur Neuregelung der Vollstreckung ausländischer Geldsanktionen s. VA 10, 213 und VA 11, 17).
Hinweispflicht bei Geldbußenerhöhung Will der Tatrichter die Geldbuße, die mit dem Bußgeldbescheid verhängt wurde, erhöhen/verdoppeln, ist umstritten, ob er den Betroffenen darauf zuvor hinweisen muss. Das wird vom OLG Hamm (vgl. VA 10, 31 = DAR 10, 99 m. abl. Anm. Sandherr) bejaht, von anderen OLG hingegen verneint (OLG Stuttgart DAR 10, 590; OLG Bamberg 11.10.10, 3 Ss OWi 1380/10). Nach Auffassung des OLG Hamm handelt es sich um eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, das nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG mit der Rechtsbeschwerde (Verfahrensrüge) geltend gemacht werden kann/muss.
Lenkzeitenüberschreitung
Pflichtverteidigung im OWi-Verfahren Auch in einem OWi-Verfahren kann wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten sein (OLG Hamm VA 10, 102).
Rechtsbeschwerde, Verfahrensrüge Wird mit der Rechtsbeschwerde beanstandet, dass dem Betroffenen trotz seines Schweigens in der Hauptverhandlung eine Erklärung seines Verteidigers zur Fahrereigenschaft zugerechnet worden sei, gehört zum zulässigen Rügevorbringen nicht nur der Hinweis auf das Schweigen des Betroffenen, sondern auch die Mitteilung, dass eine Bestätigung der Erklärung des Verteidigers durch den Betroffenen nicht erfolgt ist (KG VA 10, 210).
Rotlichtverstoß
Sachverständigengutachten, Darstellung im Urteil Hat das Tatgericht ein Sachverständigengutachten eingeholt und seine Überzeugungsbildung hierauf gestützt, muss es die Ausführungen des SV in einer ggf. gestrafften zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerung insoweit wiedergeben, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit erforderlich ist (KG VA 10, 211; vgl. auch noch OLG Bamberg VA 10, 138, vgl. die Hinweise in VA 10, 211).
Schweigerecht des Betroffenen Lassen die Urteilsausführungen erkennen, dass der Tatrichter die Berufung des Betroffenen auf sein Schweigerecht als ein Mittel bewertet, dem etwas Ungehöriges anhaftet, weil es darauf abzielt, die Aufklärung des Sachverhalts durch das Gericht zu erschweren, so liegt, wenn zudem die Regelgeldbuße verdoppelt wird, die Annahme nahe, dass hierbei eben dieses prozessuale Verhalten des Betroffenen zu dessen Lasten berücksichtigt worden ist (KG VA 10, 158).
Sonderrechte Im Rahmen einer privaten Fahrt stehen einem Polizeibeamten die Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO nicht zu (AG Lüdinghausen NZV10, 365).
Täteridentifizierung, Urteilsgründe Stützt sich das Tatgericht zur Identifizierung des Betroffenen auf die Ausführungen eines Sachverständigen, genügt es den sachlich-rechtlichen Darlegungsanforderungen regelmäßig nicht, wenn in den Urteilsgründen im Wesentlichen nur das Ergebnis des erstatteten anthropologischen Identitätsgutachtens mitgeteilt wird (OLG Bamberg VA 10, 138; zu den Urteilsfeststellungen s. auch noch OLG Brandenburg zfs 10, 527).
Täteridentifizierung, ordnungsgemäße Bezugnahme Der Hinweis auf die „in der Akte befindlichen Lichtbilder“ ist keine i.S. des § 267 Abs. 1 S. 3 StPO ausreichende Bezugnahme auf ein Lichtbild (OLG Koblenz VA 10, 197; vgl. auch VA 06, 125 u. 144).
Trunkenheitsfahrt, Verwertung der Messung Inzwischen hat ein weiteres OLG zur Frage Stellung genommen, ob eine Atemalkoholmessung verwertbar ist, wenn der Betroffene innerhalb der 10-minütigen Kontrollzeit andere Substanzen zu sich nimmt bzw. mit ihnen umgeht. Das OLG Stuttgart (VA 10, 189) sieht in diesen Fällen die Messung nicht als generell unverwertbar an (s.a. OLG Hamm VA 10, 50), wenn der Grenzwert von 0,25 mg/l nicht unerheblich (etwa 20 %) überschritten ist und ein Sicherheitsabschlag vorgenommen wird. In diesen Fällen bedarf es aber der Hinzuziehung eines Sachverständigen (OLG Stuttgart a.a.O.).
Urteilsfeststellungen, allgemeine Anforderungen
Verkehrszeichen, Sichtbarkeitsgrundsatz Ein durch Baum- und Buschbewuchs objektiv nicht mehr erkennbares Verkehrszeichen 274.1 (Tempo-30 Zone) entfaltet keine Rechtswirkungen mehr (OLG Hamm VA 11, 32). Es gibt aber keinen Erfahrungssatz, dass gut sichtbar aufgestellte Schilder immer gesehen werden (OLG Stuttgart DAR 10, 402).
Verwertungsverbot, Verkehrs-/Bundeszentralregister
Videomessung - Anfangsverdacht Zur Verneinung eines Anfangsverdachts bei einer mit Leivtec XV2 durchgeführten Geschwindigkeitsmessung hat das AG Prenzlau Stellung genommen (VA 10, 191; zum Anfangsverdacht bei der Messung mit VKS OLG Bremen DAR 11, 35). Für eine Messung mit dem Verfahren eso ES 3.0 besteht der für die Anwendung des § 100h StPO erforderliche Anfangsverdacht bereits ab dem Zeitpunkt, in dem das Messgerät die Geschwindigkeitsüberschreitung registriert (OLG Rostock VA 10, 192).
Videomessung - Ermächtigungsgrundlage Das BVerfG (VA 10, 154) hat als Ermächtigungsgrundlage für eine mit ES 1.0 durchgeführte Messung § 100h StPO angesehen. Diese Rechtsprechung hat es dann auf Videomessungen ausgedehnt (vgl. VA 10, 172; s.a. OLG Rostock VA 10, 192; Zusammenstellung in VA 10, 120).
Videomessung - Pflichtverteidiger Zur Schwierigkeit der Rechtslage und zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im Hinblick auf die BVerfG-Rechtsprechung zur unzulässigen Videomessung vgl. OLG Dresden VA 10, 211.
Winterreifenpflicht Das OLG Oldenburg hält die „Winterreifenpflicht“ in § 2 Abs. 3a S. 1, 2 StVO a.F. wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot insoweit als verfassungswidrig, soweit dort ein Verstoß gegen das Gebot, ein Kraftfahrzeug mit einer an die Wetterverhältnisse angepassten, geeigneten Bereifung auszurüsten, geahndet werden soll (OLG Oldenburg VA 10, 172; a.A. AG Velbert DAR 10, 594). Inzwischen ist am 4.12.10 die Neuregelung in Kraft getreten (vgl. VA 11, 25).
Zustellung des Bußgeldbescheids Eine Zustellung an den Verteidiger ist grds. nur wirksam, wenn sich eine Zustellungsvollmacht bei der Akte befindet (AG Spaichingen VA 10, 156). |