25.08.2008 | Unfallschadensregulierung
Aktuelle Probleme bei Auffahrunfällen, speziell in Kettenfällen
Schon bei einer normalen Zweierbeziehung können Auffahrunfälle haftungsrechtlich durchaus problematisch sein. Um ein Vielfaches größer sind die Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Schäden und der Haftungsverteilung bei sog. Kettenauffahrunfällen. Dieser Beitrag bringt Sie auf den neuesten Stand der Rechtsprechung (Ergänzung zu VA 06, 190 ff.).
Checkliste 1: Ausgangslage Auffahrunfall mit zwei Beteiligten |
1. Anscheinsbeweis: Wer auf den Vorausfahrenden auffährt, war i.d.R. unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm oder zu schnell. Dafür, also für mindestens einen von drei Fahrfehlern, nicht etwa für eine Alleinschuld, spricht nach st. Rspr. der Beweis des ersten Anscheins (BGH VA 07, 59).
2. Typischer Geschehensablauf: Als Voraussetzung eines jeden Anscheinsbeweises muss er feststehen, d.h., die entsprechenden Tatsachen müssen unstreitig oder erwiesen sein. Die Beweislast trägt derjenige, der sich auf den Anscheinsbeweis beruft.
3. Typizitätsprüfung: Der Sachverhalt muss in seiner ganzen Breite gewürdigt werden. Allein aus der Tatsache, dass A auf B aufgefahren ist, auf einen typischen Geschehensablauf zu schließen, kann gegen das Gesamtschaugebot verstoßen (OLG Hamm VersR 05, 1303; OLG Düsseldorf NZV 98, 203). Schon bei der vorrangigen Typizitätsprüfung, nicht erst auf der Stufe der Erschütterung des Anscheinsbeweises, sind z.B. zu berücksichtigen:
4. Praxishinweis: Derjenige, der mit einem Anscheinsbeweis konfrontiert wird, wie z.B. der Auffahrende, muss alles daran setzen, dass der Richter schon die Typizität verneint. Dazu sind so viele Besonderheiten (inkl. gegnerische Fahrfehler) wie möglich vorzutragen, und zwar unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass sie bereits auf der Stufe 1 (Typizität) relevant sind und nur hilfsweise zur Erschütterung eines etwaigen Anscheinsbeweises (Stufe 2) vorgebracht werden. Demgegenüber ist derjenige, der sich auf einen Anscheinsbeweis beruft, gut beraten, nur den Kernsachverhalt vorzutragen; ohne vorkollisionäre Details, die der Annahme eines Standardfalls entgegenstehen können.
5. Auffahrkollision im fließenden Verkehr: Voraussetzung für die Annahme eines typischen Geschehensablaufs ist, dass beide Fahrzeuge so lange in einer Spur/Fahrstreifen hintereinander hergefahren sind, dass der Hintermann einen ausreichenden Sicherheitsabstand hat aufbauen und einhalten können (KG NZV 06, 374; 07, 408). Umstritten ist, ob der Vordermann darlegen und notfalls beweisen muss, eine Zeit lang und/oder eine bestimmte Strecke vorausgefahren zu sein, um den Anscheinsbeweis eines Auffahrverschuldens für sich in Anspruch nehmen zu können. Es reicht der Vortrag, der Beklagte sei mit seinem Fahrzeug auf den Pkw des Klägers aufgefahren. Nicht nötig ist also, dass der Vordermann von sich aus nähere Angaben zur Zeit und/oder zur Strecke des Hintereinanderfahrens macht.
6. Spur- und Fahrstreifenwechsel: Wenn der Vordermann selbst vorträgt, sich erst kurz vor der Kollision vor den Beklagten gesetzt zu haben, kann ihm der Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden nicht zugute kommen (KG KGR 01, 93). Thematisiert wird ein Spurwechsel regelmäßig von demjenigen, der aufgefahren ist. Ein eigenes (Auffahr-)Verschulden soll damit bestritten und der Gegenseite ein (Spurwechsel-)Verschulden (§ 7 Abs. 5 StVO) angelastet werden, ggf. nach Anscheinsgrundsätzen. Gute Gründe sprechen dafür, dem Auffahrenden auch bei seiner Verteidigung gegen den Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden die Beweislast für seine Behauptung aufzuerlegen, der Vordermann habe sich erst unmittelbar vor der Kollision vor ihn gesetzt. Bei ungeklärtem, aber nahe liegenden Spurwechsel verneint das OLG Hamm (VersR 05, 1303) einen typischen Geschehensablauf.
7. Erschütterung des Anscheinsbeweises: Nach BGH VA 07, 59 wird der Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden dadurch erschüttert, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Licht erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird. Das ist missverständlich. In BGH VersR 89, 54 heißt es richtig, zur Erschütterung genüge, wenn die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Unfallablaufs bewiesen wird. Genaugenommen sind Tatsachen zu beweisen, die auf eine „ernsthafte Möglichkeit“ schließen lassen.
8. „Vordermann hat plötzlich grundlos stark gebremst“: Diese klassische Einlassung wird von den meisten Gerichten in die Erschütterungsstation gezogen (anders OLG Frankfurt NJW 07, 87, sofern ein atypisches Abbremsen unstreitig ist). Der Vordermann muss zur Inanspruchnahme der Anscheinsbeweisregeln nicht den Beweis führen, gar nicht oder nur „normal“ abgebremst zu haben. Ist unstreitig oder vom Auffahrenden bewiesen, dass der Vordermann verkehrsbedingt (also mit Grund) plötzlich stark bzw. scharf gebremst hat (z.B. Notbremsung wegen eines Fußgängers), ist der Anscheinsbeweis noch nicht erschüttert (BGH VA 07, 59). Argument: Ein solches Verhalten muss der Nachfolgende grundsätzlich einkalkulieren; es ist nichts Atypisches. Erst recht reicht damit die bloße Möglichkeit eines plötzlichen und/oder starken Bremsens zur Erschütterung nicht aus.
Sehr str. sind Fallgestaltungen mit plötzlichem starken Bremsen ohne Grund, also ohne verkehrsbedingten Anlass. Hier kann schon die Typizität zu verneinen sein (OLG Frankfurt NJW 07, 87). Dass die bloße Möglichkeit eines grundlosen Bremsens (zum Begriff OLG Köln DAR 95, 485) dem Hintermann nicht helfen kann, dürfte klar sein (OLG Köln DAR 95, 485). Gelingt dem Auffahrenden indes der Nachweis eines starken und zudem grundlosen Bremsens, kann er damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Kein Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden (OLG Köln DAR 95, 485; s. aber auch KG NZV 03, 42) und ggf. volle Haftung des Vordermanns (OLG Frankfurt NJW 07, 87; LG Köln DAR 08, 388).
9. Auffahren auf ein Hindernis: Beim Aufprall auf ein Hindernis auf der Fahrbahn (Tier, Reifen u.a.) ist folgender Entlastungsversuch typisch: Ein direkt vorausfahrendes Fahrzeug habe die Sicht verdeckt, plötzlich sei das Hindernis aufgetaucht und ein Auffahren unvermeidbar gewesen. Dazu BGH VersR 89, 54 und VersR 87, 358. Zur Erschütterung müssen drei Einzeltatsachen bewiesen sein: vorausfahrendes Kfz als Sichtsperre (z.B. Lkw), Spurwechsel unmittelbar vor dem Hindernis, Ausweichen nicht mehr möglich oder erheblich erschwert. |
Checkliste 2: Sonderfall Kettenauffahrunfal |
1. Erscheinungsformen: Von einem Ketten-/Serienauffahrunfall spricht man bei einer Beteiligung von drei und mehr Fahrzeugen mit Anstößen Front auf Heck (nicht von der Seite u.a.). Ein Klassiker ist die Sandwich-Konstellation: Kläger in der Mitte mit Front- und Heckschaden (OLG Düsseldorf 12.6.06, I-1 U 206/05, Abruf-Nr. 062924 ; 6.3.06, I-1 U 172/05, Abruf-Nr. 062097). Aufgefahren oder aufgeschoben – das ist die Kernfrage. Variante Kläger hinten, zwei oder mehr Vorderleute mit der Nr. 1 als bremsender „Auslöser“: OLG Düsseldorf NZV 98, 203; OLG Brandenburg 14.6.07, 12 U 208/06, Abruf-Nr. 082598. Variante Kläger vorne, zwei Hintermänner: OLG Köln 15.8.06, 4 U 7/06, Abruf-Nr. 070964.
2. Aufklärungsprobleme und Lösungsansätze: Angesichts der dichten Abfolge der Einzelkollisionen, oft in ungeklärter Reihenfolge, ungesicherter Spuren und sonstiger Aufklärungshindernisse (Dunkelheit, keine unbeteiligten Zeugen, vage Fahrerangaben) ist die Rekonstruktion von Kettenauffahrunfällen natürlich sehr viel komplizierter als bei einem „normalen“ Auffahrunfall. Was kann Geschädigten in ihrer Beweisnot helfen? Wer soll in welchem Umfang in Anspruch genommen werden? Nur einer oder mehrere oder alle? Keine leichte Aufgabe für den Anwalt. Vier Themen stehen im Focus: 1. Anscheinsbeweis, 2. Schadensschätzung (§ 287 ZPO), 3. § 830 Abs. 1 S. 2 BGB und 4. § 840 Abs. 1 BGB (dazu OLG Hamm NZV 94, 109). Vertiefend zum Ganzen Greger NZV 89, 58.
3. Der Anscheinsbeweis beim Kettenauffahrunfall a) Kollisionen innerhalb der Kette: Hier greift der Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden nach h.M. im Ergebnis nicht ein. Wegen der Möglichkeit, nicht aufgefahren, sondern aufgeschoben worden zu sein, wird entweder die Typizität verneint (OLG Frankfurt OLGR 02, 261) oder der Anscheinsbeweis gilt als erschüttert (OLG Köln a.a.O.). Ist ein Aufschieben ausgeschlossen, bleibt als Argument contra Typizität und pro Erschütterung der Gesichtspunkt Bremswegverkürzung (dazu unten 3c).
b) Nr. 1 (Spitzenfahrzeug) verklagt Nr. 2: Für den Heckschaden der Nr. 1 haftet Nr. 2 nicht aus Verschulden, wenn sie nachweislich aufgeschoben worden ist, ein Auffahrverschulden also ausscheidet. Die ernsthafte Möglichkeit eines Aufschiebens der Nr. 2 auf Nr. 1 durch die Nr. 3 genügt der Nr. 2 zur Erschütterung des Anscheinsbeweises (OLG Köln a.a.O.). Nicht etwa positiv, sondern negativ kann sich für Nr. 2 die Behauptung auswirken, vor dem Anstoß gegen das eigene Heck schon gestanden zu haben. Ein Aufschieben lässt sich bei einem noch in Bewegung befindlichen und bremsenden Fahrzeug viel leichter erklären als bei einem stehenden. Fragwürdig in seiner indiziellen Bedeutung ist das Verspüren zweier Anstöße im Pkw Nr. 1 (SV-Frage). Die Entlastungsbeweise nach § 17 Abs. 3, § 18 StVG wird Nr. 2 praktisch nicht führen können. Anders, wenn ein Aufschieben feststeht und Nr. 2 erwiesenermaßen alles richtig bzw. ideal gemacht hat, inkl. korrekter Sicherheitsabstand zur Nr. 1. Keine Mithaftung der Nr. 1, wenn sie Unabwendbarkeit beweisen kann (dazu OLG Köln a.a.O.). Tipp für Nr. 1: Den direkten Hintermann (Nr. 2) allein verklagen mit Streitverkündung an Nr. 3.
c) Kollision zwischen dem Letzten und dem Vorletzten: Zulasten des Letztauffahrenden nimmt man einen Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden an, i.d.R. beschränkt auf den Heckschaden (OLG Düsseldorf OLGR 92, 177; OLG Frankfurt OLGR 02, 261). Richtig daran ist, dass der Letzte nicht aufgeschoben worden sein kann. Dieses Entlastungsmoment fehlt hier. Wie kann der Anscheinsbeweis für ein Auffahrverschulden anderweitig bekämpft werden? Argumentationsmöglichkeit: Vordermann ist selbst aufgefahren, was den Ablauf atypisch macht und im Übrigen Hinweis auf eine Bremswegverkürzung. Schon Typizität verneinend OLG Düsseldorf NZV 98, 203; für Erschütterung OLG Brandenburg a.a.O. Eine Garantie für ein Aushebeln des Anscheinsbeweises gibt es nicht, zumal das Argument Bremswegverkürzung entgegen weit verbreiteter Ansicht nicht viel taugt.
Was wird wodurch verkürzt? Dadurch, dass der Vordermann nicht den nötigen Sicherheitsabstand eingehalten habe, sei dem Auffahrenden der Bremsweg verkürzt, heißt es oft in Schriftsätzen. Das ist kein Erschütterungsargument (kann aber bei der Mitverursachung/Haftungsabwägung relevant sein). Diskutiert wird eine Bremswegverkürzung, wenn der Vordermann auf seinen Vordermann (oder ein Hindernis) aufgefahren ist. Dies kann Einfluss haben auf den normalen Bremsweg des erstauffahrenden Vordermanns wie auch auf den Bremsweg seines Hintermanns. Zwingend ist beides nicht. Wichtig ist: Nur eine außergewöhnliche und überraschende Bremswegverkürzung kann den auffahrenden Hintermann entlasten (BGH NJW 87, 1075), z.B. ein plötzliches ruckartiges Stehenbleiben. Für das OLG Brandenburg (a.a.O.) ist das Auffahren des Vordermanns auf den eigenen Vordermann eine solche Situation mit der Konsequenz der Erschütterung des Anscheinsbeweises, a.A. KG DAR 95, 482.
Frontschaden: Ob der zuletzt Auffahrende außer dem Heckschaden auch die Beschädigungen am Vorderwagen verursacht hat, beurteilt sich – außerhalb der Anscheinsbeweisregeln – nach dem Maßstab des § 287 ZPO (OLG Düsseldorf 6.3.06, I-1 U 172/05, Abruf-Nr. 062097). Es genügt, wenn das Aufschieben des Vordermanns durch den Hintermann bei Würdigung aller Umstände erheblich wahrscheinlicher ist als eine Selbstverursachung durch eigenes Auffahren. Aufschluss kann neben Zeugenaussagen zur Anzahl der wahrgenommenen Anstöße ein Sachverständigengutachten liefern. Besonders heikel sind Fallgestaltungen mit möglicher Vergrößerung eines im Zeitpunkt der Heckkollision bereits vorhandenen Frontschadens durch den Anstoß gegen das Fahrzeugheck des Vorausfahrenden (vgl. BGH NJW 73, 1283; OLG Düsseldorf NZV 95, 486).
4. § 830 Abs. 1 S. 2 BGB: Die Vorschrift, in Fällen reiner Gefährdungshaftung analog anwendbar, ist in Kettenfällen nur sehr begrenzt eine Hilfe. Zu den Tatbestandsvoraussetzungen s. BGH NJW 79, 544. Kann der Kläger seine Fahrzeugbeschädigungen ganz oder teilweise selbst verursacht haben, kann er § 830 Abs. 1 S. 2 BGB vergessen (OLG Bamberg NZV 04, 30). Er ist nicht in der Beweisnot, die zu beseitigen Zweck der Norm ist. Wer damit arbeiten will, muss beweisen, dass er selbst den Schaden nicht (mit-)verursacht hat (BGH NJW 73, 1283). Eine Selbstschädigung muss ausgeschlossen sein. Besteht die Möglichkeit eines eigenen Auffahrens auf den Vordermann, ist zumindest der Frontschaden potenziell selbstverursacht. Auch der Heckschaden kann unter eigener Mitwirkung entstanden sein (z.B. durch abruptes Bremsen oder gar durch ein mögliches Auffahren auf den Vordermann mit Bremswegverkürzung zulasten des Hintermanns). Voraussetzung für § 830 Abs. 1 S. 2 BGB ist ferner, dass sich nicht feststellen lässt, dass einer der Beteiligten für den gesamten Schaden haftet (BGH NJW 79, 544). Bevor ein anderer Beteiligter quasi auf Verdacht verurteilt wird, muss auch das geklärt sein. |
Checkliste 3: Haftungsquoten beim Kettenauffahrunfall | ||||||||||||||||||
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