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  • 01.11.2005 | Unfallschadensregulierung

    Die „unklare Verkehrslage“ in der aktuellen Rspr.

    von VRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf

    Falsches Überholen steht unter den Unfallursachen mit an höchster Stelle. Besondere Bedeutung hat das – oftmals voreilig bejahte – Überholverbot „bei unklarer Verkehrslage“. Was es damit auf sich hat, zeigt der folgende Beitrag.  

     

    Basiswissen kompakt
    1. Gesetzestext: Von „unklarer Verkehrslage“ ist in der StVO expressis verbis nur im Zusammenhang mit dem Überholen die Rede (§ 5 Abs. 3 Nr. 1).

     

    2. Ungeschriebenes Merkmal: Thematisiert wird die „unklare Verkehrslage“ auch im Kontext mit Geschwindigkeitsüberschreitungen (BGH NJW 85, 1950; OLG Celle NZV 03, 44; OLG Köln VersR 02, 1167), ferner in Vorfahrtfällen (z.B. unklare Vorfahrtsituation infolge straßenbaulicher Gegebenheiten) und im Rahmen der Generalklausel des § 1 StVO.

     

    3. Definition: Was „unklare Verkehrslage“ i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO bedeutet, ist gesetzlich nicht definiert. Zum Ausdruck kommen soll damit ein Grundsatz, den der BGH – vor In-Kraft-Treten des § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO – so formuliert hat: Grundsätzlich darf eine Überholung nur eingeleitet und eine etwa eingeleitete Überholung nur fortgeführt werden, wenn der Überholende davon überzeugt sein darf, sie gefahrlos beenden zu können (DAR 59, 322).

     

    4. Bundesgerichtshof: Was der BGH unter „unklarer Verkehrslage“ i.S.d. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO versteht, hat er bisher nicht allgemein umschrieben, jedoch anhand von Beispielen konkretisiert (NJW 96, 60).

     

    5. Instanzgerichte: Sie arbeiten überwiegend mit folgender Formulierung: „Unklar ist die Verkehrslage, wenn nach allen Umständen mit ungefährdendem Überholen nicht gerechnet werden darf“ (OLG Düsseldorf 11.7.05, I-1 U 18/05, Abruf-Nr. 052876; weitere Nachweise bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 5 StVO Rn. 34). M.a.W.: Das Vertrauen, gefahrlos überholen zu können, muss nach den Gesamtumständen zumindest erschüttert sein. Auf den Vertrauensgrundsatz kann sich nur derjenige berufen, für den die Verkehrslage klar ist und der sich selbst verkehrsgerecht verhält.

     

    6. Schutzrichtung: Nach der amtl. Begründung (bei Hentschel, a.a.O., Rn. 4) kann sich die Unklarheit der Verkehrslage nur auf vorhandenen Querverkehr und vor allem auf das Verhalten des zu Überholenden beziehen. Den Schutz des Gegenverkehrs bezweckt das Verbot des Überholens bei unklarer Verkehrslage nicht. Der Gegenverkehr ist nach § 5 Abs. 2 S. 1 StVO geschützt (s. auch KG DAR 01, 467).

     

    7. Gegenverkehr: Zum Gegenverkehr gehört noch nicht derjenige Verkehrsteilnehmer, der bei Beginn des Überholvorgangs gerade mit dem Einbiegen begonnen hat und noch nicht voll in die Längsrichtung der bevorrechtigten Straße eingeordnet war (BGH NJW 96, 60). Bei einer Kollision zwischen einem Überholer und einem wartepflichtigen Rechtsabbieger ist demnach der Tatbestand der „unklaren Verkehrslage“ zu prüfen (BGH NJW 96, 60).

     

    8. Ursachen für Unklarheit: Die Unklarheit der Verkehrslage kann sich prinzipiell aus allen – erkennbaren – Umständen ergeben, so zum Beispiel:
    • Fahrweise des Vordermanns,
    • Kolonnenverkehr,
    • Stehen eines Kfz am Fahrbahnrand, Hindernis auf der Fahrbahn,
    • sichtbehindernde Größe des vorausfahrenden Fahrzeugs,
    • sichtbehindernde Straßenführung,
    • Sicht- und Beleuchtungsverhältnisse.

     

    9. Zeitpunkt: Um ein Überholverbot zu begründen, muss die Verkehrslage grundsätzlich in dem Zeitpunkt für den Überholwilligen „unklar“ sein, in dem er zum Überholen ansetzt (OLG Düsseldorf 1.10.01, 1 U 220/00, Abruf-Nr. 052878). Wichtig ist das vor allem mit Blick auf den Zeitpunkt des Blinkens. Wird die Verkehrslage erst während des – zulässigerweise eingeleiteten – Überholvorgangs unklar, ist die Fahrweise des Überholers an § 1 StVO zu messen.

     

    10. Darlegungs- und Beweislast: Die Umstände, aus denen sich die Unklarheit der Verkehrslage ergibt, stehen zur Darlegungs- und Beweislast desjenigen, der sich auf das Überholverbot beruft (st. Rspr., z.B. LG Chemnitz VA 04, 184, Abruf-Nr. 042623). Die Grundsätze des Anscheinsbeweises gelten nicht. Im Rahmen des Entlastungsbeweises nach § 17 Abs. 3 StVG muss der Überholer „Klarheit“ der Verkehrslage beweisen.
     

     

    Fallgruppe „Überholen von Linksabbiegern“

    Sachverhalt  

    Entscheidung  

    Pkw biegt innerorts nach Temporeduzierung ohne eindeutiges Einordnen nach nur kurzem Linksblinken nach links ab; für Überholer war Parkplatzsuche erkennbar; unklare Verkehrslage verneint;  

    OLG Düsseldorf 11.7.05, I-1 U 18/05, Abruf-Nr. 052876;  

    s. auch OLG Köln DAR 99, 548  

    Keine unklare Verkehrslage, wenn ein Kfz relativ langsam fährt und sich nach rechts einordnet, dann aber nach links abbiegt od. wendet.  

    OLG Celle 12.5.05, 14 U 223/04, Abruf-Nr. 052869 

    Langsamfahren vor einer Einmündung: ohne Hinzutreten weiterer Umstände keine unklare Verkehrslage  

    OLG Düsseldorf 11.4.05, I-1 U 219/04, Abruf-Nr. 052877;  

    Verlangsamen ohne zu blinken und Andeuten einer Fahrbewegung nach rechts mit Linksabbiegen während des Überholvorgangs; unklare Verkehrslage bejaht;  

    OLG Frankfurt 7.2.05, 1 U 223/04, Abruf-Nr. 052870;  

    s.a. OLG Koblenz DAR 05, 403  

    Kradfahrer überholt innerorts 2 Pkw, die beide die Geschwindigkeit reduziert hatten und von denen einer sich erkennbar zur Fahrbahnmitte eingeordnet hatte; unklare Verkehrslage bejaht;  

    OLG Koblenz 17.1.05, 12 U 193/04, Abruf-Nr. 052871 

    Pkw fährt auf Bundesstraße hinter Traktor, der vor Einmündung eines Feldwegs deutlich langsamer wird, wobei er äußerst rechts fährt; Linksblinken erst nach Beginn des Überholens; unklare Verkehrslage bejaht;  

    OLG Schleswig NZV 94, 30; s. auch LG Bautzen SP 04, 78  

    Kradfahrer überholt Pkw, der nach nur kurzem Blinken nach links  

    abbiegt; unklare Verkehrslage verneint;  

    KG NZV 05, 413; s. auch KG 18.3.02, 22 U 9805/00, Abruf-Nr. 052872 

    Motorroller fährt – links blinkend – am rechten Fahrbahnrand, um zu wenden; Fahrer schaut sich mehrmals nach hinten um; unklare Verkehrslage für überholenden Pkw-Fahrer verneint;  

    OLG Frankfurt 3.12.04, 19 U 93/04, Abruf-Nr. 052889 

    Pkw fuhr vor dem Linksabbiegen erst auf eine rechts neben der Fahrbahn gelegene Bushaltestelle und setzte den linken Blinker erst, als der Überholer auf gleicher Höhe war; unklare Verkehrslage verneint;  

    OLG Celle 18.11.04, 14 U 108/04, Abruf-Nr. 052873 

     

    Pkw überholt mehrere am rechten Fahrbahnrand stehende Fahrzeuge, von denen eines nach links ausschert, um (ohne rechtzeitiges Blinken) in eine Grundstückseinfahrt abzubiegen; unklare Verkehrslage verneint;  

    OLG Düsseldorf 27.9.04, I-1 U 102/04, Abruf-Nr. 042624 

    Pkw überholt in 30er Zone im Kreuzungsbereich; vorausfahrender Pkw hat nicht rechtzeitig links geblinkt; unklare Verkehrslage verneint;  

    Brand. OLG 7.5.03, 14 U 123/02, Abruf-Nr. 052888