Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • 01.04.2006 | Unfallschadensregulierung

    Mitverschulden des Geschädigten durch unterlassene Eigensicherung (Gurt und Helm)

    von VRiOLG Dr. Christoph Eggert, Düsseldorf

    Von den im vergangenen Jahr in NRW tödlich verunglückten Kraftfahrern waren 15 % nicht angeschnallt. Um ein Vielfaches höher ist die Zahl der Unfallverletzten, die mit Gurt unversehrt geblieben oder weniger stark verletzt wären. Verstöße gegen die Gurt- bzw. Helmpflicht spielen in der Regulierungspraxis eine bedeutsame Rolle. Die folgenden Checklisten und Tabellen bringen Sie auf den neuesten Stand der Dinge.  

     

    Checkliste „Basiswissen kompakt“
    1.Anschnallpflicht: Vorgeschriebene Sicherheitsgurte müssen – primär im Interesse der Allgemeinheit (BGHZ 74, 25) – während der Fahrt angelegt sein (§ 21a Abs. 1 StVO). „Während der Fahrt“ ist auch bei kurzzeitigem verkehrsbedingtem Anhalten (BGH NJW 01, 1485; OLG Celle NJW 06, 710). Das Vorhandensein von Airbags ist ohne Einfluss auf die Anschnallpflicht (OLG Celle NZV 90, 81).

     

    2.Ausnahmen von der Anschnallpflicht: In einem Sechs-Punkte-Katalog macht § 21a Abs. 1 S. 2 StVO Ausnahmen von der Gurtpflicht. Taxifahrer sind nur bei der Fahrgastbeförderung befreit, nicht auf Leerfahrten (BGH NJW 82, 985; VersR 83, 153). Wem die Behörde eine Ausnahmegenehmigung erteilen müsste – Befreiung nach § 46 Abs. 1 Nr. 5 b StVO (z.B. aus gesundheitlichen Gründen) –, dem kann ein Mitverschulden nicht angelastet werden (BGH NJW 93, 53).

     

    3.Fahrerverantwortung für Beifahrer: Grundsätzlich ist der Fahrer nicht dafür verantwortlich, dass Beifahrer/Mitfahrer sich ordnungsgemäß anschnallen (OLG Düsseldorf 10.3.03, 1 U 150/02, Abruf-Nr. 060781). Anders ist es bei Kindern (AG Köln NZV 05, 598) und Betrunkenen oder Kranken (OLG Hamm NZV 96, 33).

     

    4.Schutzhelm: Nach § 21a Abs. 2 StVO müssen Führer von Krafträdern (incl. Mofas, aber ohne Leicht-Mofas) und ihre Beifahrer während der Fahrt amtlich genehmigte Schutzhelme tragen. Zur Zumutbarkeit für Brillenträger s. BGH NJW 83, 1380.

     

    5.Helmpflicht für Radfahrer? Kraft Gesetzes sind Radfahrer gegenwärtig nicht zum Tragen eines Helmes verpflichtet. Das schließt jedoch nicht von vornherein aus, Radfahren ohne Helm in bestimmten Situationen als anspruchskürzende Sorglosigkeit zu werten (so wie das Nichttragen eines Schutzhelms vor Einführung der Helmpflicht unter § 254 BGB fiel, vgl. BGH NJW 65, 1075 – Motorrad; anders BGH NJW 79, 980 – Moped). Nach wie vor lehnen die deutschen Gerichte es ab, Radfahren ohne Helm als Mitverschulden anzusehen, selbst bei Rennrad- und Mountainbikefahrern (OLG Hamm NZV 02, 129; NZV 01, 86; OLG Nürnberg DAR 99, 507; OLG Karlsruhe NZV 91, 25); ebenso der österreichische OGH 7.7.05, ZVR 06, 159.

     

    6.Mitverschulden durch Nichtanschnallen: Einem Kfz-Insassen, der den Sicherheitsgurt nicht anlegt, fällt grds. ein Mitverschulden an seinen infolge der Nichtanlegung des Gurtes erlittenen Unfallverletzungen zur Last (st. Rspr., BGH NJW 01, 1485 m.w.N.). Einschlägig ist Abs. 1 des § 254 BGB (BGH NJW 79, 1363).

     

    7.Funktionsunfähiger Gurt: Dem Nichtanschnallen kann das Benutzen eines defekten oder losen Gurtes gleich gestellt sein (KG VRS 62, 247); ebenso ein fehlerhaftes Anlegen.

     

    8.Kausalität des Nichtanschnallens: Das Nichtanlegen des Gurtes muss für die Entstehung des Schadens (mit-)ursächlich geworden sein. Die mithaftungsbegründende Kausalität ist zu bejahen, wenn ein Anschnallen die konkreten Verletzungen verhindert oder verringert hätte. Der Ersatzanspruch eines Kfz-Insassen, der nicht angegurtet war, darf nur hinsichtlich derjenigen Verletzungen und Folgeschäden (z.B. Verdienstausfall, Heilungskosten) gemindert werden, für die das Nichtangurten ursächlich war (st. Rspr., BGH NJW 80, 2125).

     

    9.Darlegungs- und Beweislast: Der Schädiger/Versicherer muss ein Zweifaches darlegen und beweisen:

     

    a) den Verstoß gegen § 21a Abs. 1 StVO, d.h. aa) die Tatsachen, die die Pflicht zum Anschnallen begründen, und bb) das Unterlassen (= Nichtangurten im Unfallzeitpunkt),

     

    b) die Kausalität der Unterlassung, d.h.: Dem Anspruchsteller muss nachgewiesen werden, dass er angeschnallt nicht oder weniger schwer verletzt worden wäre (st. Rspr., BGH NJW 80, 2125). Hat ein Kfz-Insasse tödliche Verletzungen erlitten, muss der Schädiger im Rahmen der §§ 846, 254 BGB den Nachweis führen, dass das Opfer angeschnallt überlebt hätte (OLG Düsseldorf 6.3.06, 1 U 141/00, Abruf-Nr. 060782).

     

    10.Verteidigung des Anspruchstellers: Er kann sich darauf beschränken, den Sachvortrag des Schädigers zu oben 9a und 9b zu bestreiten. 9a muss substantiiert bestritten werden, wenn der Kläger aus eigenem Wissen nähere Angaben machen kann. Bei Erinnerungslosigkeit ist ein Bestreiten mit Nichtwissen zulässig (LG Stuttgart NZV 04, 409). Ein Bestreiten der Kausalität (9b) liegt in der Behauptung, die Verletzungen seien unabhängig vom Anlegen des Gurtes entstanden. Wird also geltend gemacht, die tatsächlichen Verletzungen und Schäden wären auch im Falle des Anschnallens eingetreten, so wird der ursächliche Zusammenhang zwischen Unterlassung und Erfolg in Frage gestellt. Behauptet der Verletzte dagegen, dass es bei Anlegen des Gurtes zu einem anderen Kausalverlauf gekommen wäre, aufgrund dessen er die gleichen oder doch mindestens ebenso schwere Schäden erlitten hätte, so beruft er sich auf den Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens. Dafür ist er darlegungs- und beweispflichtig (BGH NJW 80, 2125; OLG Düsseldorf DAR 85, 59 Weber, NJW 86, 2667, 2675). Zu den Anforderungen s. OLG Karlsruhe DAR 90, 342. Wegen der unterschiedlichen Verteilung der Darlegungs- und Beweislast sollte der Geschädigte die Zielrichtung seiner Verteidigung klarstellen.

     

    11. Mitverschulden durch Nichtanlegen eines Schutzhelms: Wer ohne Schutzhelm Motorrad/Mofa fährt oder darauf mitfährt, muss sich grds. ein Mitverschulden (§ 254 Abs. 1 BGB) entgegenhalten lassen, wenn und soweit Schadenspositionen von dieser Pflichtwidrigkeit nachweislich berührt sind (BGH NJW 65, 1075; NJW 83, 1380).

     

    12.Darlegungs- und Beweislastfragen bei Verstößen gegen die Helmpflicht: Im Wesentlichen gilt das Gleiche wie für die Gurtpflicht.

     

    13.Anspruchskürzung/Quotelung: Steht fest, dass der Verstoß gegen die Anschnall- bzw. Helmpflicht den Schaden mitverursacht hat, hängt nach § 254 Abs. 1 BGB die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Entscheidend ist, welcher Beitrag den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat (BGH NJW 98, 1137). Da das Nichtangurten in aller Regel für das Zustandekommen des Unfalls nicht (mit)ursächlich ist, geht es nur um die Auswirkungen auf die Körperverletzungen und deren Folgen.

     

    14.Auswirkungsunterschiede: Die Auswirkung des Nichtangurtens auf die einzelnen Verletzungen und deren Folgen kann durchaus unterschiedlich sein. Bei manchen Verletzungen kann jegliche Kausalität fehlen. Grundlegend zur Quotenbildung BGH NJW 80, 2125; NJW 81, 287; NJW 98, 1137. Die Ursächlichkeit des Nichtanschnallens für die verschiedenen Verletzungen muss eindeutig festgestellt werden („Einzelwürdigung“). Selbst bei unterschiedlicher Ursächlichkeit des Nichtangurtens für die einzelnen Körperschäden darf eine einheitliche Quote gebildet werden („Gesamtbetrachtung“). Die Höhe der einheitlichen Mithaftungsquote ist nach § 287 ZPO festzulegen (BGH NJW 81, 287).

     

    15.Gewichtsunterschiede: Dass das Gewicht einer Gurtpflichtverletzung nicht für alle Fälle konstant ist, liegt auf der Hand. Es ist stets unter Berücksichtigung etwaiger zusätzlicher Unfallbeiträge des Verletzten (Fahrfehler, Betriebsgefahr, Mitfahrt mit Betrunkenem u.a.) und insbesondere im Verhältnis zu dem gegnerischen Verursachungs- und Verschuldensbeitrag zu bewerten. Im Einzelfall kann trotz Nichtanlegens des Gurtes die volle Haftung des Schädigers angemessen sein (BGH NJW 98, 1137; NJW 81, 287). Dem Vorwurf grober Fahrlässigkeit kann ein „Gurtmuffel“ ggf. unter Hinweis auf eine Ausrüstung seines Fahrzeugs mit Airbags entgegentreten. Näheres zur Abwägung in den folgenden Quotentabellen (s. auch die Übersicht von Berr, DAR 90, 343 ff.).

     

     

     

    Checkliste „Beweisgrundsätze“
    1.Beweismaß: In beiden Punkten, die zur Beweislast des Schädigers stehen (oben 9a und 9b ), gilt das strenge Beweismaß des § 286 ZPO. Es genügt hier wie da ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit (also keine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, erst recht keine absolute Gewissheit).

     

    2.Anscheinsbeweis für das Nichtanlegen des Gurtes: Anerkannt ist, dass bei bestimmten Verletzungen der Beweis des ersten Anscheins für ein Nichtanlegen des Gurtes sprechen kann (BGH NJW 91, 230). Vom Erfolg (Verletzungsbild) wird also auf ein Verhalten (Nichtanschnallen) geschlossen. Anwendbar ist der Anscheinsbeweis bei Verletzungen, die bei angelegtem Gurt typischerweise nicht eintreten (z.B. Augenverletzungen durch Windschutzscheibe). Anscheinsbeweis bejaht: LG Frankfurt NZV 05, 524; OLG Bamberg VersR 85, 786; OLG Zweibrücken VRS 84, 177; verneint: OLG Düsseldorf 6.3.06, 1 U 141/00, Abruf-Nr. 060782; OLG Köln VRS 103, 81.

     

    3.Erschütterung des Anscheinsbeweises für das Nichtanlegen des Gurtes: Der Anspruchsteller muss die ernsthafte Möglichkeit beweisen, dass die Verletzungen auch bei angelegtem Gurt eintreten konnten, indem z.B. ein Gurtversagen behauptet wird (vgl. BGH NJW 91, 230; OLG Koblenz NZV 92, 278).

     

    4. Anscheinsbeweis für die Ursächlichkeit des Nichtanschnallens: Je nach Fallgestaltung kann sich der Schädiger auf den Beweis des ersten Anscheins der Ursächlichkeit des – unstreitigen oder erwiesenen - Verstoßes gegen die Gurtpflicht berufen (BGH NJW 80, 2125; Weber, NJW 86, 2667 ff.). Voraussetzungen (festgelegt vor Einführung der Airbags!): Frontalkollision ohne gravierende Deformierung der Fahrgastzelle, Kopfverletzungen und/oder Verletzungen an Armen und Beinen/Hüfte (nicht bei HWS- und Bauchverletzungen). Anscheinsbeweis bejaht: BGH VersR 81, 548; OLG Zweibrücken VRS 84, 177; OLG Düsseldorf 24.10.05, I-1 U 217/04, Abruf-Nr. 060783; verneint: OLG Düsseldorf 6.3.06, 1 U 141/00, Abruf-Nr. 060782; OLG Karlsruhe MDR 79, 845; OLG Hamm VRS 76, 112; OLG Köln VRS 103, 81; LG Stuttgart NZV 04, 409.

     

    5.Verteidigung des Verletzten gegen den Kausalitäts-Anscheinsbeweis: Er kann die Tatsachen bestreiten, die den „typischen Geschehensablauf“ begründen sollen, und ferner Umstände ins Feld führen, die den Sachverhalt atypisch erscheinen lassen (ungewöhnlich hohe Aufprallgeschwindigkeit, Mehrfachkollision, Verformung der Fahrgastzelle u.a.). Zum Anscheinsbeweis und seiner Erschütterung sehr informativ Weber, NJW 86, 2267 ff.

     

    6.Aufklärung durch interdisziplinäres Gutachten: Ob der Verletzte angegurtet war oder nicht und wie ein angelegter Gurt sich ausgewirkt hätte, kann vielfach nur durch ein Gutachten eines Unfallanalytikers und eines Unfallmediziners geklärt werden. Die Einholung eines interdisziplinären Gutachtens ausdrücklich zu beantragen, ist in komplexen Fällen, z.B. bei Mehrfachkollisionen, zweckmäßig.

     

    7.Anscheinsbeweis für das Nichttragen eines Helms: Kopfverletzungen sprechen prima facie für einen Verstoß gegen die Helmpflicht.

     

    8.Anscheinsbeweis für die Kausalität zwischen Nichtbenutzen des Helms und eingetretenen Verletzungen: Funktioniert nach dem gleichen Modell wie beim Gurt (vgl. BGH NJW 83, 1380; OLG München NZV 92, 234).