23.04.2008 | Unfallschadensregulierung
Unfallschwerpunkt Grundstücksein- und -ausfahrten
„Ich kam doch von rechts und hatte Vorfahrt“, so der Vorwurf der Frau, die mit ihrem BMW aus einem „Privatweg“ mit offiziellem Straßennamen herauskam. Der Unfallgegner sah das angesichts des Straßenschildes ein. Diametral anders stellte sich die Situation für die Polizei dar. Sie verpasste der Frau die 01. Begründung: Grundstücksausfahrt. Unfälle an Grundstücksausfahrten und beim Abbiegen in ein Grundstück kommen in großer Zahl vor die Gerichte. Über die spezifischen Probleme informieren die folgenden Checklisten.
Checkliste 1: Unfälle an Grundstücksausfahrten: Pflichten und Beweisregeln |
1. § 10 StVO: Wer aus einem Grundstück auf die Fahrbahn einfahren will, muss sich dabei so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Erforderlichenfalls muss er sich einweisen lassen. M.a.W.: normale Wartepflicht plus besondere Vor- und Umsicht („äußerste Sorgfalt“).
2. Grundstücksausfahrtoder öffentlicher Weg/Straße: Für die Einordnung ist vor allem das äußerlich erkennbare Gesamtbild maßgebend, wie es sich aus Ausbau und Verkehrsbedeutung ergibt (BGH NJW-RR 87, 1237; LG Potsdam zfs 08, 10). Zur Unterscheidung Grundstücksausfahrt/öffentlicher Feldweg s. BGH NJW-RR 94, 1303; OLG Rostock MDR 07, 1129; zur Abgrenzung „anderer Straßenteil“ i.S.d. § 10 StVO gegen Straße i.S.d. § 8 StVO s. OLG Naumburg 28.7.06, 10 U 28/06, Abruf-Nr. 081132; OLG Rostock OLGR 07, 437. Wer von einem öffentlichen Parkplatz auf die Straße fährt, fällt unter § 10 StVO (OLG Koblenz 10.7.06, 12 U 449/05, Abruf-Nr. 081133).
3. Ortsbesichtigung/Fotos: Dem Gericht vorgelegte Fotos von der Örtlichkeit können den Antrag auf Ortsbesichtigung gegenstandlos machen (BGH NJW-RR 87, 1237). Sicherheitshalber sollte ein solcher Antrag bei .„schwieriger“ Örtlichkeit trotz vorhandener Fotos stets gestellt werden.
4. Verkehrsberuhigter Bereich (Zeichen 325/326): Durch BGH VA 08, 39 ist geklärt, wo die Sorgfaltspflicht nach § 10 StVO endet und wo Rechts-vor-Links beginnt.
5. Herausfahren aus einem Grundstück: Das Ausfahren aus einem Grundstück ist erst beendet, wenn sich das Kfz in den fließenden Verkehr endgültig eingeordnet hat (KG NZV 07, 359; OLG Köln DAR 06, 27). Solange das Einfahren nicht beendet ist, gilt grds. die Sorgfaltsstufe des § 10 StVO (OLG Düsseldorf 18.2.08, I-1 U 98/07, Abruf-Nr. 081134). Aber Achtung! Die Wartepflicht besteht nur gegenüber sichtbaren Verkehrsteilnehmern. Wer wegen Unsichtbarkeit des späteren Unfallgegners im Zeitpunkt des Einfahrens zum Start berechtigt war, für den gilt für die Weiterfahrt § 1, nicht § 10 StVO (OLG Celle SVR 05, 229; s. aber auch OLG Maünchen DAR 90, 340 – Vorfahrt bleibt trotz anfänglich berechtigter Einfahrt). Die Unsichtbarkeit muss der Ausfahrer beweisen. Selbst ein gelungener Unsichtbarkeitsbeweis hilft ihm nicht weiter, wenn eine Pflicht zum Einweisen bestanden hat (s.u. Punkt 6). Im Übrigen: Der sonst geltende Grundsatz, dass der Wartepflichtige, dem die Sicht auf die Vorfahrtstraße verwehrt ist, in diese so weit hineinfahren darf, bis er Einblick in sie gewinnt, gilt nicht beim Herausfahren aus einem Grundstück.
6. Einweisen: Bei einer Sichtweite von 80 m (bis zur nächsten Kurve) muss ein Wartepflichtiger, der auf eine Straße mit an sich zulässigen 100 km/h auffahren will, tagsüber keinen Einweiser hinzuziehen (BGH VersR 94, 492 – Traktor mit Anhänger; OLG Düsseldorf 18.2.08, I-1 U 98/07, Abruf-Nr. 081134 – Lkw, innerorts). Pro Einweiser BGH DAR 91, 92 (Radlader); OLG München DAR 90, 340 (Parkplatz/Bundesstraße).
7. Anscheinsbeweis: Gegen den, der beim Ausfahren aus einem Grundstück und Einbiegen auf eine Straße mit einem Teilnehmer des fließenden Verkehrs kollidiert, spricht der Anschein schuldhafter Unfallverursachung (OLG Düsseldorf 14.8.06, I-1 U 224/05, Abruf-Nr. 062628; KG NZV 07, 359; OLG Celle NZV 06, 309). Der erforderliche örtliche und zeitliche Zusammenhang besteht noch, wenn der Ausfahrende (innerorts) schon 10 – 15 m auf der Straße zurückgelegt hat (KG VRS 113/07, 33 – Ausparken). Die Vermutungswirkung geht nicht so weit, dass von einem Alleinverschulden des Ausfahrers gesprochen werden kann (so aber OLG Celle MDR 03, 1351; vorsichtiger OLG Köln DAR 06, 27). Die Gerichte gehen von einer durchgängigen Anscheinslage aus (z.B. OLG Celle NZV 06, 309), zerlegen den Einfahrvorgang also nicht in eine Startphase und eine weitere Phase, in der womöglich nicht mehr der strenge § 10 StVO, sondern der mildere § 1 Abs. 2 StVO gilt (s.o. Punkt 5).
8. Erschütterung des Anscheinsbeweises: Angesichts des strengen Sorgfaltsmaßstabs des § 10 StVO ist die Erschütterung des Anscheinsbeweises sehr schwierig. Der Ausfahrer muss die ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Geschehensablaufs darlegen und notfalls beweisen. Im Ansatz hat er zwei Möglichkeiten, die er auch kombinieren kann: Selbst alles richtig gemacht und/oder Verschulden des anderen.
a) Gegnerverschulden: Mit dem Nachweis irgendeiner Verkehrswidrigkeit des Bevorrechtigten ist es i.d.R. nicht getan. So genügt selbst eine unstreitige oder nachgewiesene Geschwindigkeitsüberschreitung nicht in jedem Fall. Bei zulässigen 50 km/h liegen Überschreitungen bis 75 km/h im Bereich des Erwartbaren (Typischen). Zur Ermittlung von Motorradgeschwindigkeiten informativ Priester zfs 07, 74; 07, 137.
Häufig kommt es nicht auf die an sich zulässige Höchstgeschwindigkeit, sondern auf die konkrete Sichtgeschwindigkeit an. Beispiel: Bevorrechtigter durchfährt eine vor der Ausfahrt befindliche Kurve. Profitieren kann der Grundstücksausfahrer von der Angabe (eventuell sogar vorweggenommenes Geständnis!) des Gegners, er sei mit der zulässigen (Höchst)Geschwindigkeit, z.B. 50 km/h oder 100 km/h, gefahren. Das kann angesichts der Streckenführung (Kurven) oder aus sonstigen Gründen (Dunkelheit, Regen) zu schnell gewesen sein.
Eine Missachtung des Sichtfahrgebots muss der Wartepflichtige einkalkulieren. Gelingen kann die Erschütterung, wenn eine „normale“ Geschwindigkeitsüberschreitung mit einem Beleuchtungsverstoß zusammentrifft. Der typische Einwand „ich habe doch längere Zeit da gestanden und war sichtbar“ verfängt i.d.R. nicht (OLG Celle NZV 06, 309); ebenso wenig das „Lücken-Argument“ (KG NZV 96, 365).
b) Eigene Sorgfalt: Wenn die ernsthafte Möglichkeit bestanden hat, dass der Bevorrechtigte selbst bei größter Sorgfalt des Ausfahrers nicht rechtzeitig wahrnehmbar war, kann der Anscheinsbeweis erschüttert sein (OLG Düsseldorf 14.8.06, I-1 U 224/05, Abruf-Nr. 062628). Die „Unsichtbarkeitsgeschwindigkeit“ kann nur ein Sachverständiger ermitteln. Die Wahrscheinlichkeit einer Überschreitung reicht zur Erschütterung aus. |
Checkliste 2: Quotentabelle „Unfälle an Grundstücksausfahrten“ | ||||||||||||||||||||||
(Prozentsatz = Haftungsanteil Grundstücksausfahrer)
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