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  • 24.03.2011 | Unfallschadensregulierung

    Unfallschwerpunkt Grundstücksausfahrt/Grundstückseinfahrt

    von VRiOLG a.D. Dr. Christoph Eggert, Leverkusen

    Rein wie raus kann es hochgradig gefährlich sein. Genau deshalb schreiben die § 9 Abs. 5, § 10 S. 1 StVO vor, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer „ausgeschlossen“ sein muss. Nicht immer lässt sich das zweifelsfrei feststellen. Ob und inwieweit Aufklärungslücken mit einem Beweis des ersten Anscheins geschlossen werden können, ist dann die zentrale Frage. Im Anschluss an VA 08, 77 ff. informieren wir Sie über die neueste Rechtsprechung.  

     

    Übersicht 1: Unfälle an Grundstücksausfahrten
    1. Kriterien einer Grundstücksausfahrt gem. § 10 StVO: Die Klassiker sind Tankstellen- und Parkplatzausfahrten. Mitunter hängt es aber am seidenen Faden, ob der Ausfahrende nach § 10 StVO wartepflichtig war oder gar Vorfahrt nach § 8 StVO hatte (rechts vor links). Maßgebend für die verkehrsrechtliche Einordnung als Ausfahrt ist das Gesamtbild der äußerlich erkennbaren Merkmale bzw. die nach außen in Erscheinung tretende Verkehrsbedeutung (OLG München 6.2.09, 10 U 4845/08, Abruf-Nr. 110903; s. auch BGH VA 08, 39).

     

    Allein die Tatsache, dass die Ausfahrt nicht durch eine Bordsteinkante von der Straße abgegrenzt wurde, besagt nicht zwingend, dass es sich um eine Straße im verkehrsrechtlichen Sinn handelt (OLG München a.a.O.). Das Fehlen eines eigenen Straßennamens unterstreicht den Charakter einer Ausfahrt, während umgekehrt das Vorhandensein eines Straßennamens nur ein Indiz für eine öffentliche Straße ist. Auf die subjektive Einschätzung der Beteiligten kommt es grundsätzlich nicht an (OLG München a.a.O.). Muss der Bevorrechtigte davon ausgehen, dass sein Vorfahrtrecht von anderen Verkehrsteilnehmern aufgrund der örtlichen Umstände möglicherweise nicht erkannt wird, ist er zu besonderer Vorsicht und Rücksichtnahme verpflichtet. Ein Verstoß dagegen ist für die Haftungsabwägung relevant (BGH VA 08, 39).

     

    Wer von einer Einstufung als Grundstücksausfahrt oder umgekehrt als „normale“ Einmündung profitiert, sollte außer aussagekräftigen Fotos der Unfallstelle eine Auskunft der zuständigen Gemeinde zu den Akten reichen. Helfen kann auch die Einordnung der unfallaufnehmenden Polizei.

     

    2. Der verkehrsberuhigte Bereich i.S.v. § 10 StVO: Dazu BGH VA 08, 39; Lamberz NZV 10, 547.

     

    3. Einfahren über einen „abgesenkten Bordstein“ (überführte Einmündung): Auch hier gilt die besondere Sorgfaltspflicht gem. § 10 StVO. Zur Problematik Lamberz NZV 10, 547; s. auch LG Hagen 14.11.07, 10 S 35/07, Abruf-Nr. 073889.

     

    4. Sorgfaltsanforderungen: Zwar wird nicht die für den Entlastungsbeweis nach § 17 Abs. 3 StVG erforderliche äußerste Sorgfalt („Idealfahrer“) verlangt, wohl aber eine Sorgfalt, die der besonderen Gefährlichkeit des Vorgangs „Einfahren in den fließenden Verkehr“ Rechnung trägt. Zumindest missverständlich sind Formulierungen wie „höchstmögliche“ oder „äußerste“ Sorgfalt. Einfahren mit Schrittgeschwindigkeit (5 km/h) kann fahrlässig, zentimeterweises Vorschieben geboten sein (OLG München 6.2.09, 10 U 4845/08, Abruf-Nr. 110903). Ein Einweiser muss nur in besonders gelagerten Fällen hinzugezogen werden (BGH VersR 94, 492). Wer rückwärts aus einem Grundstück herausfährt, muss die Gefährdung anderer zusätzlich nach § 9 Abs. 5 StVO ausschließen (OLG München 27.5.10, 10 U 4431/09, Abruf-Nr. 110904).

     

    5. Anscheinsbeweis ja: Gegen den, der beim Ausfahren aus einem Grundstück und Einbiegen auf eine Straße mit einem Teilnehmer des fließenden Verkehrs kollidiert, spricht der Anschein schuldhafter Unfallverursachung (Verstoß gegen § 10 StVO), st. Rspr., vgl. OLG Hamm NJW 10, 3790; OLG Bremen 25.2.10, 5 U 45/09, Abruf-Nr. 110905; OLG Düsseldorf SP 07, 277.

     

    6. Anscheinsbeweis nein: Nicht einmal für die haftungsbegründende Kausalität, wenn es zu keinem Zusammenstoß gekommen ist, vgl. OLG Naumburg SVR 10, 263 li. Sp. (Pkw/Radfahrer). Zu einem solchen Fall („berührungsloser Unfall“) auch OLG Celle 9.9.09, 14 U 41/09, Abruf-Nr. 110906.

     

    7. Wenn Anscheinsbeweis: Wofür genau?
    • Keine Alleinverschuldensvermutung: Die Vermutungswirkung geht nicht so weit, dass von einem Alleinverschulden des Grundstücksausfahrers gesprochen werden kann (so aber OLG Celle MDR 03,1351; vorsichtiger OLG Köln DAR 06, 27).

     

    • Verschuldens-Splitting? Das Ausfahren aus einem Grundstück ist erst beendet, wenn das Kfz sich in den fließenden Verkehr endgültig eingeordnet hat oder verkehrsgerecht am Fahrzeugrand oder an anderer Stelle abgestellt worden ist (OLG Frankfurt a.M. 18.3.10, 14 U 74/08, Abruf-Nr. 110907; LG Aschaffenburg SP 09, 67). Solange der Ausfahrvorgang nicht beendet ist, ist grundsätzlich die besondere Sorgfalt nach § 10 StVO zu beachten (OLG Düsseldorf 18.2.08, I-1 U 98/07, Abruf-Nr. 081134). Die Gerichte gehen von einer durchgängigen Anscheinslage aus, von dem Anschein eines Verschuldens „höchsten Grades“ (§ 10 StVO) für den gesamten Vorgang des Herausfahrens (z.B. OLG Köln DAR 06, 27).

     

    Gegenposition (wichtig für die Haftungsverteilung): Wer wegen Unsichtbarkeit des anderen Kfz im Zeitpunkt des Einfahrens zum Einfahren berechtigt war, braucht sich hinsichtlich des weiteren Geschehens nur am weniger strengen § 1 StVO messen zu lassen. Ein Verstoß gegen § 10 StVO scheidet nunmehr aus (OLG Celle SVR 05, 229). Mit Blick auf den Anscheinsbeweis (Typizität) spricht mehr für eine pauschale Sichtweise, d.h. für die Annahme einer durchgängig bestehenden Anscheinslage dahin, dass die besondere Sorgfalt i.S.v. § 10 StVO missachtet worden ist. Feinbetrachtungen können auf der Stufe der Erschütterung angestellt werden, ferner bei der Haftungsabwägung. Die Sichtbarkeitsfrage zur Typizität zu ziehen, besteht noch weniger Grund als in „normalen“ Vorfahrtfällen. Um den Anscheinsbeweis zulasten des Ausfahrers zu aktivieren, muss der Geschädigte also nicht darlegen und beweisen, bei Beginn des Einfahrens sichtbar gewesen zu sein.

     

    8. Erschütterung des Anscheinsbeweises: Angesichts der besonderen Sorgfaltsanforderungen gem. § 10 StVO ist das Fenster für eine Erschütterung sehr schmal. Mit dem Nachweis irgendeiner verkehrswidrigen Fahrweise des Bevorrechtigten ist es grundsätzlich nicht getan (OLG Hamm NJW 10, 3790 - Rotlichtverstoß/Fußgängerampel; OLG Bremen 25.2.10, 5 U 45/09, Abruf-Nr. 110905). Der Ausfahrer muss eine Sondersituation vortragen, die die vorläufige Annahme eines Verstoßes gegen § 10 StVO entkräftet.

     

    Eine bloße Geschwindigkeitsüberschreitung genügt dafür nicht. Erst ein krasser Tempoverstoß, der als solcher nachgewiesen sein muss, steht der Einschätzung „typischer Fall“ entgegen. Bei zulässigen 50 km/h sind Überschreitungen bis zu 70 km/h einzukalkulieren. Klassisch ist der Einwand, der andere sei „viel zu schnell gefahren“ und „erst im letzten Augenblick sichtbar“ gewesen. Nicht selten werden zusätzlich Beleuchtungsverstöße geltend gemacht. Für die Erschütterungsfrage gilt: Bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von 65 km/h statt erlaubten 50 km/h sticht das Argument „trotz sorgfältigster Beobachtung nicht sichtbar“ selbst dann nicht, wenn es inhaltlich richtig ist. Denn bei derart schlechtem Einblick in die Straße muss ausnahmsweise ein Einweiser hinzugezogen werden. Schlechte Sicht ist also grds. kein Erschütterungsargument.

     

    Eine Erschütterung hat das OLG Düsseldorf (SP 07, 277) in einem Fall bejaht, in dem die ernsthafte Möglichkeit bestanden hat, dass ein Kradfahrer selbst bei größter Sorgfalt des Ausfahrers nicht rechtzeitig wahrnehmbar war. Die „Unsichtbarkeitsgeschwindigkeit“ hatte der Sachverständige auf 100 km/h festgelegt. Sie war nicht nur möglich, was zur Erschütterung nicht gereicht hätte, sondern laut Gutachten „eher wahrscheinlich“. Siehe auch OLG Düsseldorf SP 10, 279: Etwaige Anscheinsbeweiswirkung widerlegt.

     

    9. Haftungsabwägung: Bei einem Verstoß gegen § 10 StVO und bloßer Betriebsgefahr auf Seiten des Bevorrechtigten (kein nachgewiesenes Verschulden) ist 100 : 0 nach wie vor die Regelquote (OLG Bremen 25.2.10, 5 U 45/09, Abruf-Nr. 110905; OLG München 6.2.09, 10 U 4845/08, Abruf-Nr. 110903). Volle Haftung auch desjenigen Grundstücksausfahrers, der unter Ausnutzung einer Lücke in einer Kolonne nach links auf die Straße aufgefahren ist, bei Kollision mit Kradfahrer (OLG Rostock NJW-RR 11, 29). 70 : 30 zulasten eines Pkw-Fahrers, der aus einer Grundstückszufahrt herauskam und den Sturz eines Radfahrers verursachte, der den Radweg in falscher Richtung befuhr (OLG Celle 9.9.09, 14 U 41/09, Abruf-Nr. 110906). 0 : 100 zugunsten eines Pkw-Fahrers, der über einen Rad-/Gehweg auf die Straße auffahren wollte; Motorroller-Fahrer befuhr den auch für Mofas freigegebenen Radweg mit mind. 46 km/h und stürzte wegen Überbremsung (OLG Düsseldorf SP 10, 279 (kein erwiesenes Verschulden nach § 10 StVO). Weitere Quotenbeispiele in VA 08, 77, 79.
     

     

    Übersicht 2: Unfälle beim Abbiegen in ein Grundstück

    Unfalltyp A: Linksabbieger versus Überholer  

    • Anscheinsbeweis ja:
    Belastet mit dem Anschein schuldhafter Unfallverursachung (§ 9 Abs. 1, Abs. 5 StVO) ist derjenige, der in ein Grundstück einbiegen will, wenn es dabei zu einer Kollision mit einem nachfolgenden (überholenden) Fahrzeug kommt (OLG Düsseldorf 14.08.06, I-1 U 97/06, Abruf-Nr. 081139; KG NZV 10, 470 m.w.N. für „normales“ Linksabbiegen in eine Straße). Vermutet wird ein Verstoß gegen die Blinkpflicht (§ 9 Abs. 1 S. 1 StVO) und/oder die Pflicht zum Einordnen (Satz 2) und/oder die Rückschaupflicht (Satz 4), wobei die zweite die wichtigere ist. Irgendeinen dieser drei möglichen Verstöße begangen zu haben, wird prima facie vermutet. Welcher genau kann offen bleiben.

     

    • Anscheinsbeweis nein:
    • Keine Typizität bei einer Kollision mit nachfolgendem „Kolonnen-Überholer“ (OLG Hamm zfs 06, 498; s.a. OLG Frankfurt 22.2.10, 16 U 146/08, Abruf-Nr. 101054). Eine unstreitige oder erwiesene Geschwindigkeitsüberschreitung kann dem Geschehensablauf schon die Typizität nehmen (z.B. innerorts 80 statt 50 km/h). Kein Anscheinsbeweis für Verletzung der 2. Rückschaupflicht durch schon in Schrägstellung befindlichen Linksabbieger (OLG Celle SP 08, 176).

     

    • Erschütterung: Da Linksabbieger i.d.R. nicht nachweisen können, alle drei in § 9 Abs. 1 StVO genannten Pflichten mit der nach Abs. 5 geforderten Sorgfalt (besonders frühzeitiges Blinken/Einordnen, Rückschau extra gründlich) erfüllt zu haben, bleibt zur Darstellung des Atypischen (ernsthafte Möglichkeit) meist nur die Fahrweise des Überholers: überhöhte Geschwindigkeit, Überholen einer Kolonne, Kolonnenspringer, Überholen bei unklarer Verkehrslage (dazu VA 05, 190 ff.). Bei unstreitig verbotswidrigem Überholen (Zeichen Überholverbot) Erschütterung bejaht von OLG Naumburg 25.3.10, 1 U 113/09, Abruf-Nr. 110908. Die bloße Behauptung, den Überholer trotz ordnungsgemäßer zweifacher Rückschau nicht gesehen zu haben, genügt zur Erschütterung nicht. Hinzu kommen muss eine verkehrswidrige Fahrweise des Überholers, die die Nichterkennbarkeit bzw. eine zu späte Erkennbarkeit zumindest plausibel erklärt (z.B. Kolonnenspringen, Krad kam plötzlich hinter Lkw hervor, Fahrbahnverschwenkung u.a.).

     

    Unfalltyp B: Linksabbieger versus Gegenverkehr  

    • Anscheinsbeweis ja:
    Ein Abbiegeverschulden (§ 9 Abs. 3 S. 1, Abs. 5 StVO) nach Anscheinsbeweisgrundsätzen bejaht die Rspr. auch bei einer Kollision zwischen einem nach links in ein Grundstück Abbiegenden und einem entgegenkommenden Fahrzeug; dies sogar in einem Fall ohne Berührung (OLG Düsseldorf NZV 06, 415 - Pkw/Krad). Angeknüpft wird an die umfangreiche Rspr. in Fällen des Linksabbiegens an „normalen“ Einmündungen (OLG Frankfurt NZV 10, 508; KG NZV 10, 156; OLG Brandenburg NZV 09, 554 m.w.N.). Nach OLG Frankfurt a.a.O. spricht der erste Anschein sogar für ein Alleinverschulden, damit für Schuldlosigkeit der Gegenseite. Das ist selbst im Fall des Grundstücksabbiegers falsch. Vermutet wird nur ein Verschulden, allerdings ein „gesteigertes“.

     

    • Anscheinsbeweis nein:
    • Keine Typizität bei ungeklärter Sichtbarkeit des Entgegenkommenden (Kurve) und feststehender Geschwindigkeitsüberschreitung (OLG Hamm NZV 10, 28 - Linksabbieger ./. Motorrad mit 58 - 71 km/h bei zulässigen 50 km/h). Im ähnlichen Fall pro Anscheinsbeweis OLG Brandenburg NZV 09, 554. Mangels Typizität kein Anscheinsbeweis bei fehlender Berührung zwischen Linksabbieger und Geradeausfahrer (OLG München 8.10.10, 10 U 2128/10, Abruf-Nr. 110909).

     

    • Erschütterung: Ja, wenn der Linksabbieger darlegt und beweist, dass er sich pflichtgemäß verhalten hat (OLG Brandenburg NZV 10, 154; 09, 554), was sich von selbst versteht. Die „ernsthafte Möglichkeit“ einer verkehrswidrigen Fahrweise des Bevorrechtigten genügt nicht (OLG Frankfurt NZV 10, 508). Es müssen Tatsachen nachgewiesen werden, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit ergibt, dass der Bevorrechtigte bei Beginn des Abbiegemanövers noch nicht sichtbar war (OLG Brandenburg NZV 10, 154 m.w.N.). Dafür ist SV-Beweis anzutreten.

     

    Haftungsabwägung für beide Unfalltypen: Siehe die Quotentabelle in VA 08, 80.  

    Quelle: Ausgabe 04 / 2011 | Seite 59 | ID 143304