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  • 18.06.2008 · IWW-Abrufnummer 081849

    Oberlandesgericht Naumburg: Urteil vom 27.02.2008 – 6 U 71/07

    1. Wer entgegen § 21a Abs. 1 Satz 1 StVO den Sicherheitsgurt nicht anlegt, den trifft grundsätzlich ein Mitverschulden gem. § 254 Abs. 1 BGB (BGH - VI ZR 213/79 - und VI ZR 59/97).



    2. Bei schweren Frontalkollisionen mit hohen Geschwindigkeiten ist die Ursächlichkeit der erlittenen Unfallverletzungen jedoch nicht zu vermuten (vgl. auch OLG Karlsruhe - 13 U 205/77), wenn der Verletzte den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, sondern in den Airbag geprallt ist.



    3. Vielmehr muss der Schädiger beweisen, dass dieselben Verletzungen (im konkreten Fall: hintere Hüftluxation mit Acetabulumfraktur) bei Anlegen des Sicherheitsgurts nicht eingetreten wären.


    OBERLANDESGERICHT NAUMBURG
    IM NAMEN DES VOLKES
    URTEIL

    6 U 71/07 OLG Naumburg

    verkündet am: 27.02.2008

    In dem Rechtsstreit

    hat der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Naumburg durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht v. Harbou, den Richter am Oberlandesgericht Manshausen und den Richter am Oberlandesgericht Dr. Strietzel auf die mündliche Verhandlung vom 27.02.2008 für Recht erkannt:

    Tenor:

    I. Auf die Berufung des Klägers wird das am 09.05.2007 verkündete Urteil des Landgerichts Magdeburg (11 O 1059/06) abgeändert.

    1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 8.374,85 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 8.000,00 Euro seit dem 16.08.2005 und aus 374,85 Euro seit dem 29.07.2004 zu zahlen.

    2. Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche künftig entstehende materielle und immaterielle Schäden aus dem Unfallereignis vom 19.11.2003 zu ersetzen.

    II. Die Kosten des Rechtsstreits haben die Beklagten zu tragen.

    III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

    IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

    Gründe:

    I.

    Am 19.11.2003 gegen 19.45 Uhr befuhr der Kläger, ohne den Sicherheitsgurt angelegt zu haben, mit seinem Pkw Toyota, amtliches Kennzeichen ... , die Landstraße 70 im Kreis Sch. zwischen A. und U. in Richtung A. . In der Gegenrichtung fuhr der Beklagte zu 2) mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Pkw Opel, amtliches Kennzeichen ... . Kurz nach Verlassen der Ortschaft A. wechselte der Beklagte zu 2) an einer für ihn nicht übersehbaren Stelle - es war dunkel und es regnete - zwecks Durchführung eines Überholvorgangs auf die Gegenfahrbahn, wo er frontal mit dem klägerischen Pkw kollidierte. Der Kläger erlitt eine Hüftgelenksluxation rechts mit Absprengung eines Fragments aus dem dortigen Pfannenrand. Er befand sich zwei Wochen in stationärer Behandlung - einschließlich operativer Reposition des luxierten Hüftgelenks - und ca. vier Monate in ambulanter Behandlung. Für die mehr als viermonatige Dauer seiner Erwerbsunfähigkeit war er bettlägerig. Seit dem 07.07.2005 ist bis auf Weiteres eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 % gegeben. Der als Maurer tätige Kläger leidet noch heute an Schmerzen und Wetterfühligkeit.

    Die Beklagte zu 1) zahlte vorgerichtlich ein Schmerzensgeld von 7.000,00 Euro (4.500,00 Euro + 2.500,00 Euro). Für beim Unfall beschädigte Sachen - im Wert von 700,00 Euro - und zu Besuchszwecken getätigte Aufwendungen - in Höhe von 549,50 Euro - leistete sie insgesamt 874,65 Euro.

    Mit seiner Klage verlangt der Kläger Schmerzensgeld in Höhe von weiteren 8.000,00 Euro (15.000,00 Euro - 7.000,00 Euro), Schadensersatz in Höhe von weiteren 374,85 Euro (1.249,50 Euro - 700,00 Euro) sowie die Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für alle künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schäden. Er hat vorgetragen, dass ihn kein Mitverschulden treffe, weil bei Anlegen des Sicherheitsgurts dieselben Verletzungsfolgen eingetreten wären. Hinsichtlich der Beschädigung der Sachen habe das Tragen des Sicherheitsgurts ohnehin keine Bedeutung. Die Beklagten haben die Auffassung vertreten, dass sich der Kläger wegen des Nichtanlegens des Sicherheitsgurts ein Mitverschulden von 30 % anrechnen lassen müsse.

    Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Parteien in I. Instanz und der dort gestellten Anträge wird gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO auf die tatsächlichen Feststellungen in der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen (Bl. 119 - 121).

    Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens. Wegen des Beweisergebnisses wird auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. L. S. (Bl. 96 - 106) Bezug genommen.

    Mit am 09.05.2007 verkündeten Urteil hat das Landgericht Magdeburg - unter Abweisung der Klage im Übrigen - die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 2.310,00 Euro nebst Zinsen verurteilt. Hinsichtlich der Gründe wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen (Bl. 121 - 124).

    Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt.

    Der Kläger beantragt,

    das am 09.05.2007 verkündete Urteil des Landgerichts Magdeburg (11 O 1059/06) abzuändern und

    1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens weitere 8.000,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.08.2005 zu zahlen;

    2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 374,85 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 29.07.2004 zu zahlen;

    3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtliche künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 19.11.2003 zu ersetzen.

    Die Beklagten beantragen,

    die Berufung zurückzuweisen.

    Auf das Berufungsvorbringen der Parteien wird verwiesen.

    II.

    Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg. Der Kläger hat gegen die Beklagten als Gesamtschuldner einen Anspruch auf Schmerzensgeld in Höhe - weiterer - 8.000,00 Euro, auf Schadensersatz in Höhe - weiterer - 374,85 Euro und auf Feststellung der Einstandspflicht der Beklagten für alle künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schäden aufgrund des Unfallereignisses vom 19.11.2003 gemäß den §§ 253, 823 Abs. 1 BGB, 3 PflVG.

    1.

    Vorliegend kann unterstellt werden, dass den Kläger am Eintritt seiner Verletzungen ein Mitverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB deshalb trifft, weil er entgegen § 21 a StVO den Sicherheitsgurt nicht angelegt hat. Denn das Verschulden des Beklagten zu 2) ist derart überragend, dass dahinter ein Mitverschulden des Klägers zurücktritt.

    Die Norm des § 254 Abs.1 BGB ist derart auszulegen, dass bei der Abwägung in erster Linie das Maß der Verursachung maßgeblich ist, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben, wobei das beiderseitige Verschulden nur einen Faktor der Abwägung darstellt. Es kommt danach für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maße wahrscheinlich gemacht hat. Die unter diesen Gesichtspunkten vorzunehmende Abwägung kann in besonderen Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, dass einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muss. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass das Gewicht, das der Verletzung der Anschnallpflicht bei der Abwägung der Schadensbeiträge zukommt, nicht für alle Fälle konstant ist. Seine Bewertung hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalls ab, insbesondere von dem Gewicht der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge des Schädigers (BGH, Az. VI ZR 213/79 und VI ZR 59/97; zitiert nach juris). Vorliegend ist von entscheidender Bedeutung, dass die Gefahr, die von dem mit voller Geschwindigkeit bei Dunkelheit und auf regennasser Gegenfahrbahn fahrenden Kraftfahrzeug des Beklagten zu 2) ausging, als ungewöhnlich hoch zu bewerten ist. Hinzu kommt, dass der Zweitbeklagte die Gegenfahrbahn nicht übersehen konnte und trotz dieses Umstandes einen Überholvorgang einleitete. Gegenüber dem Gewicht dieser Verursachungs- und Verschuldensbeiträge des Beklagten zu 2) ist der Unfallbeitrag des Klägers, der sich auf ein ordnungswidriges Verhalten i. S. d. § 49 Abs. 1 Nr. 20 a StVO beschränkt, als gering einzuschätzen und bei der Abwägung nach § 254 Abs. 1 BGB vollständig außer Ansatz zu lassen.

    2.

    Selbst wenn man dies anders beurteilte, wären die Klageanträge begründet, weil sich der Kläger ein Mitverschulden deshalb nicht anrechnen lassen muss, weil die Beklagten die Ursächlichkeit des Nichttragens des Gurts für die eingetretenen Unfallverletzungen nicht bewiesen haben.

    a) Den Verletzten, der im Unfallzeitpunkt entgegen § 21 a Abs. 1 StVO den im Fahrzeug vorschriftsmäßig vorhandenen Sicherheitsgurt nicht angelegt hat, trifft ein Mitverschulden i. S. d. § 254 Abs. 1 BGB an den infolge der Nichtanlegung des Sicherheitsgurts erlittenen Unfallverletzungen (BGH, Az. VI ZR 236/79; zitiert nach juris). Das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts wirkt sich je nach der Art des Unfalls und der dabei erlittenen Verletzungen aber nicht stets in gleicher Weise aus; die Ursächlichkeit dieses Versäumnisses kann selbst innerhalb desselben Unfallgeschehens für das Ausmaß der eingetretenen Schäden verschieden sein. Häufig treten auch Schäden ein, die von diesem Pflichtverstoß nicht beeinflusst sind, weil sie in gleicher Weise und in gleichem Umfang auch entstanden wären, wenn der Verletzte angegurtet gewesen wäre. Bei dem auf den Verstoß gegen § 21 a StVO gestützten Mitschuldeinwand muss der für den Unfall Verantwortliche beweisen, dass dieser Verstoß die Verletzungen - ganz oder doch zum Teil - verursacht hat. Insoweit verbleibende Zweifel gehen, wie immer beim Einwand des Mitverschuldens, auch hier zu Lasten des Haftpflichtigen. Zwar kann sich der Unfallverantwortliche auf einen durch die Erfahrung nahegebrachten Anschein der Ursächlichkeit berufen (prima-facie-Beweis). Das setzt jedoch die Feststellung eines typischen Geschehensablaufs voraus, dessen Vorliegen im Einzelfall zu beurteilen ist (BGH, Az. VI ZR 40/79 und VI ZR 239/89; zitiert nach juris). So ist die Ursächlichkeit zu vermuten, wenn bei einem Frontalzusammenstoß bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 35 - 40 km/h Verletzungen an Kopf und Brust eingetreten sind (BGH, Az. VI ZR 236/79; zitiert nach juris).

    Bei schweren Frontalkollisionen mit hohen Geschwindigkeiten besteht dieser Anscheinsbeweis hingegen nicht (OLG Karlsruhe, Az. 13 U 205/77; zitiert nach juris).

    Entgegen der Auffassung des Vordergerichts (LGU 5) ist vorliegend ein solcher schwerer Frontalzusammenstoß gegeben. Die Fotos (insbesondere auf Bl. 9/10/17/18), die eine massive Deformierung beider Fahrzeuge zeigen, belegen eindrucksvoll, dass die Fahrzeuge mit erheblicher Geschwindigkeit frontal zusammengestoßen sind.

    b) Die Beklagten haben nicht bewiesen, dass dieselben Verletzungen bei Anlegen des Sicherheitsgurts nicht eingetreten wären. Der Sachverständige hat in seinem gerichtlichen Gutachten insoweit zwar ausgeführt, dass im Rahmen einer Studie nachgewiesen worden sei, dass bei einer Geschwindigkeit von 56 km/h die Wahrscheinlichkeit, als unangeschnallter Pkw-Insasse auf den Vordersitzen eine Hüftluxation zu erleiden, auf über 40 % angestiegen sei (S. 7 d. Gutachtens, Bl. 102). Er hat im Weiteren jedoch ausdrücklich festgestellt, "dass nicht geschlussfolgert werden (könne), dass durch das Anlegen des Sicherheitsgurts bei dem unzweifelhaft schwersten Unfallereignis keine hintere Hüftluxation mit Acetabulumfraktur eingetreten wäre." (S. 9 d. Gutachtens, Bl. 104).

    3.

    Der Senat erachtet im Gegensatz zum Vordergericht, das im Ansatz ein Schmerzensgeld von nur 13.000,00 Euro zugrunde legt (LGU 5), ein Schmerzensgeld von 15.000,00 Euro als angemessen. Er berücksichtigt hierbei insbesondere den operativen Eingriff, die Erwerbsunfähigkeit des Klägers über einen Zeitraum von mehr als vier Monaten, die weiterhin bestehende Erwerbsunfähigkeit von 10 %, die erlittenen Schmerzen, die weiterhin bestehenden Schmerzen sowie die durch die Schmerzen gegebene Einschränkung der Lebensqualität.

    Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

    Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

    Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.

    RechtsgebieteStVO, BGBVorschriftenStVO § 21a Abs. 1 Satz 1 BGB § 254 Abs. 1