11.02.2011 · IWW-Abrufnummer 110531
Kammergericht Berlin: Urteil vom 11.10.2010 – 12 U 79/09
1. Hat nach einem Richterwechsel der erkennende Richter lediglich einen von insgesamt sechs Zeugen selbst vernommen und im Urteil ausgeführt, er sei überzeugt, dass die Aussage des Zeugen A nicht richtig sein könne, weil er die entgegen stehenden Angaben der Zeugen B, C, D, E und F für glaubhaft und diese Zeugen für glaubwürdig halte, ohne zu begründen, warum die Aussage des Zeugen A nicht glaubhaft sei, beruht das Urteil auf einem wesentlichen Verfahrensmangel i.S.d. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
2. Die Vernehmung von sechs Zeugen nebst persönlicher Anhörung einer Partei ist eine umfangreiche Beweisaufnahme.
In dem Rechtsstreit
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#### GmbH, vertreten durch
den Geschäftsführer ########
###############,
Klägerin und Berufungsklägerin,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte #########
###############,
g e g e n
1. #######
####################,
2. ############### AG,
vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden
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Beklagte und Berufungsbeklagte,
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwältin ##########
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hat der 12. Zivilsenat des Kammergerichts in Berlin auf die mündliche Verhandlung vom 27. September 2010 durch die Richterin am Kammergericht Zillmann als Einzelrichterin
für R e c h t erkannt:
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das am 12. März 2009 verkündete Urteil der Zivilkammer 17 des Landgerichts Berlin - 17 O 360/06 - einschließlich des zugrunde liegenden Verfahrens aufgehoben.
Die Sache wird zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen, dem auch die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens vorbehalten bleibt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
I. Die am 16. April 2009 eingelegte und mit einem am 18. Mai 2009 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 11. Mai 2009 begründete Berufung der Klägerin richtet sich gegen das am 12. März 2009 verkündete und der Klägerin am 16. März 2009 zugestellte Urteil des Landgerichts Berlin, auf dessen Tatbestand und Entscheidungsgründe Bezug genommen wird.
Das Landgericht hat die Schadensersatzklage der Klägerin auf Grund eines Verkehrsunfalls vom 31. Oktober 2005 nach Beweisaufnahme abgewiesen. Dabei hat es ausgeführt, dass es nach der durchgeführten Beweisaufnahme die Überzeugung gewonnen hat, der klägerische Fahrer sei aus einem der rechten Fahrstreifen des Mehringdamm kommend über die durchgezogene Fahrspurmarkierung und die Linksabbiegerspur in den Mittelstreifendurchbruch gefahren, worauf der Beklagte zu 1. unmittelbar danach mit dem Klägerfahrzeug kollidiert ist. Der Beweis des ersten Anscheins spreche dafür, dass der klägerische Fahrer die ihm bei einem Fahrstreifenwechsel obliegenden Pflichten schuldhaft nicht erfüllt habe.
Das Landgericht hat seine Überzeugung auf die Angaben der Zeugen ###, ### und #### gestützt und ausgeführt, dass gegen eine von der Klägerin behauptete abgesprochene Falschaussage auch die Angaben der Zeugin ###### sprachen. Es hat weiter ausgeführt, dass auch der Beklagte zu 1. und der Zeuge #### einen rechtwinkligen Anstoß des Beklagtenfahrzeugs angegeben hatten. Die Aussagen der Zeugen hat das Landgericht für glaubhaft, die Zeugen für glaubwürdig gehalten.
Deshalb war das Landgericht ausweislich der Beweiswürdigung in dem angegriffenen Urteil davon überzeugt, dass die Bekundungen des Zeugen ###, der den Vortrag der Klägerin bestätigt hat, das klägerische Fahrzeug habe sich auch vor dem Unfall bereits in der Linksabbiegerspur befunden, nicht zutreffen können.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das angegriffene Urteil verwiesen.
Die Berufung der Klägerin rügt eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Landgerichts, weil der entscheidende Richter sich einen persönlichen Eindruck von den Zeugen und deren vermeintlicher Glaubwürdigkeit gar nicht habe verschaffen können. Die Aussage des Zeugen ### habe er überhaupt nicht gewürdigt.
Weiterhin rügt die Berufung eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör, weil das Landgericht kein von der Klägerin beantragtes Sachverständigengutachten eingeholt habe.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des am 12.03.2009 verkündeten und am 16.03.2009 zugestellten Urteils des Landgerichts Berlin zum AZ: 17 O 360/06, die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 12.913,10 EUR sowie außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 361,90 EUR, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 12.12. 2006 zu zahlen,
hilfsweise,
die Sache an eine andere Kammer des Landgerichts Berlin zurück zu verweisen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das angefochtene Urteil und sind der Auffassung, dass die Beweiswürdigung des Landgerichts fehlerfrei sei.
Wegen des weiteren Inhalts des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
II. Die zulässige Berufung ist begründet und führt auf den Hilfsantrag der Klägerin zur Zurückverweisung gemäß § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
1. Entgegen den Ausführungen der Klägerin war der Berufung im Hauptantrag nicht bereits deshalb stattzugeben und die Beklagten zur Zahlung zu verurteilen, weil sich nach der Auffassung der Berufung bereits aus den Anstoßstellen der beteiligten Fahrzeuge ergebe, dass das klägerische Fahrzeug keinen Spurwechsel vorgenommen haben könne.
Den vorliegenden Fotos ist zu entnehmen, dass die hintere linke Ecke des Taxis sowie die hintere linke Rückleuchte beschädigt wurden. Dies spricht nicht gegen einen unmittelbar vor der Kollision vorgenommenen Fahrstreifenwechsel des klägerischen Taxis, welches unstreitig in den Mittelstreifendurchbruch einfahren wollte. Ob dies von der, wie die Klägerin behauptet, Linksabbiegerspur selbst erfolgte oder dergestalt, wie die Beklagten behaupten, dass der klägerische Fahrer unter Kreuzung jedenfalls einer weiteren Fahrspur und der Linksabbiegerspur in den Mittelstreifendurchbruch eingefahren war, lässt sich den Fotos nicht entnehmen.
Soweit die Berufung der Auffassung ist, den Fotos lässt sich jedenfalls entnehmen, dass das klägerische Taxi von dem Beklagtenfahrzeug nicht im 90 Grad Winkel getroffen worden sein könne, mag dies zutreffen; dies spricht jedoch ebenfalls nicht gegen einen Fahrstreifenwechsel des klägerischen Fahrzeugs.
2. Nach § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO darf das Berufungsgericht eine Sache, soweit ihre weitere Verhandlung erforderlich ist, unter Aufhebung des Urteils und des Verfahrens an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen, soweit das Verfahren im ersten Rechtszug an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist.
a. Ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt vor, wenn das Gericht des ersten Rechtszuges unter Verstoß gegen eine Verfahrensnorm entscheidet und dies für das Urteil ursächlich ist. Dies ist insbesondere der Fall bei mangelhafter Tatsachenfeststellung auf Grund rechtsfehlerhafter Beweiswürdigung und damit eines Verstoßes gegen die gemäß § 286 Abs. 1 ZPO bestehende Pflicht zur sachgerechten Bewertung der Beweismittel (Zöller/Heßler, 28. Aufl., § 538 ZPO, Rn 25, 28).
Dies ist vorliegend der Fall.
Das Landgericht hat durch den erkennenden Richter, der lediglich einen der insgesamt sechs Zeugen selbst angehört hat, ausgeführt, dass es überzeugt ist, dass die Aussage des Zeugen ### nicht zutreffen könne, weil es die entgegen stehenden Aussagen der Zeugen ###, ###, ###, #### und ##### für glaubhaft und die Zeugen für glaubwürdig gehalten hat. Eine weitere Begründung, warum es die Angaben des Zeugen #### für nicht glaubhaft gehalten hat sowie Ausführungen zur gegebenenfalls fehlenden Glaubwürdigkeit des Zeugen, enthält das Urteil nicht.
Das Landgericht hat mithin allein deshalb, weil es die Angaben der Zeugen, die die Sachdarstellung der Beklagten stützten, für glaubhaft hielt und Anhaltspunkte die gegen ihre Glaubwürdigkeit sprachen nicht erkannt hat, geschlossen, dass die Aussage des Zeugen #### nicht der Wahrheit entsprechen konnte. Dies war verfahrensfehlerhaft.
b. Stehen sich die Aussagen von mehreren Zeugen unvereinbar einander gegenüber können sachliche Anhaltspunkte außerhalb der Aussage der Zeugen dazu führen, dass lediglich eine Aussage der Wahrheit entsprechen kann. Hierzu finden sich in dem angegriffenen Urteil keine Ausführungen. Anhaltspunkte dafür, dass allein die Version der Beklagten zutreffen kann, das Vorbringen der Klägerin, ihr Fahrer habe sich bereits vor dem Unfall auf der Linksabbiegerspur befunden, mithin nicht richtig sein könne, sind weder der Akte, noch der polizeilichen Ermittlungsakte zu entnehmen.
Die Entscheidung über unvereinbare Zeugenaussagen hängt in einem derartigen Fall von der persönlichen Glaubwürdigkeit der Zeugen ab (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 11. Juli 1990 - VIII ZR 366/89 - NJW 1990, 3088) bzw. führt, sofern der persönliche Eindruck der Zeugen nicht zu einer Entscheidung führt, zu einem non liquet, was im Rahmen der Beweislast zu berücksichtigen ist.
c. Ein Richterwechsel nach einer Beweisaufnahme zwingt nicht grundsätzlich zu deren Wiederholung; frühere Aussagen können durch Auswertung der Vernehmungsprotokolle verwertet werden. Kommt es jedoch auf einen persönlichen Eindruck von den Zeugen an, insbesondere zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugen, so muss das Gericht in der Spruchbesetzung einen persönlichen Eindruck von den Zeugen gewonnen haben oder auf eine aktenkundige Beurteilung zurückgreifen können (vgl. BGH Urteil vom 4. Februar 1997 - XI ZR 160/96 - NJW 1997, 1586; OLG Bremen, Urteil vom 4. Februar 2009 - 1 U 64/08; OLG Düsseldorf, Urteil vom 11. Juli 1991 - 10 U 233/90 - NJW 1992, 187; OLG Brandenburg, Urteil vom 10. Dezember 2008 - 4 U 177/07 - zitiert nach juris).
Hieran fehlte es vorliegend. Das Landgericht hat in dem angegriffenen Urteil für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Aussagen der Zeugen ###, ### und #### allein darauf abgestellt, dass die Aussagen anschaulich, nicht auf das Kerngeschehen reduziert und nicht von auffallender Detailarmut geprägt gewesen seien. Auf den persönlichen Eindruck der Zeugen hat und konnte es hingegen nicht abstellen. Ebenso wenig hat das Landgericht Ausführungen dazu gemacht, dass und weshalb es der Aussage des Zeugen ### nicht zu folgen vermochte.
Das Landgericht wird deshalb die Beweisaufnahme zu wiederholen und die Aussagen der insgesamt sechs Zeugen sowie die persönliche Anhörung des Beklagten zu 1. gemäß dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO zu würdigen haben.
3. Wegen des Umfangs der zu wiederholenden Beweisaufnahme, die die Anhörung des Beklagten zu 1. sowie die Vernehmung von sechs Zeugen erfordert, kommt eine Fortführung des Verfahrens in zweiter Instanz nicht in Betracht.
Die Voraussetzungen des § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, wonach neben dem Vorliegen eines wesentlichen Verfahrensmangels und dem Antrag einer Partei auch das Erfordernis einer umfangreichen oder aufwändigen Beweisaufnahme erfüllt sein muss, sind mithin gegeben.
Umfangreich ist jedenfalls die Vernehmung einer Vielzahl von Zeugen (vgl. Zöller/Heßler, 28. Aufl., § 538 ZPO, Rn. 31 m.w.N.), wobei die Vernehmung von sechs Zeugen sowie die persönliche Anhörung einer Partei darunter fallen.
Zudem ist vorliegend nicht gänzlich ausgeschlossen, dass je nach dem Ausgang der wiederholten Beweisaufnahme noch die Einholung eines von der Klägerin beantragten Sachverständigengutachtens notwendig wird.
Die Zurückverweisung war schließlich auch sachdienlich, weil allein der Gesichtspunkt der Prozessökonomie die Erhebung der notwendigen Beweise durch das Berufungsgericht nicht rechtfertigt. Den Parteien würde damit eine Tatsacheninstanz vollständig genommen. Die Zurückverweisung dient auch dem Interesse der Parteien an der Erhaltung einer Überprüfungsmöglichkeit durch die Berufungsinstanz, da nach der Neufassung des § 513 ZPO keine umfassende zweite Tatsacheninstanz mehr eröffnet ist, sondern in erster Linie eine Fehlerprüfung stattfindet.
Die Frage der Zurückverweisung wurde mit den Parteivertretern im Termin zur mündlichen Verhandlung auf der Grundlage des ihnen zuvor zugegangenen gerichtlichen Hinweises vom 17. Mai 2010 erörtert. Einwendungen haben sie nicht erhoben.
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10 ZPO.
5. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).