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  • 02.03.2012 · IWW-Abrufnummer 120606

    Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 21.12.2011 – III-3 RBs 326/11

    Zu den Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhängung des Regelfahrverbotes (hier bei einem Krankenhausarzt mit Rufbereitschaft)


    Tenor:
    Das angefochtene Urteil wird im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen aufgehoben.

    Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurückverwiesen.

    Gründe

    Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Nichtbefolgung eines Wechsellichtzeichens zu einer Geldbuße von 600 € verurteilt. Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene mit einem Pkw am 18. August 2010 gegen 19.49 Uhr in C die E Straße in Fahrtrichtung Innenstadt. Im Bereich der Kreuzung E Straße / C1 Straße passierte er die dort aufgestellte Lichtzeichenanlage, als das für seine Fahrtrichtung geltende Wechsellichtzeichen bereits seit zumindest 1,24 Sekunden rotes Licht anzeigte.

    Mit ihrer formell und materiell wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten und mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründeten Rechtsbeschwerde, der die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist, wendet sich die Staatsanwaltschaft dagegen, dass das Amtsgericht von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen hat.
    Die nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Die Rechtsfolgenentscheidung des Amtsgerichts hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand.

    Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 BKatV iVm Nr. 132.3 des Bußgeldkatalogs kommt die Anordnung eines Fahrverbotes von einem Monat wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG in der Regel in Betracht, wenn der Fahrzeugführer ein rotes Wechsellichtzeichen bei schon länger als eine Sekunde andauernder Rotphase nicht befolgt. Die vorgenannten

    Regelungen der Bußgeldkatalog-Verordnung begründen auf der tatbestandlichen Ebene eine Vermutung dafür, dass der Verstoß eine grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG darstellt (Deutscher in: Burhoff [Hrsg.], Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl. [2009], Rdnr. 1139), und indizieren auf der Rechtsfolgenseite des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG die Anordnung eines Fahrverbotes als erforderliche und angemessene Sanktion für den Verstoß (Deutscher, a.a.O., Rdnr. 1140).

    Der vom Amtsgericht festgestellte Sachverhalt vermag ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes nicht zu rechtfertigen.

    Nach den Feststellungen des Amtsgerichts ist der Betroffene verheiratet sowie Vater einer Tochter und verfügt über ein geregeltes Einkommen. Er ist als angestellter Oberarzt in einem Krankenhaus in S tätig. Dort ist er als einer von zwei Oberärzten für seine Abteilung verantwortlich. Im Rahmen seiner Beschäftigung hat er an jedem zweiten Wochenende sowie zwei- bis dreimal in jeder Woche Rufbereitschaft. Im Rahmen dieser Rufbereitschaft hat er sich auch außerhalb der normalen Arbeitszeit in der Nähe des Krankenhauses aufzuhalten, um im Falle außerplanmäßiger Notfälle zeitnah an seinem Arbeitsplatz eintreffen zu können.

    Zur Begründung seiner Entscheidung, von der Verhängung eines Fahrverbotes abzusehen, hat das Amtsgericht ausgeführt, der Betroffene sei zum Tatzeitpunkt auf der Rückfahrt vom Krankenhaus zu seiner Wohnung in C gewesen. Während der Fahrt sei er im Rahmen seiner Rufbereitschaft aufgrund eines Notfalles zurück in die Klinik gerufen worden. Noch bevor er die Fahrtrichtung habe ändern können, sei es zu dem festgestellten Verstoß gekommen. Der Betroffene sei aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit auf seine Fahrerlaubnis angewiesen. Aufgrund der Rufbereitschaft müsse er in der Lage sein, sich in kurzer Zeit - auch zur Nachtzeit - in das Krankenhaus begeben zu können. Da auf seiner Station, ihn eingerechnet, nur zwei

    Oberärzte beschäftigt seien, sei es ihm nicht möglich, für die Dauer eines Monates Urlaub zu nehmen.

    Die Vermutungswirkung des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV für das Vorliegen einer groben Pflichtverletzung im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG ist durch die Ausführungen in dem angefochtenen Urteil nicht widerlegt. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte für ein Augenblicksversagen des Betroffenen vor. Eine grobe Pflichtverletzung kann auch nicht deswegen verneint werden, weil sich der Betroffene aufgrund einer Benachrichtigung durch das Krankenhaus auf der Rückfahrt dorthin zu einem Patienten befand. Unabhängig von der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine etwaige Absicht des Betroffenen, einem leidenden Patienten zu helfen, überhaupt geeignet ist, den Handlungsunwert des vorliegenden Fahrlässigkeitsdeliktes zu mindern, lässt sich dem angefochtenen Urteil schon nicht entnehmen, um welche Art von Notfall es sich handelte. Es ist darüber hinaus kaum anzunehmen, dass die Nichtbefolgung des roten Wechsellichtzeichens angesichts der nicht unerheblichen Entfernung zwischen dem Tatort und dem Krankenhaus, in dem der Betroffene arbeitet, überhaupt zu einem messbaren Zeitgewinn für den Betroffenen geführt hat und damit ein geeignetes Mittel zur Abwehr von Gefahren für den Patienten war (vgl. hierzu OLG Düsseldorf, NZV 1996, 122). Schließlich kommt dem Umstand Bedeutung zu, dass der Nichtbefolgung des roten Wechsellichtzeichens ein - zumindest abstraktes, wenn nicht im vorliegenden Einzelfall sogar konkretes - erhebliches Gefahrenpotential innewohnte, das gegen die möglichen nachteiligen Folgen, die ein

    - vermutlich ohnehin kaum messbares - späteres Eintreffen des Betroffenen im Krankenhaus für den Patienten gehabt hätte, abzuwägen ist.

    Auch auf der Rechtsfolgenseite des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG rechtfertigen die Ausführungen des Amtsgerichts ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes nicht.

    Zwar unterliegt die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und demgemäß von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden kann, in erster Linie der Beurteilung durch den Tatrichter (vgl. BGH, NZV 1992, 286). Dem Tatrichter ist jedoch insoweit kein rechtlich ungebundenes, freies Ermessen eingeräumt, das nur auf Vorliegen von Ermessensfehlern hin vom Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar ist, sondern der dem Tatrichter verbleibende Entscheidungsspielraum ist durch in Rechtsnormen niedergelegte oder von der Rechtsprechung herausgearbeitete Zumessungskriterien eingeengt und unterliegt insoweit hinsichtlich der Angemessenheit der verhängten Rechtsfolge in gewissen Grenzen der Kontrolle durch das Rechtsbeschwerdegericht, und zwar insbesondere hinsichtlich der Annahme der Voraussetzungen eines Durchschnittsfalls oder Regelfalls, zu der auch die Frage der Verhängung bzw. des Absehens von der Verhängung des Regelfahrverbots nach der Bußgeldkatalog-Verordnung zu zählen ist (Senat, Beschluss vom 12. Oktober 2007 - 3 Ss OWi 560/07 -, BeckRS 2007, 65091 m.w.N.).

    Nach diesen Maßstäben stellen die vom Amtsgericht angeführten Umstände weder für sich allein noch in der Gesamtschau Gründe dar, die das gesamte Tatbild vom Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle in der Weise abweichend erscheinen lassen, dass ein Absehen von der Verhängung eines Fahrverbotes angemessen wäre. Berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge eines

    angeordneten Fahrverbotes rechtfertigen nicht das Absehen von der Verhängung eines Regelfahrverbotes, sondern nur Härten ganz außergewöhnlicher Art wie z.B. der drohende Verlust des Arbeitsplatzes oder einer sonstigen wirtschaftlichen

    Existenzgrundlage (Senat, a.a.O. m.w.N.). Die Entscheidung über das Absehen vom Regelfahrverbot ist dabei eingehend zu begründen und mit ausreichenden Tatsachen zu belegen; eine unkritische Übernahme der Einlassung des Betroffenen ist insoweit nicht ausreichend (Senat, a.a.O. m.w.N.). Ob gravierende berufliche Nachteile ausnahmsweise ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen können, bedarf dabei der positiven Feststellung und Darlegung der entsprechenden Tatsachen in den Urteilsgründen. Grundsätzlich hat jeder Betroffene berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge des Fahrverbots durch Maßnahmen wie z.B. die teilweise Inanspruchnahme von Urlaub, die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder Taxen, die Heranziehung eines Angestellten als Fahrer, die Beschäftigung eines Aushilfsfahrers oder durch eine Kombination dieser Maßnahmen auszugleichen. Für hierdurch auftretende finanzielle Belastungen muss notfalls ein Kredit aufgenommen werden (Senat, a.a.O. m.w.N.). Belastungen durch einen solchen Kredit, der in

    kleineren und für den Betroffenen tragbaren Raten abgetragen werden kann und der sich - jedenfalls bei einem einmonatigen Fahrverbot im Hinblick auf dessen verhältnismäßig kurze Dauer - in überschaubaren Grenzen bewegt, sind grundsätzlich

    hinzunehmen (Senat, a.a.O. m.w.N.). Insbesondere eine Kombination von Maßnahmen der vorgenannten Art ist, wenn der Betroffene - wie es hier durch das Amtsgericht festgestellt worden ist - über ein geregeltes Einkommen verfügt, als zumutbar anzusehen (Senat, a.a.O.).

    Dass dem Betroffenen insbesondere bei einer Kombination möglicher Ausgleichsmaßnahmen ein Ausgleich der Härten nicht möglich oder zumutbar wäre, geht aus dem Urteil in keiner Weise hervor. Die besonderen Unannehmlichkeiten, die für den Betroffenen aus der Entfernung zwischen seinem Arbeitsplatz und seiner Wohnung

    - nach den Ausführungen der Verteidigerin im Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt die Entfernung ca. 34 km - resultieren, hat er grundsätzlich als Folge der von ihm im Rahmen seiner persönlichen Lebensplanung getroffenen Entscheidung, nicht in unmittelbarer Nähe zu seinem Arbeitsplatz zu wohnen, hinzunehmen. Als Ausgleichsmaßnahmen kommen namentlich die Inanspruchnahme von Urlaub für einen Teil der Fahrverbotsdauer sowie - für die Restdauer des Fahrverbotes - die Benutzung

    öffentlicher Verkehrsmittel und gegebenenfalls während der Rufbereitschaften die Übernachtung in einem Hotel oder einer Pension in Betracht. Zu den Rufbereitschaften merkt der Senat an, dass die nach den Feststellungen des Amtsgerichts bestehende Verpflichtung des Betroffenen, sich während der Rufbereitschaft "in der Nähe des Krankenhauses", das in S gelegen ist, aufzuhalten, es ohnehin kaum zulassen dürfte, dass der Betroffene - wie er es aber auch zur Tatzeit

    getan hat - in diesen Phasen zurück nach Hause nach C fährt.

    Wegen der aufgezeigten Mängel hebt der Senat das angefochtene Urteil nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO im Rechtsfolgenausspruch mit den dazugehörigen Feststellungen auf und verweist die Sache insoweit nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Bielefeld zurück.

    Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass hinsichtlich der Verwertung der Voreintragung des Betroffenen im Verkehrszentralregister (Entscheidung wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr aus dem Jahre 2004) die Regelung in § 29 Abs. 8 Satz 2 StVG zu beachten sein wird.

    Vorschriften§ 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BKatV