05.06.2012 · IWW-Abrufnummer 121686
Oberlandesgericht Bamberg: Beschluss vom 30.03.2012 – 3 Ss OWi 360/12
1. Auch im gerichtlichen Ordnungswidrigkeitenverfahren korrespondiert der grundsätzlichen Verpflichtung des Betroffenen zur Anwesenheit während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung sein Recht auf Teilnahme an der Hauptverhandlung.
2. War die Hauptverhandlung kurzfristig unterbrochen, um dem Verteidiger und dem Betroffenen Gelegenheit zu einer - zuvor gerichtlich verlangten - schriftlichen Formulierung eines Beweisantrages zu geben, verstößt die Fortsetzung der Verhandlung und Urteilsverkündung in Abwesenheit des Betroffenen jedenfalls dann gegen das Teilnahmerecht des Betroffenen, wenn die vorgesehene Unterbrechungsdauer nur kurzfristig überschritten wurde und begründete Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene nicht alsbald noch erscheinen werde, fehlen.
3. Die Ausnahmevorschrift des § 231 II StPO findet im Ordnungswidrigkeiten-verfahren keine entsprechende Anwendung.
Oberlandesgericht Bamberg
Beschluss vom 30. 3. 2012
3 Ss OWi 360/12
Zum Sachverhalt:
Das AG verurteilte den Betr. wegen einer Ordnungswidrigkeit der Pflichtverletzung bei der Einfuhr von Geldmitteln zu einer Geldbuße von 2.000 €. Das Urteil war nach einer etwa 13-minütigen Unterbrechung der Hauptverhandlung, die dem – bis dahin anwesenden – Betr. und seinem Verteidiger zur schriftlichen Formulierung eines angekündigten Beweisantrages gewährt worden war, in deren Abwesenheit verkündet worden, nachdem beide bei Fortsetzung der Hauptverhandlung noch nicht wieder im Sitzungssaal erschienen waren. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Betr. erwies sich als erfolgreich.
Aus den Gründen:
Die gemäß § 79 I 1 Nr. 1 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache bereits mit der Verfahrensrüge der Verletzung des Anwesenheitsrechts des Betr. (§§ 230 I, 338 Nr. 5 StPO i.V.m. §§ 71 I, 73 I OWiG) Erfolg, sodass es eines Eingehens auf die weiteren Verfahrensrügen und die Sachrüge nicht bedarf.
1. Nach dem durch das Sitzungsprotokoll bewiesenen Rechtsbeschwerdevorbringen wurde die in Anwesenheit des Betr. und seines Verteidigers durchgeführte Hauptverhandlung vom 17.11.2011 zur schriftlichen Formulierung eines vom Verteidiger angekündigten Beweisantrags um 08.42 Uhr unterbrochen und um 08.53 fortgesetzt, ohne dass der Betr. oder sein Verteidiger wieder erschienen waren.
Nachdem diese auch nach mehrmaligem Aufruf um 08.55 Uhr den Sitzungssaal noch nicht betreten hatten, wurde das Urteil „durch Verlesen der Urteilsformel und mündliche Mitteilung des wesentlichen Inhalts der Urteilsgründe“ verkündet. Das Sitzungsende ist in der Sitzungsniederschrift mit 09.00 Uhr festgehalten.
2. Die Verkündung des Urteils in Abwesenheit des Betr. nach Fortsetzung der Hauptverhandlung war unzulässig:
a) Das Gesetz verlangt grundsätzlich, dass der Betr. während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung anwesend ist, wie sich aus § 230 I StPO, § 73 I OWiG, aber auch aus § 338 Nr. 5 StPO ergibt. Mit der für das Ordnungswidrigkeitenverfahren in § 73 I OWiG ausdrücklich statuierten Verpflichtung des Betr. zum Erscheinen in der Hauptverhandlung korrespondiert sein Recht auf Teilnahme an dieser als Ausprägung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (OLG Jena zfs 2010, 109 ff.).
b) Eine Ausnahme von diesem Grundsatz, die eine Fortführung der Hauptverhandlung, hier insbesondere die Urteilsverkündung durch Verlesen der Urteilsformel und damit eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung (vgl. §§ 268 II 1, 273 I 1 StPO; BGH NStZ 1989, 283 ff. m.w.N.) in Abwesenheit des Betr. rechtfertigen könnte, ist nicht gegeben. Abgesehen davon, dass § 231 II StPO im Ordnungswidrigkeitenverfahren keine entsprechende Anwendung findet (KK/Senge OWiG 3. Aufl. § 73 Rn. 6; Göhler/Seitz OWiG 15. Aufl. § 71 Rn. 28), wären dessen Voraussetzungen auch nicht gegeben. Wie die GenStA in ihrer Antragsschrift […] zutreffend ausführt, setzt § 231 II StPO ‚eigenmächtiges’ Fernbleiben voraus. Eigenmächtig handelt nur der Betr., der versucht, die Hauptverhandlung durch seine Abwesenheit bewusst unwirksam zu machen, der vorsätzlich die Pflicht zur Anwesenheit verletzt und dadurch dem Gang der Rechtspflege entgegentritt. Als Ausnahmevorschrift darf § 231 II StPO nicht erweiternd ausgelegt werden. Die Voraussetzungen für die Eigenmacht müssen nachgewiesen werden, was gegebenenfalls durch das Rechtsbeschwerdegericht im Freibeweisverfahren zu prüfen ist (BGH NStZ 1989, 283 ff. m.w.N.).
c) Hier ist ein eigenmächtiges Ausbleiben des Betr. nicht zu erkennen. Dass er nach der wohl für die Dauer von 10 Minuten angeordneten Unterbrechung der Hauptverhandlung nicht nach genau 13 Minuten wieder erschienen war, würde jedenfalls, wäre § 231 II StPO anwendbar, nach den gesamten Umständen, insbesondere dem für die Unterbrechung gegebenen Grund im vorliegenden Fall kein ‚eigenmächtiges’ Fernbleiben begründen. Allein die Feststellung, dass der Betr. bei einer „Nachschau vor dem Sitzungssaal nicht mehr festgestellt werden konnte“, genügt hier nicht.
d) Ebenso wenig lagen die Voraussetzungen für eine im Ordnungswidrigkeitenverfahren bei unentschuldigter Abwesenheit des Betr. auch in einer nach Unterbrechung fortgesetzten Hauptverhandlung allein vorgesehene Entscheidung nach § 74 II OWiG (KK/Senge aaO.; Göhler/Seitz §§ 71 Rn. 28, 74 Rn. 28) vor. Denn selbst dann, wenn der Betr. ohne ausreichende Entschuldigung nicht pünktlich zur Hauptverhandlung erschienen ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er nicht mehr erscheinen werde, ist eine Wartezeit von 15 Minuten bis zu einer Verwerfungsentscheidung angemessen (OLG Jena NJW-Spezial 2012, 43 m.w.N.). Ist das alsbaldige Erscheinen des Betr. angekündigt oder sonst mit ihm zu rechnen, kann auch eine längere Wartezeit angezeigt sein (KK/Senge § 74 Rn. 31; Göhler/Seitz § 74 Rn. 28, jeweils m.w.N.). Nichts anderes kann im vorliegenden Fall gelten. Insbesondere bestanden hier Anhaltspunkte dafür, dass der Betr. - wie nach dem Rechtsbeschwerdevortrag „ca. 13 - 14 Minuten“ nach erfolgter Unterbrechung zeitgleich mit dem Aufruf der folgenden, auf 09.00 Uhr anberaumten Sache geschehen - alsbald noch erscheinen werde. Denn die Hauptverhandlung war für die schriftliche Formulierung eines Beweisantrages, wofür der Verteidiger einen Zeitbedarf von 10 Minuten geschätzt hatte, unterbrochen worden. Bereits die angekündigte Stellung eines noch schriftlich zu formulierenden Beweisantrages legt das alsbaldige Erscheinen des Betr. bei Fortsetzung der Hauptverhandlung nahe. Darüber hinaus ist nicht fernliegend, dass eine derartige schriftliche Formulierung mehr als 10, gegebenenfalls auch 13 Minuten in Anspruch nehmen kann. Für den Betr. war nach diesen Umständen nicht erkennbar, dass die Hauptverhandlung exakt nach 11 Minuten fortgesetzt und nach 13 Minuten mit der Verkündung des Urteils begonnen würde.