05.10.2012 · IWW-Abrufnummer 122970
Oberlandesgericht Düsseldorf: Beschluss vom 22.08.2012 – IV 1 RBs 121/12
Allein die theoretische Möglichkeit, der Betroffene werde seinen Entschluss zum Schweigen in der Hauptverhandlung überdenken, reicht nicht aus, ihm die Befreiung von seiner Verpflichtung zum Erscheinen zu verweigern.
IV 1 RBs 121/12
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF
BESCHLUSS
In der Bußgeldsache
wegen Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr
hat der 1. Senat für Bußgeldsachen durch die Richterin am Oberlandesgericht als Einzelrichterin, § 80a Abs. 1 OWiG, nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft
am 22. August 2012 beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Krefeld vom 25. Mai 2012 wird zugelassen.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben und die Sache, zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Krefeld zurückverwiesen.
Gründe
I.
Durch Bußgeldbescheid vom 30. November 2011 wurde gegen den Betroffenen wegen Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage eine Geldbuße von 90 € festgesetzt. Seinen Einspruch hat das Amtsgericht mit Urteil vom 25. Mai 2012 gemäß § 74 Abs. 2 OWiG verworfen, weil der von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nicht entbundene Betroffene dem Termin zur Hauptverhandlung ohne genügende Entschuldigung ferngeblieben sei. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde.
Der Zulassungsantrag hat mit der ordnungsgemäß ausgeführten Verfahrensrüge der Verletzung rechtlichen Gehörs Erfolg.
Nach § 79 Abs. 1 Satz 2, § 80 Abs. 1 Nr. 2, Abs. - 2 Nr. 1 OWiG ist die Rechtsbeschwerde auf Antrag stets — unabhängig von der Höhe der Geldbuße — zuzulassen; wenn es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Das ist hier der Fall. Das Amtsgericht hat den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt, weil es dessen Einspruch rechtsfehlerhaft nach § 74 Abs. 2 OWiG verworfen hat, ohne den Vorwurf im Bußgeldbescheid sachlich überprüft zu haben. Der Betroffene war nicht ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben. Seinen rechtzeitig gestellten Antrag, ihn von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden, hat das Amtsgericht rechtsfehlerhaft abgelehnt (Beschluss vom 24. Mai 2012 sowie zu Beginn der Hauptverhandlung).
1. Nach § 73 Abs. 2 OVVIG entbindet das Gericht den Betroffenen auf seinen Antrag von der Verpflichtung zum Erscheinen in der Hauptverhandlung, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die Entscheidung ist nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt. Der Betroffene muss entbunden werden, wenn die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (BayObLG DAR 2001, 371 f.; OLG Stuttgart zfs 2002, 253 f.; OLG Dresden zfs 2003, 374 f.; OLG Hamm VRS 107 [2004], 120, 123; 124, 126; OLG Karlsruhe zfs 2005, 154 f.; KG, NStZ 2011, 584 f.; jeweils m.w.N.; st. Rspr. des Senats).
2. Der Betroffene hat durch seinen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger mit Vertretungsacht (Vollmacht BI. 15 GA) eingeräumt, der Fahrer gewesen zu sein, und unter Bestreiten des Rotlichtverstoßes erklärt, dass er keine weiteren Angaben zur Sache machen werde. Damit war keine weitere Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sacherhalts durch ihn zu erwarten. Denn es ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen der anwaltlich vertretene Betroffene sein Aussageverhalten im Sinne einer weiteren Sachverhaltsaufklärung ändern sollte. Allein die theoretische Möglichkeit, der Betroffene werde seinen Entschluss zum Schweigen in der Hauptverhandlung überdenken, reicht nicht aus, ihm die Befreiung von seiner Verpflichtung zum Erscheinen zu verweigern (vgl. KG NStZ 2011, 584 f.). Die Annahme in dem Beschluss des Amtsgerichts vom 24. Mai 2012, das Erinnerungsvermögen der Zeugen sei größer, wenn sie den Betroffenen zu Gesicht bekämen, wird gleichfalls nicht durch einzelfallbezogene konkrete Tatsachen gestützt. Solche ergeben sich hier auch nicht daraus, dass der Betroffene gegenüber den polizeilichen Zeugen einen Rotlichtverstoß bestritten hatte. Daraus lässt sich jedenfalls nicht entnehmen, dass die Erinnerung der polizeilichen Zeugen an den Vorfall notwendig an den optischen Eindruck von dem Betroffenen geknüpft ist (vgl. hierzu Senat, Beschluss vom 14. Dezember 2011, IV-1 RBs 144/11) oder der hier zur Rede stehende Fall aufgrund anderer Anknüpfungspunkte an den Eindruck der Zeugen von dem Betroffenen aus der Masse gleichgelagerter Fälle heraussticht. Vielmehr erscheint es fernliegend, dass die Zeugen, die seither etliche gleichgelagerte Vorgänge bearbeitet haben dürften, sich nach etwa sechs Monaten besser an den Vorfall hätten erinnern können, wenn sie den Betroffenen in der Hauptverhandlung gesehen hätten. Allein die rein theoretische Möglichkeit, polizeiliche Zeugen könnten sich nach längerer Zeit an ein von ihnen beobachtetes Fehlverhalten eines Betroffenen im Straßenverkehr besser oder überhaupt erst erinnern, wenn sie den Betroffenen in der Hauptverhandlung sehen, reicht zur Ablehnung eines Entbindungsantrags nicht aus (vgl. KG DAR 2011, 146).
Schon wegen dieses Mangels ist das angefochtene Urteil nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, §§ 353, 354 Abs. 2 Satz 1 StPO aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückzuverweisen.