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  • 11.01.2013 · IWW-Abrufnummer 130016

    Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Urteil vom 08.11.2012 – 30804/07

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
    5. Sektion
    Neziraj ./. Deutschland ( Beschwerdenummer: 30804/07)
    Urteil vom 8.11.2012

    Verfahren

    1. Der Rechtssache lag eine Beschwerde (Nr. 30804/07) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die der serbische Staatsangehörige Herr Nerim Neziraj („der Beschwerdeführer“) am 13.07.2007 nach Art. 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hat.
    2. Der Beschwerdeführer wurde von Herrn U. Sommer vertreten, einem in Köln ansässigen Rechtsanwalt. Die deutsche Regierung („die Regierung“) wurde vertreten von einem ihrer Bevollmächtigten, Herrn H.-J. Behrens, Ministerialrat des Bundesjustizministeriums.
    3. Der Beschwerdeführer trug vor, dass sein Recht auf Zugang zu einem Gericht, sein Recht auf rechtliches Gehör und sein Recht, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl gemäß Art. 6 Abs. 3 lit. c verteidigen zu lassen, in dem gegen ihn gerichteten Strafverfahren verletzt worden war. Er beschwerte sich darüber, dass das Berufungsgericht seine Berufung ohne jede Untersuchung seiner Begründung verworfen hatte, weil er der Hauptverhandlung selbst nicht beiwohnte, obwohl sein Anwalt anwesend und zu seiner Verteidigung bereit war.
    4. Am 3. März 2010 war die Beschwerde der Regierung übermittelt worden. Ebenso war entschieden worden, über die Zulässigkeit und die Begründetheit der Beschwerde gleichzei-tig zu befinden (Art. 29 Abs. 1).
    5. Die Regierung Serbiens war über ihr Recht, dem Verfahren beizutreten (Art. 36 Abs. 1 der Konvention und Regel 44 der Verfahrensordnung) informiert worden, hatte jedoch an-gezeigt, dieses Recht nicht ausüben zu wollen.

    Sachverhalt
    I. Die Umstände der Rechtssache

    6. Der Beschwerdeführer wurde 1979 geboren und ist aktuell im Gefängnis von Remscheid inhaftiert.

    A. Das Verfahren vor den Strafgerichten

    7. Am 3. Februar 2003 verurteilte das Amtsgericht Köln den Beschwerdeführer wegen einer Körperverletzung zu einer Geldstrafe 100 Tagessätzen zu jeweils 15,00 EUR,nachdem es eine Hauptverhandlung durchgeführt hatte, in der der Beschwerdeführer und sein Anwalt anwesend waren und Zeugen angehört worden waren. Der Beschwerdeführer hatte Freispruch beantragt.
    8. Vertreten durch seinen Verteidiger legte der Beschwerdeführer Berufung gegen dieses Urteil ein.
    9. Am 11.09.2003 fand eine Hauptverhandlung vor dem Landgericht Köln statt, bei der der Verteidiger des Beschwerdeführers anwesend war, während der Beschwerdeführer selbst nicht persönlich erschien. Mehrere Zeugen waren ebenfalls geladen. Der Verteidiger des Beschwerdeführers erklärte, dass ein Haftbefehl wegen verschiedener anderer Vorwürfe gegen den Beschwerdeführer erlassen worden sei. Der Beschwerdeführer habe es daher vorgezogen, nicht in der Hauptverhandlung persönlich zu erscheinen, er wolle allerdings von seinem Verteidiger vertreten werden. Er machte geltend, dass im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 3 lit. c der Konvention der Angeklagte das Recht habe, in einer Berufungsverhandlung von einem Anwalt vertreten zu werden.
    10. Durch Urteil vom selben Tag verwarf das Landgericht entsprechend dem Antrag des Staatsanwalts die Berufung des Beschwerdeführers. Es stellte fest, dass der Beschwerdefüh-rer seine Beschwerde innerhalb der vorgeschriebenen Frist eingelegt hatte. Er habe es je-doch ohne ausreichende Entschuldigung versäumt, selbst vor dem Landgericht in der Hauptverhandlung, zu der er geladen war, zu erscheinen. Er sei ebenfalls nicht berechtigt, sich durch einen Verteidiger vertreten zu lassen. Aus diesen Gründen musste seine Berufung entsprechend § 329 Abs. 1 S. 1 der Strafprozessordnung verworfen werden.
    11. Am 26. September 2003 verwarf das Oberlandesgericht Köln die Revision des Be-schwerdeführers, in der dieser sich auf seine Verteidigungsrechte aus Artikel 6 der Konven-tion bezogen hatte, als unbegründet, da im Urteil des Landgerichts ein Rechtsfehler nicht zu erkennen sei.
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    Würdigung durch den Gerichtshof

    a. Zusammenfassung der einschlägigen Grundsätze

    45. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass die Voraussetzungen des Absatzes 3 des Artikel 6 als spezielle Ausprägungen des Rechts auf ein faires Verfahren anzusehen sind, wie sie durch Absatz 1 garantiert sind. Er untersucht daher auf diese Rechte bezogene Be-schwerden unter einem gemeinsamen Aspekt (s. inter alia, Poitrimol v. France, 23
    November 1993, § 29, Series A no. 277-A; Krombach v. France, no. 29731/96, § 82, ECHR 2001-II).
    46. Zum wiederholten Male hatte der Gerichtshof sich mit der Frage zu befassen, ob ein Angeklagter, der ordnungsgemäß geladen war und aus freien Stücken auf sein persönliches Erscheinen ohne Entschuldigungsgründe verzichtete, berechtigt sei, sich durch einen „Ver-teidiger seiner Wahl“ im Rahmen des Artikel 6 Abs. 3 lit. c verteidigen zu lassen.
    47. In seine Präzedenzfällen („case-law“) führte der Gerichtshof aus, es sei im Interesse eines fairen Strafverfahrens von besonderer Bedeutung, dass ein Angeklagter persönlich erscheinen solle, und zwar sowohl im Hinblick auf sein rechtliches Gehör als auch im Hinblick auf die Notwendigkeit, die Richtigkeit seiner Ausführungen zu überprüfen und sie den Aussagen des Opfers, dessen Interessen zu schützen sind, sowie den Aussagen der Zeugen gegenüberzustellen (s. inter alia, Poitrimol, oben angeführt § 35; und Krombach , o.angeführt § 86). Dies galt generell auch für eine weitere Anhörung in der Berufungsinstanz (s. inter alia, Lala v. the Netherlands, 22 September 1994, § 33, Series A no. 297-A; und Pelladoah v. the Netherlands, 22 September 1994, § 40, Series A no. 297-B). Der Gesetzgeber hat dementsprechend ungerechtfertigtem Nichterscheinen vor Gericht entgegenzuwirken (s. u.a. Poitrimol aaO, § 35; Van Geyseghem v. Belgium (GC), no. 26103/95, § 33, ECHR 1999-I; und Van Pelt v. France, no. 31070/96, § 66, 23.Mai 2000).
    48. Der Gerichtshof betonte allerdings, dass es ebenfalls für die Fairness eines strafgericht-lichen Systems von entscheidender Bedeutung sei, dass der Angeklagte angemessen vertei-digt wird und zwar sowohl in der ersten als auch in der Berufungsinstanz (s. u.a., Lala, oben angeführt, § 33; Pelladoah, oben angeführt, § 40; Van Pelt, oben angeführt, § 66; und Kari-Pekka Pietiläinen v. Finnland, no. 13566/06, § 31, 22.September 2009).
    49. Der Gerichtshof entschied durchweg, dass das letztere Interesse überwog und folgerichtig die Tatsache, dass ein Angeklagter trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschien, ihn auch bei Ermangelung von Entschuldigungsgründen nicht seiner Rechte auf Verteidigung gemäß Art. 6 Abs. 3 der Konvention berauben konnte (s. Lala, oben angeführt, § 33; Pelladoah, oben angeführt, § 40; Van Geyseghem, oben angeführt, § 33; Van Pelt, oben angeführt, § 66; Harizi v. France, no. 59480/00, § 49, 29.März 2005; and Kari-Pekka Pietiläinen, oben angeführt, § 31).
    50. Der Gerichtshof betonte in diesem Zusammenhang, dass das Recht eines jeden einer Straftat Beschuldigten, effektiv durch einen - gegebenenfalls von Amts wegen beigeordneten - Anwalt verteidigt zu werden, auch ohne Absolutheitsanspruch zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehört. Ein Angeklagter verliert dieses Recht nicht allein deshalb, weil er zu der Verhandlung nicht erscheint (s. Poitrimol, oben angeführt, § 34; Van Geyseghem, oben angeführt, § 34; Stroek v. Belgium, nos. 36449/97 und 36467/97, § 23, 20. März 2001; Goedhart v. Belgium, no. 34989/97, § 26,20. März 2001, and Kari-Pekka Pietiläinen, oben angeführt, § 32).
    51. Wenngleich der Gesetzgeber ungerechtfertigter Abwesenheit entgegenwirken muss, kann er das Ausbleiben nicht dadurch bestrafen, dass er Ausnahmen zum Recht auf Beistand eines Verteidigers schafft. Die legitime Forderung, dass der Angeklagte in der Verhandlung anwesend sein muss, kann durch andere Mittel als den Entzug des Rechts auf einen Verteidiger durchgesetzt werden(s. Van Geyseghem, oben angeführt, § 34; Van Pelt, oben angeführt, § 67; and Kari-Pekka Pietiläinen, oben angeführt, § 32). Es ist Aufgabe der Gerichte sicher zu stellen, dass das Gerichtsverfahren fair ist und dementsprechend dafür zu sorgen, dass der Anwalt, der vor Gericht zu dem augenscheinlichen Zweck erscheint, seinen Mandanten in dessen Abwesenheit zu verteidigen, dazu Gelegenheit erhält (s. u.a. Van Geyseghem, oben angeführt, § 33; and Kari-Pekka Pietiläinen, oben angeführt, § 31).

    b. Anwendung dieser Grundsätze auf dem vorliegenden Fall

    52. Der Gerichtshof stellt fest, dass der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall Beschwerde darüber erhoben hat, dass sein Recht auf gerichtlichen Zugang, sein Recht auf Gehör und sein Recht, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, gerade vor dem Berufungsgericht verletzt wurde, da seinem Verteidiger nicht gestattet wurde, die Verteidigung in seiner Abwesenheit zu führen und seine Berufung ohne jede Untersuchung seiner Begründung verworfen wurde. Er überprüft die Beschwerde, die im Wesentlichen den Problembereich im Hinblick auf das Recht des Beschwerdeführers thematisiert, sich durch einen Anwalt verteidigen zu lassen. In Konsequenz der Weigerung des nationalen Gerichts, dem Verteidiger des Beschwerdeführers dessen Verteidigung in Abwesenheit zu gestatten, wirft der Fall darüber hinaus Fragen im Hinblick auf das Recht des Beschwerdeführers auf Zugang zum Gericht und im Hinblick auf die Fairness des Verfahrens auf. Der Gerichtshof hat daher die Beschwerden im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 1 u. Abs. 3 lit. c. zusammen zu untersuchen.
    53. Der Gerichtshof stellt weiterhin fest, dass der vorliegende Fall ein Berufungsverfahren des Beschwerdeführers durch Wiederholung einer mündlichen Verhandlung betrifft. Diese Berufungshauptverhandlung war die letzte Instanz, in der nach nationalem Recht der Fall vollständig im Hinblick auf tatsächliche und rechtliche Fragen untersucht werden konnte. Dennoch war der Verteidiger des Beschwerdeführers nicht berechtigt, diesen in seiner Ab-wesenheit ohne einen anerkannten Entschuldigungsgrund zu vertreten. Diese Situation ist daher vergleichbar mit den Fällen Poitrimol (zitiert oben § 28, 32), Lala (zitiert oben § 33), Pelladoah (zitiert oben § 38), Van Geyseghem (zitiert oben § 29,) Van Pelt (zitiert oben §§ 62, 65), Goedhart (zitiert oben § 24), Stroek (zitiert oben § 21), Harizi (zitiert oben § 51) und Kari-Pekka Pietiläinen (zitiert oben, § 25). Darüber hinaus war in dem Fall Krombach dem Beschwerdeführer nicht gestattet worden, sich durch seinen Verteidiger in seiner Abwesenheit bei der gerichtlichen Anhörung erster Instanz vertreten zu lassen. Trotzdem betrachtet der Gerichtshof diesen Fall ebenso vergleichbar im Hinblick auf die in den vorbezeichneten Fällen erörterte Problematik, da der Beschwerdeführer gleichermaßen nicht zu einer Verhandlung erschien, zu der er ordnungsgemäß geladen war (ebenda §§ 83, 86).
    54. In diesen Fällen, die vier verschiedene Vertragsstaaten der Konvention betrafen, ent-schied der Gerichtshof, dass die betroffenen Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers Vorrang genossen vor den Interessen der Öffentlichkeit und des Opfers, der Abwesenheit des Beschwerdeführers während des Gerichts entgegenzuwirken. Die berechtigte Forde-rung, dass ein Angeklagter bei seiner Anhörung vor dem Gericht anwesend sein muss, war durch andere Mittel umzusetzen als der Beraubung des Rechts auf Verteidigung durch sei-nen Anwalt (s. insbesondere §§ 49 u. 51 oben). Dementsprechend kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass es in all den angeführten Fällen zu einer Verletzung des Artikel 6 Abs. 1 und 3 lit. c gekommen war.
    55. Der Gerichtshof nimmt in diesem Zusammenhang das Argument der Regierung und des Bundesverfassungsgerichts zur Kenntnis, wonach im deutschen Strafprozessrecht der Angeklagte nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Anwesenheit hat, und dass er aus diesem Grund auf sein Anwesenheitsrecht in einer Hauptverhandlung nicht verzichten kann. Die Anwesenheit und das Verhalten des Beschwerdeführers - auch wenn dieser von seinem Schweigerecht Gebrauch machen will - war für die Strafgerichte von Bedeutung, um ihrer Pflicht der Wahrheitssuche und der Fixierung einer angemessenen Strafe zu entsprechen.
    56. Der Gerichtshof bemerkt, dass er bereits zuvor mit ähnlichen Argumenten beklagter Vertragsstaaten befasst war. So war in dem Fall Van Geyseghem beispielsweise von der be-troffenen Regierung argumentiert worden, dass die Anwesenheit des Angeklagten eine ordentliche Rechtspflege ebenso erleichterte wie sie der individuellen Tat gerecht werdende Urteile erlaubte (ebenda § 31). Der Gerichtshof stimmte dieser Argumentation zu und betonte die Wichtigkeit, dass ein Angeklagter im Hinblick auf eine faire Rechtspflege erscheinen solle. Er gab jedoch zu bedenken, dass das berechtigte Anliegen, wonach Angeklagte zu ihrem Verfahren zu erscheinen haben, durch andere Mittel umgesetzt werden sollte als durch eine Beraubung des Verteidigungsrechts der betroffenen Person (s. dort §§ 33,34).
    57. Der Gerichtshof stellt des weiteren fest, dass nach dem Vortrag der Regierung die zitierten Fälle sich vom aktuellen Fall sowohl hinsichtlich der tatsächlichen als auch der rechtlichen Situation unterscheiden sollen.
    58. Die Regierung trägt zum einen vor, dass der Sachverhalt in den Fällen Poitrimol, Krom-bach und Lala (alle oben angeführt) von dem vorliegenden Fall abweicht. Die Beschwerde-führer in den früheren Fällen waren schon in ihrer Abwesenheit durch das Gericht erster Instanz verurteilt worden. Demgegenüber war der Beschwerdeführer in vorliegendem Fall in der Hauptverhandlung in der ersten Instanz des Amtsgerichts anwesend, bevor seine Berufung durch das Landgericht ohne jede Untersuchung seiner Begründung verworfen worden war.
    59. Der Gerichtshof bemerkt, dass in den von der Regierung angeführten Fällen die Be-schwerdeführer tatsächlich aus unterschiedlichen Gründen in ihrer Abwesenheit durch die zuständigen Gerichte erster Instanz verurteilt worden waren. Andererseits waren in ande-ren der vorbezeichneten Fälle die Beschwerdeführer von den Gerichten erster Instanz in ihrer Anwesenheit verurteilt worden (s. insbesondere Pelladoah, oben angeführt, §§ 10-11; Van Geyseghem, oben angeführt, § 12; Van Pelt, oben angeführt, §§ 14-18; and Kari-Pekka Pietiläinen, oben angeführt, § 6). Dieser faktische Unterschied war daher für die Entschei-dung des Gerichtshofs in den vorbezeichneten Fällen nicht entscheidend.
    60. Der Gerichtshof nimmt des weiteren das Argument der Regierung zur Kenntnis, dass der vorliegende Fall sich deswegen von den Fällen Van Geyseghem und Krombach unterscheidet, da nach deutschem Recht die prozessualen Voraussetzungen vom Gericht auf eigene Initiative hin zu überprüfen sind, ohne dass es hierzu eines Antrages eines Anwalts bedürfe.
    61. Der Gerichtshof bezieht sich auf seine Urteilsgründe in dem Fall Van Geyseghem, wonach das Berufungsgericht in jenem Fall beispielsweise von Amts wegen gesetzliche Verfolgungsbeschränkungen (s. dort §§ 31 und 35) und damit mögliche Verfahrenshindernisse zu untersuchen hatte. Er berücksichtigte dies und betonte trotzdem die verbleibende Tatsache, dass der Verteidiger einen unersetzlichen Beitrag zur Lösung der Streitigkeiten leistet und sein Auftreten notwendig ist, wo das Recht der Verteidigung wahrzunehmen ist (s. dort § 35). Ähnlich erörterte der Gerichtshof dies im Fall Krombach, wonach das nationale Gericht dem Verteidiger des Beschwerdeführers eine Gelegenheit hätte gewähren müssen, seine rechtlichen Argumente vorzutragen (den Ausschlussgrund per rem judicatam und die non bis in idem Regel – weitere Verfahrenshindernisse), welche die Rechtsprechung selbst zu untersuchen hatte ( siehe dort § 90). Hieraus folgt, dass entsprechend dem bestehenden Fallrecht des Gerichtshofs entscheidend war, dass es den Verteidigern der Beschwerdeführer unmöglich war, zu deren Gunsten Argumente vorzubringen, einschließlicher gesetzlicher Überlegungen beispielsweise im Hinblick auf Verfahrenshindernisse, unabhängig von der Frage, ob die innerstaatlichen Gerichte diese schon von Amts wegen zu untersuchen hatten.
    62. Daneben argumentierte die Regierung, dass im Gegensatz zu anderen Rechtssystemen der Angeklagte nach deutschem Recht durch einen Wiedereinsetzungsantrag oder eine Revision eine abermalige Überprüfung der Berechtigung seiner Abwesenheit ebenso erreichen kann wie die fehlende Berücksichtigung des Gerichts, von Amts wegen Verfahrenshindernisse zu untersuchen.
    63. Der Gerichtshof nimmt zur Kenntnis, dass insoweit gewisse Unterschiede in den Geset-zessystemen der beklagten Staaten in vorbezeichnetem Verfahren bestehen. Allerdings sieht in einigen dieser Staaten das jeweilige Gesetz das Recht einer Wiedereinsetzung vor, wenn der Angeklagte eine sachliche Entschuldigung vorbringen kann, weshalb er nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen konnte und weshalb es ihm unmöglich war, dies zeitnah anzukündigen (s. z.B. Kari-Pekka Pietiläinen, oben angeführt, § 11), oder unter Umständen besteht die Möglichkeit einer Revision (s. z.B. Lala, oben angeführt, §§ 12-13; and Van Geyseghem, oben angeführt, §§ 18-20). Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass gewisse Unterschiede gleichwohl keine Rolle bei der Beurteilung gespielt hatten, dass eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und 3 lit. c in dem vorliegendem Fallrecht gegeben war.
    64. Der Gerichtshof ist des Weiteren nicht von der Argumentation der Regierung über-zeugt, dass er eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 und 3 lit. c der Konvention im Fall Kari-Pekka Pietiläinen nur aufgrund der speziellen Umstände dieses Falles festgestellt habe. Er stellte in diesem Fall fest, dass die im zitierten Fallrecht begründeten Prinzipien angewandt wurden und dass das innerstaatliche Berufungsgericht die Verpflichtung gehabt hätte, dem Verteidiger des Beschwerdeführers die Verteidigung zu gestatten, und zwar auch in dessen Abwesenheit. Weitere Begründungen, warum im entschiedenen Fall dies „im besonderen zutreffend“ war, bestätigten und verstärkten lediglich die festgestellte Konventionsverletzung (ebenda § 34).
    65. Abschließend ergänzt der Gerichtshof, dass seine Schlussfolgerungen in dem dargestellten Fallrecht zu dem Streitgegenstand nicht von der Frage abhingen, ob die Unzulässigkeit der Berufung des Beschwerdeführers nach innerstaatlichem Recht als Sanktion für ein Sich-Entziehen des Angeklagten angesehen werden kann. Er stellt allerdings fest, dass in einer Anzahl von untersuchten Beschwerdefällen – wie im vorliegenden Fall – vor der versäumten Hauptverhandlung ein Haftbefehl gegen die Beschwerdeführer ergangen war (s. z.B. Poitrimol, oben angeführt, § 20; Lala, oben angeführt, § 10; and Goedhart, oben angeführt, § 10). Dieser Umstand war für die Überlegungen des Gerichtshofs nicht entscheidend. Er wiederholt in diesem Zusammenhang, dass ein Angeklagter nicht verpflichtet war, sich der Haft auszuliefern, um sein Recht sicherzustellen, eine Verhandlung unter konventionsgemäßen Bedingungen des Artikels 6 zu führen (s. Krombach, oben angeführt, § 87).
    66. Hieraus folgt, dass die fixierten Grundsätze des Fallrechts des Gerichtshofs (s. §§ 45-51) aufgrund der entscheidenden Umstände der früheren Fälle auch anzuwenden sind auf den vorliegenden Fall, der insoweit nicht differenziert betrachtet werden kann, weder auf der Grundlage des Sachverhalts noch auf Grund von Unterschieden des innerstaatlichen Strafrechts.
    67. Es lag damit eine Verletzung von Artikel 6 Abs. 1 in Verbindung mit Artikel 6 Abs. 3 lit. c der Konvention vor.

    Im Ergebnis zustimmendes Sondervotum der Richterinnen Power-Forde und
    Nussberger

    Mit der Mehrheit haben wir eine Verletzung festgestellt, gleichwohl halten wir ein Über-denken des häufig kritisierten und umstrittenen Fallrechts des Gerichtshofs zu Artikel 6 Abs. 3 lit. c der Konvention für sinnvoll, das nach unserer Ansicht die Staaten zu Reformen der Strafprozessordnungen veranlasst, die weder notwendig noch hilfreich sind.

    Artikel 6 Abs. 3 lit. c der Konvention definiert als Minimalstandard des Strafprozesses, dass jedermann, der einer Straftat beschuldigt wird, das Recht hat, sich selbst oder durch einen Anwalt seiner Wahl verteidigen zu lassen.

    Während das Recht auf Verteidigung („legal assistance“), deutlich darauf abzielt, dem Be-schuldigten die Unterstützung eines Anwalts zu sichern, hat der Gerichtshof diese Voraus-setzung als Recht des Beschuldigten auf Abwesenheit vom Gerichtsverfahren und Vertre-tung durch einen Anwalt interpretiert. Während dies bei Rechtssystemen akzeptabel er-scheinen mag, bei denen das Strafprozessrecht ein Verfahren in Abwesenheit erlaubt und hier das Recht des Angeklagten auf rechtliches Gehör nicht abgesichert ist, kann diese Be-trachtung nicht auf Gesetzessysteme übertragen werden, die Verhandlungen in absentia nicht zulassen, aber bestimmte Konsequenzen oder Sanktionen an die unentschuldigte Ab-wesenheit des Angeklagten in der zweiten Instanz knüpfen, nachdem der Fall schon voll-ständig durch das Gericht erster Instanz verhandelt worden war.

    Anerkanntermaßen ist das rechtliche Gehör des Angeklagten eine der wesentlichen Garan-tien des Artikels 6 der Konvention. Die andere Seite der Münze ist, dass der Angeklagte auch zu hören muss, nicht nur den an ihn gestellten Fragen, sondern auch den Vorwürfen, den Ausführungen der Zeugen und Sachverständigen und – insbesondere – den Darstellun-gen des Opfers seiner Leiden. Die persönliche Konfrontation mit und das Bewusstsein über die öffentliche Diskussion über das Verbrechen und die Schuld des Angeklagten ist eine Voraussetzung für eine effektive Rehabilitation und Reintegration in die Gesellschaft, die das grundsätzliche Ziel der Bestrafung ist. Auch wenn der Rechtsanwalt im Stande ist, Argumente für die Verteidigung des Angeklagten im Gerichtssaal vorzutragen, kann er seinen Mandanten nicht ersetzen. Wenn der Angeklagte nicht an der Hauptverhandlung teilnimmt, in der faktische und rechtliche Fragen diskutiert werden, verliert der Prozess seinen Hauptzweck.

    Aus diesem Grund hat der Gerichtshof stets betont, „dass es von überragender Bedeutung ist, dass der Angeklagte vor Gericht erscheint, sowohl wegen seines Anspruchs auf rechtli-ches Gehör als auch wegen der Notwendigkeit, die Richtigkeit seiner Darstellungen zu überprüfen und sie mit denen der Zeugen und denen des Opfers, dessen Interessen ebenfalls zu schützen sind, zu vergleichen. Der Gesetzgeber muss dementsprechend im Stande sein, ungerechtfertigte Abwesenheiten zu vermeiden“ (s. Poitrimol v. France, 23 November 1993, § 35, Series A no. 277-A).

    Aus unserer Sicht ist es nicht zutreffend abzuwägen zwischen der Pflicht des Gesetzgebers, ungerechtfertigte Abwesenheiten zu verhindern, und dem Recht des Angeklagten, angemessen verteidigt zu werden. Dies würde der Unterscheidung zwischen dem Recht auf Verteidigung und dem Recht auf Abwesenheit vom Verfahren nicht gerecht. Unbestritten hat der im Verfahren anwesende Angeklagte das Recht, sich durch einen Beistand verteidigen zu lassen. Dennoch teilen wir nicht die Ansicht des Gerichtshofs, dass der Angeklagte das durch Artikel 6 Abs. 3 lit. c der Konvention garantierte Recht auf Verteidigung durch einen Anwalt verlieren würde. Ihm wird schlicht das Recht entzogen, sich durch seinen Anwalt ersetzen zu lassen, einem Recht, dass in der Konvention nicht garantiert ist.

    Das Fallrecht des Gerichtshofs ist verwirrend: Allein aufgrund des Wunsches des Angeklagten nach einer abermaligen Verhandlung hat jedermann anwesend zu sein, und Zeugen können sogar gezwungen werden, an dieser Verhandlung teilzunehmen; derweil ist es dem Angeklagten gestattet, abwesend zu bleiben. Die Vorstellung ist schwierig, wie eine Wiederholung der gesamten Untersuchung der Tatsachen- und Rechtsfragen eines Falles in zweiter Instanz ohne die Anwesenheit des Angeklagten besser dem Zweck der Wahrheitssuche und der Festlegung einer fairen Strafe dienen könnte als dieselbe Untersuchung in erster Instanz in Anwesenheit des Angeklagten.