05.07.2013 · IWW-Abrufnummer 132071
Amtsgericht Kempten: Beschluss vom 07.05.2013 – 22 OWi 145 Js 70/11
Die freie Beweiswürdigung gem. §§ 46 OWiG, 261 StPO ist ureigene Aufgabe des Tatrichters und kann nicht durch innerdienstlichen Weisungen oder Rechtsmeinungen der Exekutive eingeschränkt werden.
Amtsgericht Kempten (Allgäu)
22 OWi 145 Js 70/11
In dem Bußgeldverfahren gegen pp.
Verteidiger:
Rechtsanwalt Ziegler Achim, Bachgasse 7 - 9, 88400 Biberach
wegen OWi StVO
erlässt das Amtsgericht Kempten (Allgäu) durch den Richter am Amtsgericht Schlosser am 07.05.2013 folgenden
Beschluss
1. Der Betroffene wird freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.
Gründe:
I.
Das Gericht konnte durch Beschluss gem. § 72 Abs. 1 OWiG entscheiden.
Der Betroffene war nicht anzuhören, da er freigesprochen wurde. Die Staatsanwaltschaft Kempten hat bereits mit Verfügung vom 07. Januar 2011 erklärt, dass sie einer Entscheidung durch Beschluss nicht wiederspreche.
II.
Gegen den Betroffenen wurde am 15.09.2010 ein Bußgeldbescheid durch das Polizeiverwaltungsamt erlassen, in dem ihm vorgeworfen wird, am 07.09.2010 gegen 14.45 Uhr die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der B 309 Höhe Wertachbrücke im Gemeindegebiet Oy-Mittelberg um 28 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften überschritten zu haben und deshalb wurde gegen den Betroffenen ein Bußgeld von 160,00 EUR nebst Gebühren und Auslagen sowie ein Fahrverbot von 1 Monat verhängt.
Nach form- und fristgerechtem Einspruch des Betroffen Termin zur Hauptverhandlung bestimmt. Diese Hauptverhandlung wurde abgesetzt, nachdem der Betroffene über seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 08.03.2011 umfangreiche Gründe vortrug, warum die durchgeführte Messung nicht ordnungsgemäß gewesen sei. Insoweit wird auf den Schriftsatz des Verteidigers vom 08.03.2011 (BI. 28 – 34 d.A.) verwiesen. Mit Beschluss vom 21.04.2011 ordnete das Gericht die Einholung eines Sachverständigengutachtens an, um die Ordnungsgemäßheit der Messung zu überprüfen.
Das fertiggestellte Gutachten wurde am 05.04.2012 eingereicht, zu diesem Zeitpunkt war bereits Verfolgungsverjährung gern. § 31 OWiG eingetreten.
Der Betroffene ist jedoch freizusprechen, da der Sachverhalt durch die bislang erfolgte Beweisaufnahme geklärt ist.
III.
Der Betroffene ist freizusprechen, da aufgrund des eingeholten und überzeugenden Sachverständigengutachten nicht geklärt werden kann, dass die am 07.09.2010 um 14.45 Uhr von der VP1 Kempten durchgeführten Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen ordnungsgemäß war.
Die Einholung eines gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachtens war notwendig und rechtm äßig.
Die vom Polizeibeamten G. durchgeführte Geschwindigkeitsmessung erfolgte mit dem Lasergeschwindigkeitsmessgerät FG21-P, Hersteller Riegel, Softwareversion 1.12. Dieses Geschwindigkeitsmessgerät besitzt eine Bauartzulassung des physikalisch-technischen Bundesamtes in Braunschweig und es handelt sich daher um ein sogenanntes standardisiertes Messverfahren. Bei der Verwendung eines solchen Messverfahrens ist grundsätzlich die Feststellung der Beachtung der Formalien der Bedienungsanleitung ausreichend für die ordnungsgemäße Geschwindigkeitsmessung, allerdings nur dann, wenn keine konkreten Einwendungen gegen die Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung im Einzelfall erhoben werden. In diesen Fällen ist die Bezugnahme auf die Erfüllung der formalen Voraussetzungen gemäß der Bedienungsanleitung und deren Angabe zur Feststellung der Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung ausreichend. Wenn jedoch konkrete Einwendungen gegen die Richtigkeit einer Geschwindigkeitsmessung, auch im Falle eines Einsatzes eines standardisierten Messverfahrens, im Einzelfall erhoben werden und eine Beweiserhebung erfolgt, so ist eine umfassende Kontrolle des gesamten Messvorgangs in seinen Einzelheiten in aller Regel auch durch eine Sachverständigenbegutachtung durchzuführen (vergleiche BGH in NJW 1993 S. 3081 ff. S. 3083).
Im Übrigen ist die freie Beweiswürdigung gem. §§ 46 OWiG, 261 StPO eine ureigene Aufgabe des Tatrichters und kann nicht durch irgendwelche innerdienstlichen Weisungen oder Rechtsmeinungen der Exekutive eingeschränkt werden.
Im vorliegenden Falle hat der Betroffene über seinen Verteidiger umfangreiche konkrete Einwendungen gegen die Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung im Einzelfall erhoben und deshalb war ein entsprechender Beweisbeschluss zur Überprüfung der Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung unter Beachtung der Einwendungen des Betroffene durch Anordnung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens ergangen. In diesem kann eine bloße Berufung auf die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens und die Erfüllung der Voraussetzungen nicht mehr ausreichend sein. Die Beweiserhebung ist notwendig, damit das Gericht zu einer sicheren Überzeugung bezüglich der Schuld des Betroffenen gelangen kann.
Die Versuche des Sachverständigen, unterstützt durch das Gericht, in den folgenden Monaten zur Überprüfung der konkreten Geschwindigkeitsmessung die erforderlichen Unterlagen vom physikalisch-technischen Bundesamt in Braunschweig und vom Hersteller zu bekommen, müssen im Zusammenhang mit vier weiteren Ordnungswidrigkeitenverfahren gesehen werden, die etwa im gleichen Zeitraum zu einer Begutachtung zum Sachverständigen gingen.
Insbesondere ging es bei der Erstellung dieses Gutachtes und auch der Gutachten in den vier anderen Ordnungswidrigkeitenverfahren bezüglich der ordnungsgemäßen Geschwindigkeitsmessung darum, dass neben der Überprüfung der formalen Anforderungen (Eichmarke, Aufstellung, etc.), der Umsetzung der aktuellen Bedienungsanleitung und eventuell eines Funktionstestes weitere Unterlagen zur Messwertbildung benötigt wurden, um die durch das Gerät als durchgeführte Messung zu begutachten. Diese Unterlagen betrafen sowohl den Aufbau (Hardware) der Messanlage als auch die Funktionsweise (Software). Trotz intensiven Schriftwechsels zwischen den vom Gericht beauftragten und auch ausdrücklich ermächtigen Sachverständigen Dipl.-Ing. P., sowie mehrerer Schreiben des Gerichts selbst, war es nicht möglich, die erforderlichen Unterlagen der physikalisch-technischen Bundesanstalt in Braunschweig oder des Herstellers zu erhalten.
Weitere Versuche, über die Polizeibehörden oder das Bayerische Innenministerium ein Gerät zu erhalten, um selbst erforderliche Tests durchzuführen, scheiterten sowohl durch die Bemühungen des Sachverständigen als auch des Gerichts. Auf den umfangreichen Schriftwechsel in den Akten darf verwiesen werden.
Die von der physikalisch-technischen Bundesanstalt vorgebrachten Argumente waren im Wesentlichen, dass eine Amtshilfe durch Übersendung von Unterlagen verweigert wird, da der Hersteller Anspruch auf die Geheimhaltung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen habe und diese nicht unbefugt offenbart werden.
Die Polizeibehörden und auch das Innenministerium haben sich im Wesentlichen in der Argumentation darauf berufen, dass es sich um ein standardisiertes Messverfahren handele und deshalb eine Beweisaufnahme überhaupt nicht erforderlich sei.
Die vielfältigen Bemühungen des Sachverständigen und auch des Gerichts, doch noch die erforderlichen Unterlagen zur umfassenden Begutachtung zu erlangen, waren letztendlich der Grund, dass eine weitere verjährungsunterbrechende Handlung (z.B. die Anberaumung einer Hauptverhandlung) nicht mehr rechtzeitig erfolgen konnte und deshalb Verfolgungsverjährung eingetreten ist. Aufgrund der Tatsache, dass das Sachverständigengutachten jedoch bereits rechtzeitig in einem erheblichen Maße fertiggestellt war und aus diesem Grunde, wenn nicht die restlichen Unterlagen beigebracht werden können, dennoch eine hinreichende Tatsachengrundlage bildet, um eine Sachentscheidung zu treffen, wurde das Verfahren fortgesetzt.
Darüber hinaus hatte die Verfahrensweise für das Gericht eine grundsätzliche Bedeutung für die vielen in der Zukunft gelagerten gleichwertigen Fälle. Darum war es zur Überzeugung des Gerichts notwendig, sämtliche Möglichkeiten auszuschöpfen , um doch noch zu den notwendigen Unterlagen zu kommen.
In Zukunft wird das Gericht deshalb davon ausgehen, dass es bei den in den konkreten Fällen erforderlichen Unterlagen subjektiv unmöglich ist, von der physikalisch-technischen Bundesanstalt in Braunschweig, oder den Herstellern der betreffenden Geräte technische Unterlagen, insbesondere zur Messwertbildung und der eigentlichen Funktion der Messgeräte zu bekommen. Weiterhin geht das Gericht auch in zukünftigen Fällen davon aus, dass es subjektiv unmöglich ist, von der Exekutive Geräte rechtzeitig zur Sachverständigenbegutachtung zur Verfügung gestellt zu bekommen. Die Defizites die sich daraus notwendigerweise für ein Sachverständigengutachten ergeben, werden auf strafprozessuale Weise erledigt.
Aufgrund des überzeugenden Sachverständigengutachten des Sachverständigen P. kann dem Betroffenen eine Geschwindigkeitsüberschreitung nicht mit der für eine Verurteilung hinreichenden Sicherheit nachgewiesen werden, da die Ordnungsmäßigkeit der konkreten Geschwindigkeitsmessung anhand der vorhandenen Unterlagen nicht ausreichend überprüft werden konnte.
Durch das Gutachten wurde zunächst festgestellt, dass er konkret durchgeführte Visiertest nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Der Sachverständige führte überzeugend aus, dass laut dem Messprotokoll der Align-Test und der Null-Test offensichtlich auf ein Verkehrszeichen in einer Entfernung von 186 m durchgeführt wurden. Hierbei handelte es sich um ein rundes Geschwindigkeitszeichen und darunter ein rundes Überholverbotszeichen. Beide Verkehrszeichen sind nach den Ausführungen des Sachverständigen wegen ihrer geometrischen runden Form nicht geeignet, einen sinnvollen Visiertest durchzuführen. Hinzu kommt, dass durch die Strahlaufweitung des Lasers der Durchmesser bereits etwa die gleiche Größe wie das Verkehrszeichen hat.
Weiterhin führte der Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend aus, dass es zur Überprüfung der Richtigkeit einer Messung der Klärung der technischen Zusammenhänge der Funktionsweise des Messgerätes bedarf. Für das Gericht nachvollziehbar führt der Sachverständige aus, dass Bedienungsanleitung und Bauartzulassung hierzu nicht ausreichend sind. Bezüglich der Versuche des Sachverständigen an die erforderlichen Unterlagen zu kommen, darf nochmals auf die umfangreiche Darstellung im Sachverständigengutachten selbst verwiesen werden.
Der Sachverständige führt für das Gericht überzeugend aus, dass jede durchgeführte Messung beeinflusst werde durch innere und äußere Bedingungen und regelmäßig zu systematischen oder zufälligen Fehlern führe. Zur Prüfung der Richtigkeit einer Messung sei daher die Kenntnis der Funktionsweise eines Messgerätes (und nicht nur des Messprinzips) erforderlich. Ohne die erforderlichen Kenntnisse können die Funktionsweisen der besagten Örtlichkeit und deren Einflüsse nicht bestimmt werden.
Aus mehreren anderen Versuchen sei bekannt, dass in dem vorliegenden Messverfahren durch Reflexionen durchaus Fehlmessungen erzeugt werden können. Hinsichtlich der geringen Messentfernung und der großen zur Verfügung stehenden Fläche ist die Leistungsdichte des Laserimpulses noch ausreichen hoch, sodass Reflexionen durchaus in Betracht kommen können.
Der Sachverständige kommt zu dem Schluss, dass es aufgrund des vorhandenen Beweismaterials nicht möglich gewesen sei, zu bestimmen, ob die konkrete Geschwindigkeitsmessung an dieser Örtlichkeit ordnungsgemäß war. Ohne weitere Unterlagen zur Funktionsweise des Messgerätes könnten vorhandene Einflüsse nicht sicher ausgeschlossen werden. Die Messung könne richtig sei, müsse es aber nicht!
Das Gericht ist aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen ebenfalls von diesem Ergebnis überzeugt. Bei der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung im Strafverfahren beziehungsweise Ordnungswidrigkeitenverfahren ist nochmals zu betonen, dass es nicht mit den Regeln einer strafprozessualen Beweisaufnahme vereinbar ist, eine sachverständige Überprüfung auf die äußeren Umstände eines standardisierten Messverfahrens zu beschränken. Möglicherweise zivilrechtliche Tatbestände (aus dem Urheberrecht, dem Markenschutz oder dem Patentschutz), auf die sich das physikalisch-technische Bundesamt beruft, k önnen auf keinen Fall zu einer Verkürzung der Rechte des Betroffenen im Strafprozess führen, da dies eine unzulässige Beeinträchtigung der Grundrechte des Betroffenen darstellen würde.
Der Betroffene war daher auf Kosten der Staatskasse freizusprechen.
Kostenentscheidung §§ 46 OWiG, 467 StPO