18.06.2015 · IWW-Abrufnummer 144674
Kammergericht Berlin: Beschluss vom 22.03.2015 – 3 Ws (B) 132/15 - 122 Ss 38/15
Zum Absehen vom Fahrverbot bei der Störung privater Abläufe (Hier: Betroffener besucht seine im Pflegeheim wohnende Ehefrau).
Kammergericht
3 Ws (B) 132/15 - 122 Ss 38/15
Beschluss
In pp.
wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit
hat der 3. Senat für Bußgeldsachen des Kammergerichts am 22. März 2015
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft B. wird das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 26. Januar 2015 im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe:
Der Polizeipräsident in B. hat gegen den Betroffenen wegen vorsätzlichen Überschreitens der zulässigen innerorts geltenden Höchstgeschwindigkeit um 45 km/h eine Geldbuße von 230,00 Euro festgesetzt, ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet und nach § 25 Abs. 2a Satz 1 StVG eine Bestimmung über dessen Wirksamwerden getroffen. Auf seinen auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil zu einer Geldbuße von 400,00 Euro verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen. Aufgrund der rechtskräftigen Feststellungen des Bußgeldbescheids ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass der Betroffene am Tattag, dem 7. August 2014, um 5.30 Uhr die BAB 113 (innerorts) in Richtung Norden befuhr und hierbei die zulässige Geschwindigkeit vorsätzlich um 45 km/h überschritt. Das Amtsgericht hat dem Betroffenen darüber hinaus geglaubt, dass er „dringend eine Toilette habe aufsuchen müssen und die Autobahn leer gewesen“ sei (UA S. 2).
Ferner hat es dem Betroffenen geglaubt, dass er seine Ehefrau in einem Pflegeheim in W. an jedem Wochenende besuche, sie einmal im Monat mit dem Auto nach Hause hole und mit ihr auch Arztbesuche, „die von Pflegeheimmitarbeitern nicht begleitet würden“, erledige (UA S. 2). Auch ist es dem Betroffenen darin gefolgt, dass „das Heim vom Bahnhof aus anderweitig nur schwer zu erreichen“ sei (UA S. 2). Schließlich hat das Amtsgericht dem Betroffenen geglaubt, dass seine betreut wohnenden Eltern zunehmend hilfsbedürftig würden und er Besorgungen für sie erledige (UA S. 2). Aus diesen Umständen hat das Amtsgericht geschlossen, dass das Fahrverbot für den Betroffenen (und seine Familie) eine außergewöhnliche Härte darstellen würde. Im Hinblick hierauf und auf die objektiven („auf innerörtlicher Autobahn zu früher Morgenstunde mit entsprechend geringem Verkehrsaufkommen“) sowie subjektiven (einem „nachvollziehbaren Bedürfnis“ folgend) Umstände der Tat (jeweils UA S. 3) hat das Amtsgericht von der Verhängung des Fahrverbots abgesehen und die Geldbuße gegenüber der Regelgeldbuße verdoppelt. Hiergegen wendet sich die Amtsanwaltschaft mit der, wie die Auslegung ergibt, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsbeschwerde, die von der Generalstaatsanwaltschaft vertreten wird. Die Amtsanwaltschaft rügt die Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Urteilsfremd und daher für die allein erhobene Sachrüge unbeachtlich ist allerdings der Einwand der Amtsanwaltschaft, gegen den Betroffenen sei, wie ein nach Urteilserlass eingeholter Auszug aus dem Fahreignungsregister ergebe, mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid vom 20. August 2014 wegen einer am 4. August 2014 in einer Tempo-30-Zone begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 29 km/h eine Geldbuße von 110,00 Euro festgesetzt worden. Zwar könnte dieser Einwand die Würdigung des Amtsgerichts, verkehrsrechtliche Voreintragungen seien tilgungsreif (UA S. 2), in Frage stellen. Die Rechtsbeschwerde kann jedoch nicht auf nach Urteilserlass entstandene Umstände gestützt werden, denn darauf kann das Urteil nicht beruhen. Dass die Ordnungswidrigkeit bereits im Zeitpunkt der Urteilsfällung im Fahreignungsregister eingetragen war, das Amtsgericht hiervon aber aufgrund einer Verletzung seiner Amtsaufklärungspflicht keine Kenntnis hatte, wäre mit der Verfahrensrüge in einer § 79 Abs. 3 OWiG i. V. m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Weise einzuwenden gewesen. Das ist nicht geschehen.
2. Der Senat lässt offen, ob die Beweiswürdigung revisionsrechtlich Bestand haben kann. Zweifel ergeben sich daraus, dass das Amtsgericht den Angaben des Betroffenen in Bezug auf die belastenden Auswirkungen des Fahrverbots Glauben geschenkt hat, ohne sie der hierbei angezeigten besonders kritischen Prüfung (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt VRS 127, 259) zu unterziehen. Dies hätte insbesondere im Hinblick auf die ohnehin recht vage Behauptung des Betroffenen nahe gelegen, das Pflegeheim in W. sei mit öffentlichen Verkehrsmitteln von seinem Wohnort N. und insbesondere vom Bahnhof in W. „schwer zu erreichen“ (UA S. 2).
3. Denn jedenfalls rechtfertigen auch die als Ergebnis der Beweiswürdigung getroffenen Feststellungen nicht, vom Fahrverbot abzusehen.
a) Nach der auch von den Gerichten zu beachtenden Vorbewertung des Verordnungsgebers in § 4 Abs. 1 BKatV ist eine grobe Pflichtverletzung im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG bei der hier abgeurteilten Verkehrsordnungswidrigkeit indiziert, so dass sie regelmäßig zur Anordnung eines Fahrverbotes als Denkzettel und Besinnungsmaßnahme Anlass gibt (BGHSt 38, 125 und 231; BayObLG VRS 104, 437; ständige Rspr. des Senats). Diese Bindung der Sanktionspraxis dient der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer und der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der durch bestimmte Verkehrsverstöße ausgelösten Rechtsfolgen (BVerfG NZV 1996, 284).
b) Folgerichtig ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass aufgrund der rechtskräftigen Feststellungen des Bußgeldbescheids (nach §§ 24, 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., 26a StVG i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i. V. m. Nr. 11.3.7 der Tabelle 1c zum BKat) wegen einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers neben der Anordnung einer Geldbuße die Verhängung eines Regelfahrverbots indiziert war. Das Amtsgericht hat dem Betroffenen offenbar seine Einlassung, er habe dringend auf die Toilette gemusst, geglaubt, jedenfalls hat es dies seiner Entscheidung zugrunde gelegt. Zutreffend hat es daraus aber nicht abgeleitet, dass die durch den Bußgeldbescheid rechtskräftig festgestellte Ordnungswidrigkeit nicht grob verkehrswidrig wäre (vgl. OLG Zweibrücken zfs 1997, 196 [Stuhldrang]; OLG Düsseldorf zfs 2008, 167 [Durchfall]; OLG Bamberg zfs 2014, 650 [Brechreiz eines Fahrgasts]; AG Lüdinghausen NZV 2014, 481 [Stuhldrang]).
c) Die Begründung, mit der sich das Amtsgericht dazu veranlasst gesehen hat, trotz des Vorliegens einer groben Pflichtverletzung vom Fahrverbot abzusehen, hält rechtlicher Überprüfung aber nicht stand.
aa) Zwar gilt die Vorbewertung des Verordnungsgebers, die in § 4 Abs. 1 BKatV bezeichneten Ordnungswidrigkeiten seien in der Regel durch ein Fahrverbot zu ahnden, nicht uneingeschränkt. Auch wenn nach ständiger Rechtsprechung des Senats ein Kraftfahrzeugführer, der ein Fahrverbot durch mangelnde Verkehrsdisziplin riskiert, nicht geltend machen kann, auf den Führerschein angewiesen zu sein (vgl. zuletzt VRS 127, 74; 117, 197), können sich aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot und dem Übermaßverbot in besonderen Einzelfällen doch Ausnahmen ergeben. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die durch das Fahrverbot bedingte Einschränkung der Mobilität und berufliche oder wirtschaftliche Nachteile als häufige Folgen hinzunehmen sind, ohne dass schon deshalb ein Absehen vom Fahrverbot gerechtfertigt wäre (vgl. Senat VRS 127, 259; 108, 286; 108, 288; OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 344). Vielmehr muss das Fahrverbot zu einer Härte ganz außergewöhnlicher Art führen, wie etwa dem Verlust des Arbeitsplatzes bei einem Arbeitnehmer oder dem Existenzverlust bei einem Selbstständigen, wobei nach der Einführung des § 25 Abs. 2a StVG mit der für einen unvorbelasteten Betroffenen bestehenden Möglichkeit, den Beginn der Wirksamkeit des Verbots in einem Zeitraum von vier Monaten selbst zu bestimmen, ein noch strengerer Maßstab anzulegen ist (vgl. OLG Frankfurt DAR 2002, 82). Hierbei ist auch in Rechnung zu stellen, dass einem Betroffenen zuzumuten ist, durch eine Kombination von verschiedenen Maßnahmen (Einstellung eines Fahrers, Benutzung anderer Verkehrsmittel usw.) die Zeit eines Fahrverbots zu überbrücken und für die finanziellen Belastungen notfalls einen Kredit aufzunehmen (vgl. Senat VRS 127, 259; OLG Frankfurt DAR 2002, 82).
bb) Nach diesen Grundsätzen ergeben die festgestellten Lebensverhältnisse des Betroffenen nicht, dass das Fahrverbot für ihn eine ganz außergewöhnliche Härte darstellen würde. Dies gilt sowohl für jeden einzelnen im Urteil niedergelegten Umstand als auch für eine Gesamtschau aller Umstände. Dass der Betroffene seine Ehefrau, die in einem Pflegeheim in W. wohnt, (zur Zeit) an jedem Wochenende besucht, gibt keinen Anlass, ein einmonatiges Fahrverbot als unzumutbar anzusehen. W. liegt nur etwa 45 km vom Wohnort des Betroffenen, N., entfernt, und ist, was allgemeinkundig ist, mit dem Regionalexpress der Deutschen Bahn in gut 20 Minuten zu erreichen. Dem Betroffenen ist die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln auch dann zuzumuten, wenn das Pflegeheim vom Bahnhof in W., wie festgestellt, nur „schwer“ zu erreichen ist. Denn der Betroffene kann notfalls für die offenbar nicht übermäßig lange Strecke ein Taxi nehmen. Nichts anderes gilt für den ebenfalls im Urteil festgestellten Umstand, dass der Betroffene seine Frau einmal im Monat mit dem Auto nach Hause holt. Wenn er dies unmittelbar vor dem Beginn des Fahrverbots und erneut kurz danach tut, so ergibt sich keine spürbare Veränderung gegenüber der bisherigen Praxis. Auch die Gewohnheit des Betroffenen, seine Frau bei Arztbesuchen zu begleiten, begründet keine besondere Härte. Denn auch hierbei ist es dem Betroffenen für die Dauer eines Monats zuzumuten, für sich und seine Frau ein Taxi zu nehmen. Dass hierbei unzumutbar große Strecken zurückzulegen wären, etwa zu einer weit entfernten Spezialklinik, ist durch das Amtsgericht nicht festgestellt worden. Schließlich lassen auch die Umstände, dass die Eltern des Betroffenen „zunehmend hilfsbedürftig“ seien und der Betroffene sich um sie kümmere und Besorgungen erledige (jeweils UA S. 2), das Fahrverbot nicht als übergroße Härte erscheinen. Das Urteil teilt mit, die Eltern wohnten betreut. Dies legt nahe, dass es der Besorgungen durch den Betroffenen nicht dringend bedarf. Zudem hat das Amtsgericht keine Feststellungen dazu getroffen, wo die Eltern überhaupt leben, so dass sich aus dem Urteil das Erfordernis, ein Auto zu verwenden (und zudem selbst zu steuern), nicht ergeben kann.
Insgesamt stellen die durch das Amtsgericht bezeichneten Umst ände, soweit sie als Grundlage einer Rechtsprüfung geeignet sind, allenfalls geringe Unbequemlichkeiten dar, die als regelmäßige Folge eines Fahrverbots hinzunehmen sind (vgl. BayObLG DAR 2001, 84 [bei täglicher Erhöhung der Reisezeiten zum und vom Arbeitsplatz mit öffentlichen Verkehrsmitteln auf sechs Stunden]).
4. Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil nach § 79 Abs. 6 OWiG im Rechtsfolgenausspruch auf und verweist die Sache an das Amtsgericht zurück.