03.03.2016 · IWW-Abrufnummer 146509
Amtsgericht Lübben: Beschluss vom 19.01.2016 – 40 OWi 6/16 E
Der Verteidiger des Betroffenen hat ein Recht auf Akteneinsicht, das sich auf alle Akten, Aktenteile und weiteren Unterlagen oder Datenträger bezieht, auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird.
40 OWi 6/16 E
Amtsgericht Lübben (Spreewald)
Beschluss
In der Bußgeldsache
gegen pp.
Verteidiger U. Schleyer, Spichernstraße 15, 10777 Berlin
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
hat das Amtsgericht Lübben
durch Richterin am Amtsgericht am 19.01.2016 beschlossen:
Dem Verteidiger des Betroffenen bzw. dem von ihm unterbevollmächtigten Sachverständigen ist Akteneinsicht in folgende Unterlagen zu gewähren:
- die digitale Falldatei nebst dem öffentlichen Schlüssel/ Token für die allgemeine Messdatei sowie für die gesondert gesicherten Rohmessdaten
Die Akteneinsicht ist durch Übersendung in die Kanzleiräume bzw. die Büroräume des unterbevollmächtigten Sachverständigen, in geeigneten Fällen nachdem die Verteidigerin/ Sachverständige ein entsprechend geeignetes Speichermedium zur Verfügung gestellt hat, oder, wenn dies technisch nicht anders möglich ist, in den Räumen einer entsprechenden Verwaltungsbehörde in unmittelbarer Nähe zu den Kanzleiräumen des Verteidigers/ dem Büro des Sachverständigen zu gewähren.
Gründe:
I.
Das Land Brandenburg, Zentraldienst der Polizei, Zentrale Bußgeldstelle, Gransee, im Folgenden die Verwaltungsbehörde, führt gegen den Betroffenen ein Verfahren wegen des Verdachts der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften. Die Messung erfolgte am 29.08.2015 mit einem Geschwindigkeitsüberwachungsmessgerät des Herstellers Vitronic Bildverarbeitungssysteme GmbH. Es wurde ein Messfoto erstellt.
Mit Schreiben vom 29.10.2015 begehrte der der Verteidiger weitere Akteneinsicht. Wegen des Inhalts und des Umfangs dieses Gesuchs wird auf Bl. 69 der Verwaltungsakte verwiesen. Dieses Schreiben leitete die Verwaltungsbehörde zunächst ohne weitere Veranlassung an das Amtsgerichts Lübben weiter. Mit Schreiben vom 23.10.2015 begehrte der Verteidiger erneut die Übersendung der Rohmessdaten. Die Bußgeldbehörde nahm am 15.12.2015 Stellung, auf Bl. 72, 73 d.A. wird verwiesen.
II.
Gemäß § 46 Abs.1 OWiG i.V.m. § 147 StPO hat der Verteidiger des Betroffenen ein Recht auf Akteneinsicht, das sich auf alle Akten, Aktenteile und weiteren Unterlagen oder Datenträger bezieht, auf die der Vorwurf in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gestützt wird (Göhler, Kommentar zum OWiG, 16. Aufl., § 60, Rn. 49), aus denen sich der Schuldvorwurf ergeben soll und die möglicherweise der Entlastung des Betroffenen dienen können. Das umfassende Akteneinsichtsrecht der Verteidigung ist aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens begründet. Die Verteidigung muss, ggf. unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen, die erfolgte Messung in allen Einzelheiten auch und gerade hinsichtlich möglicher Fehlerquellen überprüfen können.
Von diesem Recht auf Akteneinsicht sind die komplette Messliste sowie die kompletten Datensätze der Messung umfasst (AG Senftenberg, Beschluss vom 26.04.2011, 59 OWi 93/11; AG Heidelberg a.a.O.; AG Stuttgart, Beschluss vom 29.12.2011, 16 OWi 3433/11). Aus den Aufzeichnungen der gesamten Messung können gegebenenfalls Schlüsse auf die gegenständliche Messung gezogen werden, mit der Vorwurf gegen den Betroffenen begründet wird. Deshalb muss die Verteidigung auch hier Einsicht — ggf. unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen - nehmen können, um die Verteidigungsmöglichkeiten prüfen zu können.
Auch hier ist darauf hinzuweisen, dass das Akteneinsichtsrecht alle Unterlagen und Datensätze umfasst, die be- oder entlastend für den Betroffenen sein können (LG Ellwangen, a.a.O.).
Bedenken hinsichtlich des Datenschutzes bezüglich möglicher weiterer Betroffener greifen nicht durch, denn technisch sollte es ohne Weiteres möglich sein, hier Vorkehrungen zu treffen, z.B. indem die Kennzeichen und Gesichter der weiteren Betroffenen abgedeckt werden, was bei Beifahrern bisher auch so gehandhabt wird.
Alle vom Akteneinsichtsrecht umfassten Unterlagen und Dateien sind, soweit keine wichtigen Gründe entgegenstehen, die hier nicht ersichtlich sind, dem Verteidiger in den Kanzleiräumen bzw. dem unterbevollmächtigtem Sachverständigen in dessen Büroräumen zur Verfügung zu stellen. Dies ergibt sich schon aus § 46 Abs.1 OWiG i.V.m. § 147 Abs. 4 Satz 1 StPO. Dem Verteidiger ist es nicht zuzumuten, zum Zwecke der Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts nach Gransee zur Verwaltungsbehörde zu fahren und somit noch zusätzliche Kosten zu verursachen (AG Senftenberg a.a.O.; AG Heidelberg, a.a.O.; AG Lüdinghausen, a.a.O.; LG Ellwangen, a.a.O.). Soweit dies erforderlich ist, hat die Verteidigung geeignete Speichermedien zur Verfügung zu stellen (AG Lemgo, Beschluss vom 14.04.2011, 22 OWi 62/11, AG Heidelberg, a.a.O.). Sollte eine Übersendung und/oder eine Übertragung auf ein Speichermedium bei einzelnen Daten nachweisbar technisch nicht möglich sein, so hat die Akteneinsicht in einer Polizeidienststelle oder anderen Verwaltungsbehörde in unmittelbarer Nähe der Kanzlei des Verteidigers bzw. den Büroräumen des Sachverständigen zu erfolgen.