02.01.2019 · IWW-Abrufnummer 206310
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 02.10.2018 – VI ZR 213/17
a) Gerichte sind nicht verpflichtet, umfangreiche ungeordnete Anlagenkonvolute von sich aus durchzuarbeiten, um so die erhobenen Ansprüche zu konkretisieren. Nimmt der Kläger zur Substantiierung seines Anspruchs allerdings auf eine aus sich heraus verständliche (und im Streitfall nicht einmal eine Seite umfassende) Darstellung in den Anlagen konkret Bezug und verlangt die Berücksichtigung der in Bezug genommenen Anlage vom Tatrichter keine unzumutbare Sucharbeit, so liegt eine solche Fallgestaltung nicht vor (Fortführung BGH, Urteil vom 17. Juli 2003 - I ZR 295/00 , NJW-RR 2004, 639, 640).
b) Zu einem Gehörsverstoß wegen unterbliebener Berücksichtigung einer konkret in Bezug genommenen Anlage.
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 2. Oktober 2018 durch die Richterin von Pentz als Vorsitzende, den Richter Offenloch, die Richterinnen Dr. Roloff und Müller und den Richter Dr. Allgayer
beschlossen:
Tenor:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des 29. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin vom 26. April 2017 im Kostenpunkt und
a) hinsichtlich der Klageanträge Ziffer 2 und 4 in vollem Umfang,
b) hinsichtlich des Klageantrags Ziffer 1 insoweit, als die Berufung der Klägerin wegen eines Teilbetrags von 90.532,65 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 5. November 1999 zurückgewiesen wurde,
c) hinsichtlich des Klageantrags Ziffer 3 insoweit, als die Berufung der Klägerin wegen einer monatlichen Rente von 313,33 € für die Jahre 2014 und 2015 und wegen einer monatlichen Rente von 513,33 € ab dem 1. Januar 2016 zurückgewiesen wurde und
d) hinsichtlich des Klageantrags Ziffer 5 insoweit, als die Berufung wegen eines Betrags von 3.583 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Zustellung der Klage zurückgewiesen wurde,
aufgehoben.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur Verhandlung und neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren wird auf bis 185.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Klägerin nimmt die Beklagte nach einem Verkehrsunfall auf weiteren Schadensersatz in Anspruch.
2
Die im Jahr 1972 geborene Klägerin wurde im Jahr 1999 bei einem Verkehrsunfall, für den die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners voll einstandspflichtig ist, schwerst verletzt. Die Beklagte leistet der Klägerin deshalb Schadensersatz, unter anderem nach vorangegangenen Verhandlungen über Betreuungsaufwand, Haushaltsführungsschaden und Verdienstausfall eine monatliche Rente von 900 € wegen vermehrter Bedürfnisse. Darüber hinaus zahlte sie rückwirkend für den Zeitraum von Januar 2009 bis einschließlich Juli 2014 einen Betrag von 60.300 €. Die Klägerin macht in der Hauptsache mit Klageantrag 1 - soweit im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren noch von Interesse - weiteren Schadensersatz für Haushaltsführungsschäden, vermehrte Bedürfnisse, Verdienstausfall und Fahrtkosten in Höhe von 90.532,65 € geltend. Zudem verlangt sie - soweit im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren noch von Relevanz - monatliche Renten wegen des Haushaltsführungs- und Verdienstausfallschadens in Höhe von 313,33 € ab dem 1. Januar 2014 bzw. in Höhe von 513,33 € (Klageantrag 3) ab dem 1. Januar 2016, wegen weiterer vermehrter Bedürfnisse ab dem 1. Januar 2014 in Höhe von weiteren 626,28 € (Klageantrag 2) sowie wegen der betreuungsbedingten Rentenminderung ihrer Mutter in Höhe von weiteren 534,75 € ab dem 1. Januar 2014 (Klageantrag 4). Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Kammergericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.
II.
3
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt im Umfang der Anfechtung gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
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1. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe weder die den geltend gemachten vermehrten Bedürfnissen zugrundeliegende Berechnung schlüssig vorgetragen, noch ihren Haushaltsführungsschaden, die angeblichen Fahrtkosten oder den geltend gemachten Verdienstausfall schlüssig dargelegt. Der behauptete Rentenschaden der Mutter der Klägerin sei nach § 843 Abs. 1 BGB zwar grundsätzlich ersatzfähig; auch hier fehle es aber hinsichtlich der Höhe an hinreichend substantiiertem Vortrag.
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2. Diese Ausführungen verletzen die Klägerin - wie die Nichtzulassungsbeschwerde zutreffend rügt - in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Einen entscheidungserheblichen Gehörsverstoß zeigt die Nichtzulassungsbeschwerde dabei jedenfalls in Bezug auf die Annahme des Berufungsgerichts auf, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erstattung des von ihr als weiteren Haushaltsführungsschaden geltend gemachten Betrags.
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a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags einer Partei haben (st. Rspr., vgl. nur Senatsbeschluss vom 24. April 2018 - VI ZB 48/17 , MDR 2018, 883 Rn. 6). Lässt ein Gericht den Vortrag einer Partei unberücksichtigt, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze findet, verletzt es damit deren Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 6. Februar 2014 - VII ZR 160/12 , NJW-RR 2014, 456 Rn. 12, mwN). Hiervon ist im Streitfall jedenfalls in Bezug auf den von der Klägerin geltend gemachten und vom Berufungsgericht verneinten Anspruch auf Ersatz weiteren Haushaltsführungsschadens auszugehen.
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aa) Das Berufungsgericht vertritt insoweit die Auffassung, der Vortrag der Klägerin sei nicht hinreichend substantiiert, weil sie nicht vorgetragen habe, welche konkreten Arbeiten im Haushalt neben entsprechender Zeitanteile sie vor dem Unfall verrichtet habe. Die von der Klägerin bereits erstinstanzlich als Anlage K09 vorgelegte Aufstellung ihrer Mutter zu ihrer Lebenssituation vor dem Unfall, die die Klägerin in der Berufungsbegründung auch zur Darlegung des Haushaltsführungsschadens konkret in Bezug genommen hat, erwähnt es in diesem Zusammenhang nicht, obwohl es sich um den insoweit zentralen Vortrag der Klägerin handelt. Grund hierfür ist offensichtlich, dass das Berufungsgericht - wie es in anderem Zusammenhang ausführt - davon ausgeht, diese Anlage nicht berücksichtigen zu müssen, weil es für die Substantiierung von Vortrag nicht ausreiche, auf umfangreiche Anlagenkonvolute zu verweisen, die erst durchgearbeitet werden müssten, um die erhobenen Ansprüche zu konkretisieren. Es ist damit davon auszugehen, dass das Berufungsgericht die Anlage und die dort enthaltene Darstellung des Tagesablaufs der Klägerin vor dem Unfall bei der Frage nach der hinreichend substantiierten Darlegung ihres Anspruchs auf Ersatz des Haushaltsführungsschadens inhaltlich nicht berücksichtigt hat.
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bb) Dieses Vorgehen findet im Prozessrecht keine Stütze. Zwar trifft es zu, dass Gerichte nicht verpflichtet sind, umfangreiche ungeordnete Anlagenkonvolute von sich aus durchzuarbeiten, um so die erhobenen Ansprüche zu konkretisieren ( BGH, Urteil vom 17. Juli 2003 - I ZR 295/00 , NJW-RR 2004, 639, 640). Auch kann erforderlicher Sachvortrag nicht durch die bloße Vorlage von Anlagen ersetzt werden ( Senatsurteil vom 26. April 2016 - VI ZR 50/15 , NJW 2016, 3092 Rn. 23). Um solche Fallgestaltungen geht es im Streitfall aber offensichtlich nicht. Die von der Mutter der Klägerin auf nicht einmal einer Seite erstellte Darstellung des Tagesablaufs der Klägerin vor dem Unfall, die der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vorgelegt und zur Substantiierung des geltend gemachten Haushaltsführungsschadens in der Berufungsbegründung konkret in Bezug genommen hat, ist aus sich heraus verständlich und verlangt vom Tatrichter keine unzumutbare Sucharbeit. Es wäre eine durch nichts zu rechtfertigende Förmelei, wollte man den Prozessbevollmächtigten für verpflichtet halten, die Aufstellung abschreiben zu lassen, um sie in den Schriftsatz selbst zu integrieren (vgl. BGH aaO).
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b) Der Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht auf der Grundlage der in Anlage K09 enthaltenen Aufstellung - ggf. nach im Rahmen von § 139 Abs. 1 ZPO gebotener konkreter Ergänzungsfragen - zum Ergebnis gelangt wäre, bei dem von der Klägerin geführten Haushalt handle es sich um einen normalen Haushaltstyp ohne Anhalt für Besonderheiten, sich infolgedessen im Rahmen seines Schätzungsermessens für den Umfang der vor dem Unfall angefallenen Haushaltstätigkeit - wie zulässig (vgl. nur Senatsurteile vom 22. Mai 2012 - VI ZR 157/11 , NJW 2012, 2024 Rn. 21 und vom 3. Februar 2009 - VI ZR 183/08 , NJW 2009, 2060 Rn. 5) - auf ein anerkanntes Tabellenwerk gestützt hätte und damit letztlich zum Ergebnis gelangt wäre, dass der Haushaltsführungsschaden noch nicht vollständig ausgeglichen ist.
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3. Auch wenn sich der dargestellte Gehörsverstoß unmittelbar nur auf den vom Berufungsgericht als Haushaltsführungsschaden behandelten Teilbetrag bezieht, sieht sich der erkennende Senat im Rahmen des ihm insoweit zukommenden Ermessens (vgl. nur Senatsbeschluss vom 26. April 2016 - VI ZR 444/14 , juris Rn. 30) veranlasst, den angegriffenen Beschluss, soweit angefochten, insgesamt aufzuheben. Klageanträge 1 und 3 betreffen (auch) den Haushaltsführungsschaden und sind vom dargestellten Gehörsverstoß damit unmittelbar betroffen. Eine nur teilweise Aufhebung des angefochtenen Beschlusses scheitert insoweit bereits daran, dass sich jedenfalls dem Klageantrag Ziffer 1 nicht mit hinreichender Sicherheit entnehmen lässt, zu welchem Teil er auf den Haushaltsführungsschaden entfällt. Klageanträge 2 und 4 betreffen mit den Renten für weitere vermehrte Bedürfnisse (Klageantrag 2) beziehungsweise für die Rentenminderung der Mutter der Klägerin (Klageantrag 4) zwar nicht den Haushaltsführungsschaden. Diese Anträge stehen aber wieder in unmittelbarem Zusammenhang mit den nicht den Haushaltsführungsschaden betreffenden Teilen von Klageantrag 1. Eine die Klageanträge 2 und 4 ausnehmende Aufhebung des angefochtenen Beschlusses brächte deshalb die Gefahr einer in sich widersprüchlichen abschließenden Entscheidung mit sich.
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4. Für das weitere Verfahren weist der erkennende Senat auf Folgendes hin:
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a) Sollte dem Vortrag der Klägerin bislang nicht zu entnehmen sein, wie sich der mit Klageantrag Ziffer 1 für Schäden unterschiedlicher Art verlangte Gesamtbetrag von noch 90.532,65 € auf die einzelnen Schadensarten verteilt, so wäre die Klage insoweit mangels ausreichender Bestimmtheit des Klagegrundes bereits unzulässig (vgl. Senatsurteil vom 22. Mai 1984 - VI ZR 228/82 , VersR 1984, 782, 783). Der Klägerin wird in diesem Fall aber gegebenenfalls Gelegenheit zur Ergänzung ihres Vortrags zu geben sein. Im Übrigen wird auch weiterhin zu beachten sein, dass der Haushaltsführungsschaden, soweit die Haushaltstätigkeit der Klägerin der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse gedient hat, den vermehrten Bedürfnissen zuzuordnen ist (vgl. Senatsurteil vom 8. Oktober 1996 - VI ZR 247/95 , NJW 1997, 256 f.).
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b) Darüber hinaus wird das Berufungsgericht im weiteren Verfahren auch hinsichtlich der vom dargestellten Gehörsverstoß nicht unmittelbar betroffenen Schadenspositionen zu prüfen haben, ob eine hinreichende Substantiierung nicht unter Berücksichtigung einer von der Klägerin konkret in Bezug genommenen Anlage zu bejahen ist. So finden sich etwa in Bezug auf die geltend gemachten Fahrtkosten - vom Berufungsgericht vermisste - Angaben zum Anlass der Fahrten in den Anlagen K12 bis K15, die von der Klägerin im Schriftsatz vom 22. September 2015 (GA I 114 f.) ebenfalls ausdrücklich und konkret in Bezug genommen worden sind.
von Pentz
Offenloch
Roloff
Müller
Allgayer