11.03.2019 · IWW-Abrufnummer 207645
Landgericht Frankfurt a. M.: Urteil vom 07.06.2018 – 2-01 S 118/17
Ein allgemeines Verkehrsbewusstsein zum Tragen von Motorradschutzkleidung an den Beinen kann nicht schon aus einem reduzierten Verletzungsrisiko hergeleitet werden. Kann ein dahingehendes Verkehrsbewusstsein den tatsächlichen Umständen und Gepflogenheiten der betroffenen Verkehrsteilnehmer nicht entnommen werden (hier: Fahrer einer Harley Davidson), ist ein Mitverschulden des geschädigten Motorradfahrers nicht feststellbar.
Landgericht Frankfurt am Main
Urt. v. 07.06.2018
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger wird von Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 157,79 € freigestellt. Im Übrigen wird die weitere Klage abgewiesen.
Der Berufungskläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil und das Urteil des Amtsgerichts sind vorläufig vollstreckbar.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Wert des Berufungsverfahrens wird festgesetzt auf 2.000 €.
Gründe
I.
Wegen der tatsächlichen Feststellungen wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen und im Übrigen von einer Wiedergabe abgesehen, §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO.
II.
1.
Die Berufung ist zulässig. Insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet, §§ 517, 519, 520 ZPO. In der Sache hat sie jedoch keinen Erfolg.
Das Erstgericht hat die Beklagte ohne Rechtsverletzung, § 513 ZPO, nach §§ 7 Abs. 1, 11 Satz 2 StVG, § 253 BGB, § 115 VVG zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes in Höhe von 2.000 € verurteilt.
a)
Die Feststellung des Amtsgericht, wonach den Versicherten der Beklagten kein Mitverschulden (§ 9 StVG, § 254 BGB) trifft, obwohl er bei dem Unfall keine Motorradschutzkleidung an den Beinen trug, ist nicht zu beanstanden. Ob das Nichttragen von Motoradschutzkleidung - etwa Lederhosen mit Protektoren - als Mitverschulden zu berücksichtigen ist, wird in der Judikatur nicht einheitlich beantwortet. Klar ist zunächst, dass nur das Tragen eines Schutzhelms gesetzlich vorgeschrieben ist (§ 21a Abs. 2 StVO), für eine Schutzkleidung gibt es keine vergleichbare Regelung. Allein deswegen kann ein Mitverschulden des Motorradfahrers aber noch nicht verneint werden. Denn die Sorgfaltspflicht von Verkehrsteilnehmern richtet sich nicht allein nach geschriebenen Normen. Maßstab ist, ob der Verletzte diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt. Der Bundesgerichtshof hat bereits in einer Entscheidung aus dem Jahr 1979 (Urt. vom 30.1.1979, VI ZR 144/77, NJW 1979, 980) festgestellt, dass grundsätzlich maßgeblich ist, ob und inwieweit ein allgemeines Verkehrsbewusstsein besteht, zum eigenen Schutz bestimmte Schutzkleidung zu tragen.
Teilweise wird vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit von Motoradschutzkleidung an den Beinen bejaht (OLG Brandenburg, Urt. vom 23.7.2009, 12 U 29/09, NJW-RR 2010, 538, 539 ff.; LG Köln, Urt. v. 15.5.2013, 18 O 148/08, Rn. 18 zitiert nach Juris; offen gelassen: OLG Saarbrücken, Beschluss v. 12.3.2015, 4 U 187/13, Rn. 70 zitiert nach Juris; OLG Schleswig, Urt. v. 28.11.2013, 7 U 158/12, NJOZ 2014, 985). Diese Ansicht überzeugt nicht. Sie stützt sich nicht auf eine positive Erkenntnis des allgemeinen Verkehrsbewusstseins, sondern gelangt allein aufgrund der Feststellung, dass das Tragen von Motoradschutzkleidung das Verletzungsrisiko reduziert, zu der Behauptung, "die meisten Motorradfahrer empfänden es heutzutage als eine persönliche Verpflichtung, mit Schutzkleidung zu fahren" und "jeder wisse, dass das Fahren ohne Schutzkleidung ein um vielfach höheres Verletzungsrisiko in sich berge" (vgl. OLG Brandenburg a.a.O.). Ein allgemeines Verkehrsbewusstsein kann aber nicht allein aus dem Verletzungsrisiko, dem Erkenntnisstand über die verbesserte Sicherheit durch Schutzkleidung oder die Empfehlung von Verbänden hergeleitet werden. Das würde nämlich darauf hinauslaufen, ein Mitverschulden generell dann zu bejahen, wenn der Geschädigte objektiv sinnvolle und allgemein zugängliche Schutzmöglichkeiten nicht gewählt hat. So müsste das Nichttragen eines Helmes bei Radfahrern oder das Weglassen von Oberkörperprotektoren beim Skifahren immer und ausnahmslos ein Mitverschulden begründen. Damit würde aber der Mitverschuldenseinwand von einem Verschulden gegen sich selbst in eine darüber hinausgehende, anderen Verkehrsteilnehmern gegenüber bestehende Obliegenheit heraufgestuft. Das widerspräche der Systematik der § 9 StVG, § 254 BGB und bestehender höchstrichterlicher Rechtsprechung.
Die Kammer schließt sich daher der Ansicht an, die das Bestehen eines allgemeinen Verkehrsbewusstseins anhand von allgemein zugänglichen Erkenntnissen über die tatsächlichen Gepflogenheiten der konkreten Gruppe der Verkehrsteilnehmer positiv feststellen will (OLG München, Urt. v. 19.5.2017, 10 U 4256/16, Rn. 25 zitiert nach Juris; LG Heidelberg, Urt. v. 13.3.2014, 2 O 203/13, Rn. 28, 29 zitiert nach Juris).
Im vorliegenden Fall vermochte die Kammer ein allgemeines Verkehrsbewusstsein zum Tragen von Motoradschutzkleidung (etwa Lederhosen mit Protektoren) an Beinen beim Fahren einer Harley Davidson nicht festzustellen. Die Beklagte trägt dafür die Darlegungs- und Beweislast. Nach den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vom 21.2.2013 hat die Beklagte eine E-Mail der Bundesanstalt für Straßenwesen in Bergisch Gladbach vorgelegt. Daraus geht hervor, dass im Jahr 2014, dem des streitgegenständlichen Verkehrsunfalles, 43 % der befragten 2.091 Fahrer eine schützende Beinkleidung trugen. Unabhängig davon, ob aus einer Gruppe von rund 2.000 Teilnehmern eine repräsentative Zahl ermittelt werden kann, sind 43 % schon nicht ausreichend, um ein allgemeines Verkehrsbewusstsein festzustellen. Da also auch nach dem weiteren Beklagtenvortrag ein allgemeines Verkehrsbewusstsein nicht gegeben war, musste zur Wahrung rechtlichen Gehörs des Klägers die mündliche Verhandlung nicht wiedereröffnet werden.
Andere Umstände, die auf ein allgemeines Verkehrsbewusstsein zum Tragen von Schutzkleidung speziell unter Fahrern von Harley Davidsons schließen lassen, wurden nicht dargelegt und sind nicht erkennbar. Die Ausführungen des Klägervertreters, derartige Motorräder würden im Vergleich zu anderen großmotorigen Krafträdern typischerweise weniger zum schnellen Fahren, sondern zum "Cruisen", also einem moderateren Fahrstil, genutzt, erscheinen jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Daher erscheint es gerade unter Fahrern von Harley Davidsons bzw. Choppern jedenfalls nicht möglich, über den für alle Motorradtypen genannten Satz von 43 % hinaus, eine größere Gruppe zu bestimmen, die das Tragen von Schutzkleidung an den Beinen in ihr Verkehrsbewusstsein aufgenommen hat.
b)
Nachdem ein Mitverschulden des Klägers nicht festgestellt werden konnte, kommt es auf die Kausalitätsfrage, ob das Tragen von Schutzkleidung mit Protektoren anstelle der (Armee-)Stoffhose des Klägers die streitgegenständlichen Verletzungen tatsächlich reduziert hätte, nicht mehr an.
c)
Der Einwand der Beklagten, es sei nicht nachgewiesen, dass die Verletzungen durch den Unfall hervorgerufen wurden, ist - wie auch in erster Instanz - nicht nachvollziehbar und jedenfalls unsubstantiiert. Die Fleischwunde am Bein des Klägers ist durch Fotografien belegt, die Narbe kann nur daraus herrühren. Die Verletzung des Knies wurde auch ärztlich unmittelbar nach dem Unfall dokumentiert.
Das weitere Vorbringen, der Kläger habe die Verletzungsfolgen dadurch herbeigeführt oder zumindest begünstigt, dass er sich nicht längerfristig ärztlich behandeln ließ, verfängt nicht. Dafür, dass die Narbe am Bein in der Folgezeit ärztlich hätte behandelt werden müssen, sind tatsächliche Grundlagen nicht ersichtlich. Auch für die Notwendigkeit einer weiteren ärztlichen Behandlung des Knies ist nichts vorgetragen oder erkennbar.
Wäre eine bestimmte Behandlung erforderlich gewesen - beispielsweises eine Punktion wegen des Ergusses oder ein anderer Eingriff - wäre diese während des Krankenhausaufenthaltes des Kläger ärztlich durchgeführt oder zumindest empfohlen worden.
d)
Die Höhe des Schmerzensgeldes ist vom Erstgericht rechtsfehlerfrei bestimmt worden. Die Kammer nimmt darauf Bezug und macht sie sich zu Eigen.
2.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Freistellung von Rechtsanwaltskosten in ausgeurteilter Höhe.
Der weitere Antrag im Schriftsatz vom 20.12.2017 ist nicht verspätet, § 531 ZPO. Der Anspruch auf Freistellung von weiteren Anwaltskosten folgte erst aus der Höhe des zugesprochenen Schmerzensgelds nach nicht beziffertem Klageantrag in erster Instanz. Es handelt sich nicht um eine Klageänderung, §§ 261 Nr. 1, 533 ZPO.
Zuzusprechen war dem Kläger aber nur eine 1,3-Geschäftsgebühr aus der Wertgebühr von 303 €, § 13 RVG, Nr. 2300 VV-RG. Die Angelegenheit war weder umfangreich, noch besonders schwierig. Bei einer 1,3-Gebühr von 393,90 € ergibt sich unter Berücksichtigung einer Auslagenpauschale und Mehrwertsteuer abzüglich gezahlter 334,75 € ein Anspruch auf Freistellung über 157,79 €.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO. Der zum Teil abgewiesene Antrag auf Freistellung von Rechtsanwaltsgebühren betraf eine Nebenforderung und war daher streitwert- und kostenneutral.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 ZPO nicht vorliegen. Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung und eine Entscheidung des Revisionsgerichts ist auch zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich. Der Bundesgerichtshof hat bereits im Jahr 1979 festgestellt, dass ein etwaiges Mitverschulden des geschädigten Verkehrsteilnehmers anhand eines festzustellenden allgemeinen Verkehrsbewusstseins zu beurteilen ist. Die vorliegende Entscheidung betraf überdies nur einen speziellen Fall, nämlich das Tragen von Motorradkleidung unter Chopperfahrern.
Der Streitwert wurde auf Grundlage des § 47 GKG festgesetzt.