18.03.2022 · IWW-Abrufnummer 228155
Oberlandesgericht Celle: Beschluss vom 22.02.2022 – 2 Ss (OWi) 264/21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OLG Celle
Beschluss vom 22.02.2022
Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht Achim zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Achim (Az. 17 OWi 466 Js 29767/21-497/21) hat den Betroffenen in der Hauptverhandlung vom 02.09.2021 wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit durch Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um 41 km/h zu einer Geldbuße von 160 € verurteilt und ein Fahrerverbot von 1 Monat gegen ihn verhängt.
Gegen dieses Urteil wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.
II.
Die zulässige Rechtsbeschwerde führt in der Sache ‒ vorläufig ‒ zum Erfolg.
1.
Die von dem Betroffenen zulässig erhobene Verfahrensrüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung wegen der Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens im Hinblick auf die im Verfahren vor der Bußgeldbehörde und im bisherigen gerichtlichen Bußgeldverfahren verweigerte Gewährung des begehrten Zugangs zu verschiedenen Daten und Unterlagen erweist sich jedenfalls bzgl. der sog. Lebensakte bzw. etwaiger Reparatur,- Störungs,- Reinigungs- und Wartungsnachweise für das bei der Geschwindigkeitsmessung des Fahrzeugs des Betroffenen verwendete Messgerät als begründet. Gleiches gilt für die von der Verteidigung des Betroffenen erfolglos begehrte Einsicht in dessen Bedienungsanleitung.
Das Amtsgericht hätte dem in der Hauptverhandlung von der Verteidigung des Betroffenen gestellten Aussetzungsantrag angesichts dessen, dass ihrem Antrag auf Zugänglichmachung der vorgenannten Unterlagen bis dahin nicht ausreichend entsprochen worden war, stattgeben müssen. Dies folgt aus dem verfassungsrechtlichen und für das gerichtliche Bußgeldverfahren ausdrücklich in § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG i.V.m. § 338 Nr. 8 StPO geregelten Verbots der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung und des Anspruchs des Betroffenen auf ein faires Verfahren.
Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens und daran anknüpfender Verfahren gewährleistet der Grundsatz des fairen Verfahrens dem Betroffenen, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrzunehmen und Übergriffe der im vorstehenden Sinn rechtsstaatlich begrenzten Rechtsausübung staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können. Daher hat der Beschuldigte eines Strafverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Dem Beschuldigten bietet sich auf diesem Weg auch außerhalb eines gerichtlich anhängigen Strafverfahrens eine weitgehende Möglichkeit, anlässlich der Tatermittlung entstandene Unterlagen der Ermittlungsbehörden, die nicht zum Bestandteil der Akten im Strafverfahren geworden sind, durch seine Verteidigung einsehen zu lassen. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Während so regelmäßig dem Informationsinteresse des Beschuldigten genügt ist, ist gleichwohl gewährleistet, dass der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Ausweitung der Verfahrensakten unverhältnismäßig erschwert oder sogar nachhaltig gefährdet wird (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 ‒ 2 BvR 161/18 ‒, juris). Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Beschuldigte kann so das Gericht, das von sich aus keine sachlich gebotene Veranlassung zur Beiziehung dieser Informationen sieht, auf dem Weg des Beweisantrages oder Beweisermittlungsantrages zur Heranziehung veranlassen. Diese für das Strafverfahren geltenden Grundsätze können auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen werden. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistet dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso wie dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (vgl. BVerfG, aaO). Auch im Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz kann der Betroffene ein Interesse daran haben, den Vorwurf betreffende Informationen, die nicht zur Bußgeldakte genommen wurden, eigenständig auf Entlastungsmomente hin zu untersuchen. Denn es besteht im Hinblick auf Geschwindigkeitsmessungen kein Erfahrungssatz, dass die eingesetzten Messgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern (vgl. BGH NJW 1993, 3081). Die technische Komplexität der bei Geschwindigkeitsmessungen zum Einsatz kommenden Messmethoden und die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung im gerichtlichen Bußgeldverfahren begründen ein nachvollziehbares Bedürfnis der Betroffenen am Zugang zu weiteren die Messung betreffenden Informationen (vgl. BVerfG, aaO). Daher ist einem zu Informationszwecken gestellten Antrag der Verteidigung eines Betroffenen auf Gewährung von Einsicht in Unterlagen und Informationen, die nicht Gegenstand der Akten des gerichtlichen Bußgeldverfahrens sind, aber der Bußgeldbehörde vorliegen, grundsätzlich zu entsprechen. Zur Verhinderung der Gefahr einer uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs gilt das Informations- und Einsichtsrecht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht unbegrenzt. Zum einen müssen die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seiner Verteidigung abzustellen. Entscheidend ist, ob diese eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb insofern nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachten. Darüber hinaus steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht zu dem von ihm als relevant angesehenen Informationen zwar vom Beginn bis zum Abschluss des Bußgeldverfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt (vgl. BVerfG, aaO).
In Ansehung dieser Grundsätze ist der Betroffene im vorliegenden Verfahren in seinem Recht auf eine faire Verfahrensgestaltung verletzt worden.
a)
Dies betrifft zum einen die von der Verteidigung begehrte Einsichtnahme in die sog. Lebensakte bzw. in etwaige Reparatur,- Störungs,- Reinigungs- und Wartungsnachweise für das bei der Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen verwendete Messgerät.
Grundsätzlich können sich aus solchen Unterlagen im Einzelfall für die Verteidigung des Betroffenen relevante Informationen ergeben, die ‒ ggf. nach weiterer Überprüfung durch einen vom Betroffenen beauftragten Sachverständigen ‒ auf Fehler bei der Geschwindigkeitsmessung des vom Betroffenen geführten Fahrzeugs hindeuten können. Daher unterliegen auch solche Unterlagen dem Zugangsrecht des Betroffenen bzw. seiner Verteidigung.
Nach den Ausführungen in der vorliegend vom Betroffenen gemäß § 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO zulässig erhobenen Verfahrensrüge hat die Bußgeldbehörde das von seiner Verteidigung angebrachte Einsichtsgesuch bzgl. der o.g. Unterlagen unter Hinweis auf die Behördenerklärung der Polizeiinspektion Verden/Osterholz vom 17.04.2021 abgelehnt. In der Behördenerklärung wird ausgeführt, das an dem Messgerät im Zeitraum zwischen der letzten Eichung und dem Tattag „… weder Beschädigungen noch Störungen vorgelegen haben, welche eine Reparatur, Wartung oder Neueichung notwendig werden ließen“. Der von der Verteidigung gegen die ihr Einsichtsgesuch ablehnende Verfügung der Bußgeldbehörde gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG führte nur insoweit zum Erfolg, als dass das Amtsgericht die Bußgeldbehörde anwies, etwaige eich- und nicht eichrelevante Vorgänge für den Zeitraum seit der letzten Eichung bis zum Tattag mitzuteilen. Dem ist die Bußgeldbehörde insoweit gefolgt, als dass sie der Verteidigung des Betroffenen die weitere Behördenerklärung der Polizeiinspektion Verden/Osterholz vom 03.06.2021 übermittelte, wonach an dem Messgerät „… zwischen Eichung und Tattag und dem darauffolgenden Messtag weder Beschädigungen noch Störungen vorgelegen haben, welche eine Reparatur oder Wartung erforderlich werden ließen, die eine Neueichung notwendig werden ließen“. Den von der Verteidigung in der nachfolgenden Hauptverhandlung unter Hinweis auf die aus ihrer Sicht unzureichende Behördenerklärung gestellten Antrag auf Einsicht in die begehrten Unterlagen sowie dem zugleich gestellten Aussetzungsantrag hat das Amtsgericht nicht entsprochen.
Der dargestellte Verfahrensablauf ist mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens nicht vereinbar. Denn dem Akteneinsichtsgesuch der Verteidigung ist durch die Bußgeldbehörde bzw. durch das Amtsgericht nicht in der gebotenen Weise stattgegeben worden.
Zum einen erstreckte sich das Einsichtsrecht der Verteidigung nicht nur auf den Zeitraum zwischen der letzten Eichung und dem Tag der Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen bzw. dem vier Tage später stattgefundenen nächsten Messtag, sondern vielmehr bis zur etwaigen nachfolgenden Neueichung bzw. ‒ sofern eine Neueichung nicht stattgefunden haben sollte, bis zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung. Der Verteidigung des Betroffenen ist insoweit zuzugeben, dass bis zur etwaigen Neueichung bzw. bis zur Hauptverhandlung durchgeführte Reparatur,- Störungs,- Reinigungs- oder Wartungsmaßnahmen an dem Messgerät bzw. die hierüber vorhandenen Unterlagen relevante Informationen für die Beurteilung von dessen Messgenauigkeit am Tag der Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen geben könnten. Insoweit ist zu erwarten, dass die in § 31 Abs. 2 Nr. 4 Mess- und Eichgesetz normierte Verpflichtung zur Herstellung und dreimonatigen Aufbewahrung von Nachweisen über Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe an dem Messgerät durch die Polizeiinspektion Verden/Osterholz als Verwenderin des Messgeräts beachtet worden ist.
Zum anderen ist das Einsichtsrecht der Verteidigung nicht nur auf solche Unterlagen beschränkt, welche lediglich eichpflichtige Maßnahmen an dem Messgerät betreffen. Denn es kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden, dass sich auch aus den Unterlagen für etwaige nicht eichpflichtig gewesene Maßnahmen aus Sicht der Verteidigung relevante Informationen ergeben können.
Das Amtsgericht wäre mithin gehalten gewesen, sich um eine vollständige Aussage der Bußgeldbehörde bzw. der Polizeiinspektion Verden/Osterholz als der ihr zuarbeitenden Verwenderin des eingesetzten Geschwindigkeitsmessgeräts dahin zu bemühen, ob in dem o.g. maßgeblichen Zeitraum Reparatur,- Störungs,- Reinigungs- oder Wartungsmaßnahmen an dem Gerät tatsächlich stattgefunden haben und von welcher Art diese ggf. waren, und zwar unabhängig davon, ob die Maßnahmen eine Neueichung erforderlich gemacht haben oder nicht.
b)
Das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren ist auch dadurch verletzt worden, dass die von seiner Verteidigung bei der Bußgeldbehörde beantragte Gewährung von Einsicht in die dort vorhandene Bedienungsanleitung für das Messgerät versagt wurde, ihr hiergegen gerichteter Antrag auf gerichtliche Entscheidung ebenfalls erfolglos geblieben und das Amtsgericht das von der Verteidigung in der Hauptverhandlung erneut angebrachtes Einsichtsgesuch und den damit einhergehenden Aussetzungsantrag abgelehnt hat. Die Verfahrensrüge des Betroffenen ist auch in Anknüpfung an dieses Verfahrensgeschehen zulässig und unbegründet.
Das aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgende Recht des Betroffenen, auf seinen Antrag hin auch nicht bei den Akten befindliche amtliche Unterlagen, die er für die Prüfung des Tatvorwurfs benötigt, durch die Bußgeldbehörde zur Einsicht zu erhalten, umfasst in den Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung u.a. auch die Bedienungsanleitung für das verwendete Messgerät (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. v. 07.01.2021 ‒ 1 OWi 2 SsBs 98/20 ‒, juris, mwN).
Vorliegend haben sowohl die Bußgeldbehörde, als auch das Amtsgericht der Verteidigung des Betroffenen die Einsichtnahme in die Bedienungsanleitung mit der Begründung verwehrt, dem Ersuchen stehe ein urheberechtliches Vervielfältigungsverbot entgegen. Die dem zugrunde liegende Rechtsauffassung findet im Gesetz indes keine Stütze. Selbst wenn eine Bedienungsanleitung für ein technisches Messgerät als urheberrechtlich geschütztes Werk i.S. von § 2 UrhG anzusehen wäre, ist es nach § 45 Abs. 1, Abs. 3 UrhG zulässig, einzelne Vervielfältigungsstücke von Werken zur Verwendung in Verfahren vor einem Gericht, einem Schiedsgericht oder einer Behörde herzustellen oder herstellen zu lassen. Unter den gleichen Voraussetzungen wie die Vervielfältigung ist auch die Verbreitung, öffentliche Ausstellung und Wiedergabe der Werke zulässig. Ein Verfahren i.S. von § 45 Abs. 1 UrhG ist der Vorgang vor dem Gericht, der einer Entscheidungsfindung für einen nicht rein gerichtsinternen Vorgang zur Regelung eines Einzelfalles vorangeht; die Verwertung muss der Verwendung in diesem Verfahren dienen. Berechtigt zur Verwertung des Werkes der in § 45 UrhG genannten Art ist dabei jeder, der das Werk zur Verwendung in einem Verfahren vor einem Gericht benutzt.
Das sind die Parteien des Verfahrens, aber auch deren Prozess- bzw. Verfahrensbevollmächtigte und sonstige am Verfahren beteiligte Personen, wie der Gutachter oder der Zeuge. Daher ist auch in Fällen, in denen die einem angewandten Messverfahren zugrunde liegende Bedienungsanleitung als urheberrechtlich geschütztes Werk anzusehen ist, deren Verwendung in Verfahren vor einem Gericht oder einer Behörde durch Beifügung einer Kopie der Bedienungsanleitung in die Verfahrensakte zulässig (vgl. OLG Celle, NStZ 2014, 525; KG Berlin, DAR 2013, 211; Cierniak, ZfS 2012, 664).
Spätestens auf das von der Verteidigung in der Hauptverhandlung erneut angebrachte Ersuchen um die Gewährung der Einsicht in die Bedienungsanleitung und den gleichfalls gestellten Aussetzungsantrag hin wäre das Amtsgericht daher gehalten gewesen, die nach Aktenlage sowohl der Bußgeldbehörde als auch der Polizei Verden/Osterholz vorliegende Bedienungsanleitung ‒ ggf. in Kopie ‒ anzufordern und selbige der Verteidigung des Betroffenen zur Verfügung zu stellen.
Ergänzend wird angemerkt, dass sich die Bußgeldbehörden bei entsprechenden Akteneinsichtsgesuchen auch nicht darauf beschränken können, anstelle der Übersendung einer Kopie der ihnen vorliegenden Bedienungsanleitung an die Verteidigung eines Betroffenen auf die Möglichkeit zur Einsichtnahme in den Räumen der Bußgeldbehörde oder der Dienststelle der das Geschwindigkeitsmessgerät nutzenden Polizeidienststelle zu verweisen (vgl. hierzu OLG Stuttgart, Beschl. v. 03.08.2021 ‒ 4 Rb 12 Ss 1094/20 ‒, juris).
2.
Die vorstehend aufgezeigten Verfahrensfehler nötigen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils nebst den getroffenen Feststellungen. Die Sache war daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Amtsgericht Achim zurückzuverweisen.
3.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf folgendes hin:
a)
Die Verteidigung des Betroffenen hat gegenüber der Bußgeldbehörde und nachfolgend im gerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgericht erfolglos die Bereitstellung der sog. Rohmessdaten aus der gesamten Messreihe aus der am Vorfallstag durchgeführten Geschwindigkeitsmessung sowie der Statistikdatei verlangt. Das Amtsgericht hat in seiner Entscheidung vom 20.05.2021 (Az. 17 OWi 369/21) einen Rechtsanspruch auf die Bereitstellung dieser Daten verneint.
Die Frage, ob einem Betroffenen aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgend ein Anspruch auf Einsicht in nicht bei den Verfahrensakten befindliche Rohmessdaten einer gesamten Messreihe zusteht, wird in der nach der o.g. Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 ‒ 2 BvR 161/18 ‒, juris) ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt.
Einige Oberlandesgerichte haben auf der Grundlage der unter dem Titel „Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung“ verfassten Stellungnahme der Physikalisch-Technische Bundesanstalt vom 30.03.2020 die vom Bundesverfassungsgericht vorausgesetzte „Relevanz“ für das Zugangsrecht des Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zu begehrten nicht bei den Akten befindlichen Informationen hinsichtlich der Daten der gesamten Messreihe einer Geschwindigkeitsmessung abgesprochen. Hieran anknüpfend haben sie ein Einsichtsrecht der Verteidigung des Betroffenen verneint (vgl. BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021 ‒ 202 ObOWi 1532/20 ‒, juris; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 05.05.2021 ‒ 1 OWi 2 SsBs 19/21 ‒, juris).
Andere Oberlandesgerichte hingegen gehen davon aus, dass die Bewertung, ob bestimmte Informationen für die Verteidigung „relevant“ sind, allein der Einschätzung der Verteidigung unterliegt und es daher genügt, wenn sie zur Begründung ihres Einsichtsbegehrens auf mögliche Auffälligkeiten, die sich aus der Betrachtung der Daten der gesamten Messreihe ergeben könnten, verweisen. Ihnen könne zudem auch unter Berücksichtigung der o.g. Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt eine potentielle Beweiserheblichkeit nicht abgesprochen werden. Aufgrund dessen sei einem entsprechenden Einsichtsgesuch der Verteidigung stattzugeben (vgl. OLG Jena, Beschl. v. 17.03.2021 ‒ 1 OLG 2 SsBs 23/20 ‒, juris; OLG Stuttgart, Beschl. v. 03.08.2021 ‒ 4 Rb 12 Ss 1094/20 ‒, juris).
Das Oberlandesgericht Zweibrücken hat aufgrund der divergierenden Auffassungen in der oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung die Frage dem Bundesgerichtshof gemäß § 121 Abs. 2 GVG zur Entscheidung vorgelegt (vgl. OLG Zweibrücken, aaO). Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist bislang noch nicht ergangen.
Der Senat hat im vorliegenden Verfahren von einer eigenen Beurteilung der Rechtsfrage abgesehen, da insoweit die Entscheidung des Bundesgerichtshofs abzuwarten ist, welche im weiteren Verfahren bindend sein wird.
Für das Amtsgericht bietet es sich daher an, entweder mit einer neuen Hauptverhandlung bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs zuzuwarten oder die Daten der gesamten Messreihe vom Tag der Geschwindigkeitsmessung des Betroffenen anzufordern und sie seiner Verteidigung zugänglich zu machen.
b)
Hinsichtlich der von der Verteidigung begehrten Einsicht in die von ihr näher bezeichnete Daten und Unterlagen der auf der BAB 27 hinter der Anschlussstelle Achim-Nord in Fahrtrichtung Norden befindlichen Wechselverkehrszeichenanlage (WVZ) gilt folgendes:
aa)
Die betreffenden Daten wären nur dann i.S. der oben unter Ziff. 1 aufgeführten Grundsätze für die Verteidigung des Betroffenen relevant, wenn in der neuen Hauptverhandlung nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme festgestellt werden würde, dass der Betroffene erst im Bereich der Anschlussstelle Achim-Nord auf die BAB 27 in Fahrtrichtung Bremen aufgefahren ist. Denn dann hätte er die auf der BAB 27 vor dieser Anschlussstelle aufgestellte Festbeschilderung nicht wahrnehmen können. Für den Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung könnte daher nur auf die von der genannten WVZ zum Vorfallszeitpunkt anzeigte Geschwindigkeitsbegrenzung abgestellt werden.
Die Klärung dieser Frage ist deshalb von Bedeutung, da ihre Beantwortung unmittelbare Auswirkungen auf die bei einem Nachweis der Geschwindigkeitsüberschreitung des Betroffenen anzuordnende Rechtsfolge hätte. Denn die Messstelle befand sich lediglich 61 m von der WVZ entfernt, mithin deutlich unterhalb des in Nr. 4 der Anlage zu den in Niedersachsen geltenden „Richtlinien für die Überwachung des fließenden Straßenverkehrs durch Straßenverkehrsbehörden“ i.d.F. vom 07.10.2010 geregelten Mindestabstands von 150 m. In einer solchen Fallkonstellation kommt nach der Rechtsprechung die Annahme eines im konkreten Einzelfall geringer erscheinenden Schuldgehalts der festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung und in der Folge ein Absehen vom Regelfahrverbot oder ‒ bei weniger gravierenden Verstößen oder geringer Schuld ‒ sogar eine Einstellung des Verfahrens nach § 47 OWiG in Betracht (vgl. OLG Celle, Besch. v. 25.07.2011 ‒ 311 SsRs 114/11 ‒, juris; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Auflage, § 3 Rd. 56a mwN).
bb)
Soweit das angefochtenen Urteil davon ausgeht, dass der Betroffene zur Vorfallszeit die im Bereich vor der Messstelle geltende Geschwindigkeitsbegrenzung gekannt habe bzw. gekannt haben müsse, ist folgendes anzumerken:
Den Urteilsgründen lassen sich sichere Feststellungen, dazu, ob sich der Betroffene mit seinem Fahrzeug bereits vor der Anschlussstelle Achim-Nord auf der BAB 27 befunden hat oder erst an der Anschlussstelle auf die BAB 27 aufgefahren ist, nicht entnehmen. Es bleibt letztlich unklar, von welcher Konstellation das Amtsgericht ausgegangen ist. So führen die Urteilsgründe lediglich aus, die Festbeschilderung vor der Anschlussstelle sei sichtbar gewesen (vgl. UA S. 3, 3. Absatz). An späterer Stelle heißt es, die Sichtbarkeit der WVZ sei gegeben gewesen (vgl. UA S. 3, 4. Absatz). Die Annahme der subjektiven Vorwerfbarkeit des Verstoßes begründet das Amtsgericht sodann damit, dass der Betroffene ortskundig sei und die geltende Geschwindigkeitsbegrenzung habe bemerken müsse. Die Überzeugung, der Betroffene sei ortskundig gewesen, stützt das Amtsgericht allein darauf, dass er in Bremen wohnhaft sei.
Dieser Schluss ist unzulässig. Allein der Umstand, dass der Betroffene in Bremen wohnt, trägt für sich genommen die Feststellung, er sei im Bereich der Messstelle ortskundig gewesen, nicht. Aus den Urteilsgründen ergeben sich keine sonstigen Anhaltspunkte, welche in der Zusammenschau einen Rückschluss auf eine Ortskundigkeit des Betroffenen zulassen würden.
cc)
Sofern in der neuen Hauptverhandlung zu der Frage, ob der Betroffene sich bereits vor der Anschlussstelle Achim-Nord auf der BAB 27 befunden hat, keine Einlassung des Betroffenen erfolgen und keine anderen objektiven Beweismittel zur Verfügung stehen sollten, käme die Vernehmung eines Sachverständigen in Betracht. Mit ihm wäre zu klären, ob es bei einer Auffahrt auf die BAB 27 im Bereich der Anschlussstelle Achim-Nord unter Berücksichtigung der Wegstrecke von der Einfädelungsspur auf die BAB 27 bis zur nachfolgenden Messstelle möglich war, mit einem Fahrzeug in der Art des vom Betroffenen am Vorfallstag geführten PKW´s eine Geschwindigkeit von mindestens 161 km/h zu erreichen. Sollte dies auszuschließen und daher eine Auffahrt des Betroffenen auf die BAB 27 im Bereich der genannten Anschlussstelle zu verneinen sein, wäre davon auszugehen, dass der Betroffene sich bereits vor der Anschlussstelle auf der BAB 27 befunden hat und die zur Vorfallszeit vor der Anschlussstelle aufgestellte Festbeschilderung wahrgenommen hat bzw. hätte wahrnehmen können.
Dementsprechend käme es auf die aus seiner Sicht in Fahrtrichtung Norden folgende WVZ und die von ihr angezeigte Geschwindigkeitsbegrenzung nicht an. Die von der Verteidigung des Betroffenen verlangte Zugang zu den Daten und Unterlagen der WVZ könnte versagt werden, da sie für die Beurteilung des Geschwindigkeitsverstoßes des Betroffenen keine Relevanz hätten.
Sollte sich indes ergeben, dass ein Auffahren des Betroffenen auf die BAB 27 im Bereich der Anschlussstelle nicht auszuschließen ist, stünde dem Betroffene ein aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgendes Zugangsrecht zu den Daten und Unterlagen der in Rede stehenden WVZ zu. Da sich diese weder bei den Akten noch bei der Bußgeldbehörde oder der Polizei Verden/Osterholz, sondern nach Aktenlage bei dem Amt für Straßen- und Verkehr in Bremen befinden, würde sich die Frage stellen, ob das Amtsgericht die Daten und Unterlagen von sich aus bei dem Amt für Straßen- und Verkehr in Bremen anzufordern und sie der Verteidigung des Betroffenen zur Einsicht zu überlassen hat. Die dahinter stehende Grundsatzfrage, ob sich die Verteidigung eines Betroffenen mit dem Antrag auf Gewährung von Einsicht in weder bei den Akten noch bei der Bußgeldbehörde, sondern bei einer anderen Behörde oder Institution befindlichen von der Verteidigung für die Überprüfung der Geschwindigkeitsmessung als relevant eingestuften Unterlagen, Daten und Informationen selbst an diese Behörde oder Institution wenden muss oder die Bußgeldbehörde bzw. das Gericht sie anzufordern gehalten ist, hat der Senat bisher noch nicht entschieden. Im Anschluss an die o.g. Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 hat sich ‒ soweit ersichtlich ‒ bisher nur das Oberlandesgericht Düsseldorf mit dieser Frage auseinandergesetzt und sie dahin beantwortet, dass die Entscheidung unter dem Gesichtspunkt des Rechts auf ein faires Verfahren nur den Zugang zu den zwar nicht bei den Akten des Bußgeldverfahrens, dafür aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen betreffe. Aus der Entscheidung ergebe sich hingegen nicht, dass der Tatrichter gehalten wäre, Informationen, über welche auch die Ermittlungsbehörden nicht verfügen und die lediglich der Betroffene aus seiner Perspektive für bedeutsam halte, außerhalb der richterlichen Aufklärungspflicht bei Dritten herbeizuschaffen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.01.2021 ‒ 2 RBs 1/21 ‒, juris).
Der Senat neigt dazu, der vom Oberlandesgericht Düsseldorf vertretenen Auffassung zu folgen. Für deren Richtigkeit spricht auch die weitere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 04.05.2021, in der noch einmal herausgestellt wird, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Betroffenen grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindliche, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen kann (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.05.2021 ‒ 2 BvR 277/19 ‒, juris). Eine Weiterung dahin, dass die Bußgeldbehörde oder das Gericht verpflichtet wären, nicht bei der Bußgeldbehörde, sondern nur bei einem Dritten vorhandene Informationen zu beschaffen und sodann dem Betroffenen bzw. seiner Verteidigung zugänglich zu machen, lässt sich auch dieser Entscheidung nicht entnehmen.
Sollte die aufgeworfene Frage von der Verteidigung des Betroffenen zum Gegenstand eines etwaigen erneuten Rechtsbeschwerdeverfahrens gemacht werden, stünde ‒ sofern in der Zwischenzeit andere Oberlandesgerichte eine vom Oberlandesgericht Düsseldorf abweichende Rechtsauffassung zum Gegenstand ihrer Entscheidungen gemacht haben ‒ eine Divergenzvorlage durch den Senat an den Bundesgerichtshof nach § 120 Abs. 2 GVG im Raum.
Es könnte sich wegen der damit zwangsläufig einhergehenden Verfahrensverzögerungen anbieten, dass das Amtsgericht vor der neuen Hauptverhandlung von sich aus an das Amt für Straßen- und Verkehr in Bremen herantritt, um die Bereitstellung der von der Verteidigung des Betroffenen begehrten Unterlagen und Daten für die in Rede stehende WVZ ersucht und selbige sodann der Verteidigung zur Einsicht überlässt.
c)
Das von der Verteidigung des Betroffenen im gerichtlichen Bußgeldverfahren und in der Rechtsbeschwerdebegründung geltend gemachte Verwertungsverbot im Hinblick auf die von der Bußgeldbehörde unter Verstoß gegen die einschlägigen Datenschutzbestimmungen vor der Anhörung des Betroffenen erfolgte Anforderung einer Kopie des Lichtbildes seines Personalausweises vom Bürgeramt der Freien Hansestadt Bremen ist für die Zulässigkeit der Aburteilung einer in der neuen Hauptverhandlung ggf. festgestellten Geschwindigkeitsüberschreitung des Betroffenen ohne Belang. Denn der Betroffene hat unabhängig von diesem Verfahrensverstoß die Fahrereigenschaft im Schriftsatz seiner Verteidigung vom 01.09.2021 (Bd. I, Bl. 173 d.A.) bereits eingeräumt und dies durch die Verteidigung in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht auch nicht zurückgenommen.
d)
Für den Fall, dass die weitere Sachaufklärung erneut eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 41 km/h ergeben und daher die Verhängung des Regelfahrverbots in Betracht kommen sollte, wird das Amtsgericht in den Blick zu nehmen haben, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein Absehen vom Fahrverbot gem. § 25 StVG erst zu erwägen ist, wenn seit dem Verkehrsverstoß eine Verfahrensdauer von zwei Jahren oder mehr gegeben ist und der Betroffene sich zwischenzeitlich verkehrsgerecht verhalten hat (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 23. Dezember 2004 ‒ 211 Ss 145/04 (OWi) ‒, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 02. Juli 2007 ‒ 3 Ss OWi 360/07 ‒, juris; KG Berlin, Beschluss vom 05. September 2007 ‒ 2 Ss 193/07 ‒ 3 Ws (B) 459/07 ‒, juris).