18.03.2022 · IWW-Abrufnummer 228159
Oberlandesgericht Karlsruhe: Beschluss vom 02.02.2022 – 3 Rb 33 Ss 854/21
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OLG Karlsruhe
Beschluss vom 02.02.2022
- Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts Singen vom 7. Oktober 2021 mit den Feststellungen aufgehoben; die Feststellungen zu der Fahrt und der Geschwindigkeitsüberschreitung bleiben jedoch aufrechterhalten.
- Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Singen zu rückverwiesen.
- Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird verworfen.
Gründe
I.
Der Betroffene wurde durch Beschluss des Amtsgerichts Singen vom 7.10.2021 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (innerhalb geschlossener Ortschaften) um 65 km/h zu einer Geldbuße von 480 EUR und einem Fahrverbot von drei Monaten verurteilt (unter Gewährung der Viermonatsfrist nach § 25 Abs. 2a StVG). Hiergegen richtet sich die form- und fristgerechte Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der die Verletzung materiellen und formellen Rechts rügt.
Die Generalstaatsanwaltschaft trägt an, auf die Rechtsbeschwerde den Beschluss mit den Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das Amtsgericht zurückzuverweisen.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des Beschlusses mit den zugrundeliegenden Feststellungen; jedoch können ‒ insoweit ist deshalb die Rechtsbeschwerde zu verwerfen ‒ die Feststellungen, dass am … April 2021 um … Uhr durch den Fahrer des Pkw, amtl. Kennzeichen … , auf der …-Straße in Singen die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften um 65 km/h überschritten wurde, aufrechterhalten bleiben.
1. Die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des angefochtenen Beschlusses führt zu dessen Aufhebung, weil die Beweiswürdigung zu der Feststellung, dass der Betroffene der Fahrer war, rechtlicher Überprüfung nicht standhält.
Das Amtsgericht stützte seine Überzeugung davon, dass der Betroffene der Fahrer des gemessenen Pkws war, auf eine vergleichende Betrachtung des auf dem Messfoto (AS 9) abgebildeten Fahrers, des Von der Verwaltungsbehörde zu den Akten gebrachten Porträtbildes des Betroffenen (AS 23) und des vom Betroffenen selbst eingesandten Lichtbildes (AS 89). Hierbei hätten sich deutliche Übereinstimmungen des Betroffenen mit dem auf dem Foto Abgebildeten gezeigt (junger Mann mit dunklem Backenbart, rundem, vollem Gesicht, einer geraden, eher breiten Nase, einem kräftigen Hals sowie einer charakteristischen Oberlippenpartie mit ausgeprägter vertikaler Mulde zwischen Mund und Nase).
Auch wenn dem Rechtsbeschwerdegericht im Beschlussverfahren nach § 72 OWiG ‒ anders als im Urteilsverfahren ‒ durch die erhobene Sachrüge der Zugang zu den Prozessakten eröffnet ist und ihm infolgedessen der gesamte Akteninhalt, insbesondere somit auch das Messfoto, zur Verfügung steht (vgl. OLG 8amberg, 8. v. 21.2.2018 ‒ 2 Ss OWi 111/18), kann der Senat aufgrund der schlechten Qualität des Messfotos die vom Amtsgericht in diesem Fotobild festgestellten Identifizierungsmerkmale (u.a. rundes, volles Gesicht, ausgeprägte vertikale Mulde zwischen Nase und Mund) nicht zweifelsfrei erkennen.
Vor einer neuen Entscheidung wird deshalb ein Sachverständigengutachten einzuholen sein (zu den Anforderungen an ein anthropologisches Identitätsgutachten und dessen Darlegung im Urteil: OLG Zweibrücken, B. v. 29.1.2018 ‒ 1 OWi 2 Ss8s 98/17 [auch zum Hinzutreten weiterer gewichtiger Indizien]; vgl. auch Huckenbeck/Krumm, NZV 2017, 453).
2. Die Feststellungen zur Geschwindigkeitsüberschreitung können aufrechterhalten bleiben, weil sie rechtsfehlerfrei getroffen wurden.
a. Die gesetzlichen Voraussetzungen zur Entscheidung im Beschlussverfahren lagen vor (kein Widerspruch der Staatsanwaltschaft und ausdrückliches Einverständnis des Betroffenen). Die Entscheidung über das Erfordernis oder die Entbehrlichkeit einer Hauptverhandlung trifft das Gericht nach seinem in einem Rechtsbeschwerdeverfahren nicht nachprüfbaren (OLG Stuttgart, Die Justiz 2013, 357) ‒ Ermessen (BeckOK OWiG/Hettenbach OWiG § 72 Rn. 3). Dass die Durchführung einer Hauptverhandlung in Anwesenheit des (seine Fahrereigenschaft bestreitenden) Betroffenen zur Aufklärung des Sachverhalts möglicherweise nähergelegen hätte, steht deshalb nicht entgegen, zumal der Betroffene dem Gericht ein aktuelles Lichtbild von guter Qualität übersandt hatte. Die von der Verteidigung zitierte Entscheidung (OLG Brandenburg, BeckRS 2019, 16870) betrifft einen anders gelagerten Sachverhalt (Entscheidung im Beschlussverfahren nach vollständig durchgeführter Hauptverhandlung).
b. Die Feststellung des Amtsgerichts, dass das Messgerät zum Tatzeitpunkt gültig geeicht war, reicht aus. Der Eichschein datiert vom 8.7.2020, wie sich aus der Akte ergibt, auf die das Rechtsbeschwerdegericht Zugriff hat (s.o.). Auch die festgestellte Geschwindigkeit von 115 km/h ist unter Zugrundelegung des ‒ durch das Geschwindigkeitsüberwachungsmessgerät vom Typ ES 8.0 gemessenen Geschwindigkeitswertes (von 119 km/h) rechtlich nicht zu beanstanden (Abzug von 3% bei gemessenen Geschwindigkeiten über 100 km/h).