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  • 18.04.2023 · IWW-Abrufnummer 234809

    Oberlandesgericht Karlsruhe: Beschluss vom 02.03.2023 – 1 ORs 35 Ss 57/23

    1. Da die schriftlichen Urteilsgründe eine Einheit bilden, können auch in der Beweiswürdigung wiedergegebene und als glaubhaft bewertete Angaben eines Zeugen, welche das Gericht seinen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen ersichtlich vollumfänglich zugrunde legt, für die revisionsrechtliche Prüfung herangezogen werden, ob die Feststellungen den Schuldspruch tragen.

    2. Widersetzt sich der Täter der von einer Angehörigen des Gemeindevollzugsdienstes getroffenen Anhalteanordnung ("Stopp, Halt!"), welche diese in Erfüllung ihrer Aufgabe, das Abschleppen eines in einer Brandschtzzone verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs im Wege der Ersatzvornahme zu veranlassen und die Verantwortlichkeit für den dieser Maßnahme zugrundeliegenden Verkehrsverstoß vor Ort zu klären, in der Weise, dass er auf diese mit dem Pkw zufährt, so dass die Amtsträgerin entsprechend der Absicht des Täters zur Seite springen muss, um nicht vom Fahrzeug erfasst zu werden, leistet er bei der von dieser i.S.v. § 113 Abs. 3 StGB rechtmäßig getroffenen Anordnung unter Einsatz materieller Zwangsmittel Widerstand (§ 113 Abs. 1 StGB), wobei er mit dem Pkw – unter Berücksichtigung der konkreten Art dessen Verwendung – ein anderes gefährliches Werkzeug i.S.v. § 113 Abs. 2 Ziff. 1 StGB mit sich führt; gleichzeitig (§ 52 StGB) greift er die Amtsträgerin i.S.v. § 114 Abs. 1 StGB tätlich an. Für die Beurteilung der Diensthandlung als rechtmäßig ist unerheblich, dass der Täter durch das Wegfahren mit dem verbotswidrig abgestellten Pkw den ordnungswidrigen Zustand selbst beseitigt.


    OLG Karlsruhe (1. Strafsenat)

    Beschluss vom 02.03.2023


    Tenor:

    Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Baden-Baden vom 12. Oktober 2022 wird auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe, die dem Verteidiger Gelegenheit zur Gegenäußerung gegeben hat, einstimmig als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 und 3 StPO).

    Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).

    Der Senat bemerkt im Hinblick auf das Revisionsvorbringen ‒ ergänzend zu den zutreffenden Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 01.02.2023 ‒ Folgendes:

    Gründe:

    1
    1. Die amtsgerichtlichen Feststellungen bieten entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers eine noch hinreichende, den Schuldspruch wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) mit einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte gem. § 114 Abs. 1 StGB tragfähige Grundlage.

    2
    a. § 267 Abs. 1 S. 1 StPO verpflichtet den Tatrichter, in den Urteilsgründen „die für erwiesenen Tatsachen anzugeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden“. Die Urteilsgründe müssen danach in einer geschlossenen, aus sich selbst heraus verständlichen Darstellung alle Tatsachen feststellen, die den objektiven und subjektiven Tatbestand der jeweils angewendeten Strafnorm ausfüllen sollen (BGH StV 2017, 799). Für das Revisionsgericht muss zweifelsfrei erkennbar werden, welche Tatsachen das Tatgericht für erwiesen erachtet und inwiefern es sie den jeweiligen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen zuordnet (BGH NStZ-RR 2017, 123; BGH BeckRS 2017, 120582). Da die Urteilsgründe eine Einheit bilden, sind alle Feststellungen zu berücksichtigen, gleich, wo sie im Urteil niedergeschrieben sind, solange eine eindeutige Trennung der Feststellungen von der Beweiswürdigung erfolgt (BGH NStZ-RR 2011, 231; KK-StPO/Bartel StPO § 267 Rn. 14 m.w.N.). Da das Amtsgericht die (revisionsrechtlich unbedenklich als glaubhaft bewerteten) Angaben der Zeuginnen P. und K. seinen Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen ‒ vollumfänglich ‒ zu Grunde gelegt hat, kann der Senat deren unter III. der schriftlichen Urteilsgründe wiedergegebenen Angaben für seine Prüfung ergänzend heranziehen:

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    b. Hiernach war von folgendem Sachverhalt auszugehen:

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    Die Zeuginnen P. und K., Angehörige des Gemeindevollzugsdienstes der Stadt B., stellten am 05.08.2021 gegen 19.40 Uhr fest, dass ein Pkw widerrechtlich in einer Brandschutzzone in der Innenstadt von B. abgestellt war. Daraufhin „tippten“ sie eine Verwarnung, führten eine Halteranfrage durch und ordneten an, dass das Fahrzeug abzuschleppen sei. Mit der Durchführung der Maßnahme beauftragten sie ein Abschleppunternehmen. In der Folge erschien das Ehepaar C. vor Ort. Frau C. öffnete die Fahrzeugtür, nahm auf dem Fahrersitz Platz und wollte wegfahren, was die Zeuginnen P. und K. unterbanden. „Aus dem Nichts“ erschien nun der Angeklagte, zog Frau C. aus dem Fahrzeug und fuhr mit aufheulendem Motor los, obwohl die Zeuginnen ihn lautstark („Stopp, Halt!“) und mit Handzeichen zum Stehenbleiben aufforderten. Mit ihrer Anordnung wollten die Zeuginnen die Personalien aller Beteiligten erheben, die Verantwortlichkeit für das Abstellen des Pkw in der Brandschutzzone klären und vor Ort mit diesen und dem Abschleppunternehmer die Kostentragung regeln. Der Angeklagte fuhr ‒ die Anhalteanordnung wahrnehmend, aber ignorierend ‒ auf die sich in einer Entfernung von ungefähr 3-4 Meter vor dem Fahrzeug befindliche Zeugin P. zügig zu, um diese „am Vollzug der Maßnahme“ zu hindern. Die Zeugin P. musste zur Seite springen, um nicht von dem sich von der Örtlichkeit entfernenden Fahrzeug erfasst zu werden.

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    2. Der Angeklagte hat somit der Anordnung der Zeuginnen, das Fahrzeug anzuhalten und an der Örtlichkeit zu verbleiben, mit Gewalt Widerstand geleistet.

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    a. Bei den Zeuginnen handelt es sich um Amtsträgerinnen gem. § 11 Abs. 1 Nr. 2 b) StGB, die nach § 125 BWPolizeiG i.V.m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 a) DVOPolG und § 25 BWLVwVG berechtigt waren, im Wege der Ersatzvornahme das Abschleppen des in einer Brandschutzzone verbotswidrig abgestellten Fahrzeugs anzuordnen und die unmittelbare Ausführung dieser Maßnahme zu veranlassen.

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    b. Bei der gegenüber dem Angeklagten getroffenen Verhaltensanordnung durch den Ruf „Stopp, Halt!“ handelt es sich um einen wirksamen, nicht offensichtlich rechtswidrigen mündlichen Verwaltungsakt, dem der Angeklagte Folge zu leisten hatte. Der Einwand der Revision, der Angeklagte habe durch das Wegfahren des Pkw die Störung beseitigt, weshalb es weder angemessen noch erforderlich gewesen sei, diesen hieran zu hindern, verfängt nicht. Der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Diensthandlung im Rahmen von § 113 Abs. 3 StGB ist nach der Rechtsprechung der sog. strafrechtliche Rechtsmäßigkeitsbegriff zu Grunde zu legen (zuletzt BGHSt 60, 258 = NJW 2015, 3109 m.w.N.; bestätigt von BVerfG NVwZ 2007, 1180). Es kommt nur darauf an, dass die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Hoheitsträgers gegeben sind, er also örtlich und sachlich zuständig ist, er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten einhält und der ihm gegebenenfalls eingeräumtes Ermessen pflichtgemäß ausübt. Die Grenzen der Pflicht zur Duldung einer nach den maßgeblichen außerstrafrechtlichen Rechtsvorschriften rechtswidrigen hoheitlichen Maßnahme sind dort erreicht, wo diese mit dem Grundsatz der Rechtsbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) schlechthin unvereinbar sind (BVerfG NJW 1991, 3023; BGHSt 4, 161 [164] = NJW 1953, 1032).

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    c. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe haben die Zeuginnen P. und K. ihre an den Angeklagten gerichtete Anordnung unter pflichtgemäßer Würdigung der tatsächlichen Eingriffsvoraussetzungen getroffen: Die zur Klärung der Verantwortlichkeiten für den Ordnungsverstoß und für die Pflicht zur Kostentragung für die Ersatzvornahme (Anfahrt des Abschleppdienstes, vgl. hierzu VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27.06.2002 ‒ 1 S 1531/01) notwendigen Ermittlungen waren Bestandteil der im Rahmen des Aufgabenbereichs der Zeuginnen zu treffenden Ordnungsmaßnahmen. Zum einen stand für diese die „Rolle“ des Angeklagten (Fahrer, Halter oder Unbeteiligter) noch nicht fest. Im Übrigen widerspricht es auch nicht pflichtgemäßer Ermessensausübung, vor Ort die Kostentragung für die (sich erledigende) Abschleppmaßnahme zu klären, etwa durch Herbeiführung einer Einigung des Kostenpflichtigen mit dem Abschleppunternehmer, wodurch sich ein Heranziehungsbescheid der Behörde erledigt.

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    d. Indem der Angeklagte auf die in einer Entfernung von 3-4 Metern vor ihm stehende Zeugin P. zügig zufuhr, so dass diese zur Seite springen musste, um nicht vom Fahrzeug erfasst zu werden, hat er zur Verhinderung oder Erschwerung der Diensthandlung gegen diese materielle Zwangsmittel angewandt (vgl. BGH Beschluss vom 9.11.2022 ‒ 4 StR 272/22, BeckRS 2022, 35746 m.w.N; Rosenau in LK-StGB, 13. Aufl. Rn. 23 m.w.N.), zugleich ‒ tateinheitlich ‒ mit feindseligem Willen unmittelbar auf deren Körper in einer Weise eingewirkt und sie somit bei ihrer Diensthandlung i. S. v. § 114 Abs. 1 StGB tätlich angegriffen (BGH Beschluss vom 13.05.2020 ‒ 4 StR 607/19, BeckRS 2020,13163, Beschluss vom 11.06.2020 ‒ 5 StR 157/20, BeckRS 2020, 13939; OLG Hamm Beschluss vom 12.02.2019 ‒ 4 RVs 9/19BeckRS 2019, 3129; Fischer, StGB. 70. Aufl. § 114 Rn. 5), wobei eine körperliche Berührung oder auch nur ein darauf zielender Vorsatz des Täters nicht erforderlich ist (BGHSt 65, 36 = BeckRS 2020, 13939; OLG Dresden, Urt. v. 02.09.2022 ‒ 1 OLG 26 Ss 40/22, BeckRS 2022, 34595; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 30. Aufl., § 114 Rdn. 4).

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    3. Auch gegen die Rechtsfolgenentscheidung des Amtsgerichts ist nichts zu erinnern. Rechtsfehlerfrei hat es die gegen den Angeklagten (unter Zubilligung von Strafaussetzung zur Bewährung) verhängte Freiheitsstrafe von 6 Monaten dem Strafrahmen des § 113 Abs. 2 S. 2 Ziff. 1 StGB entnommen, da sich der Angeklagte nach den Feststellungen darüber bewusst war, bei der Ausführung der Tat ein Fahrzeug mit sich zu führen und er dieses in einer Weise verwendete, dass es aus gebotener objektiver Sicht in der konkreten Situation als Angriffsmittel gegen die Amtsträgerin zum Einsatz kam, welcher dadurch erhebliche Verletzungen drohten (BGH NZV 2016, 345; MüKoStGB/Bosch StGB § 113 Rn. 73f.). Durch die Erfüllung des Regelbeispiels nach Abs. 2 S. 2 Ziff. 1 wird ein besonders schwerer Fall indiziert. In diesem Fall bestimmt sich der „Regelstrafrahmen” nach dem erhöhten Strafrahmen; einer zusätzlichen Prüfung, ob dessen Anwendung im Vergleich zu den im Durchschnitt der erfahrungsgemäß vorkommenden Fälle geboten erscheint, bedarf es hier nicht (BGH NJW 2004, 2394). Zwar kann die Indizwirkung des Regelbeispiels durch besondere strafmildernde Umstände entkräftet werden, die für sich allein oder in ihrer Gesamtheit so schwer wiegen, dass die Anwendung des Strafrahmens für besonders schwere Fälle unangemessen erscheint (BGH NStZ 1999, 244 (245); Fischer, StGB, 70. Aufl. 2023 § 46 Rn. 91). Die zu Gunsten des Angeklagten festgestellten Umstände (fehlende einschlägige Vorstrafe, Zeugin P. blieb unverletzt) erscheinen indes nicht geeignet, die Indizwirkung des Regelbeispiels zu entkräften, zumal auch ein Irrtum des Angeklagten über die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung vom Amtsgericht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen wurde (weshalb es auf die ‒ überflüssigen ‒ hypothetischen Erwägungen (UAS 7: „Selbst wenn…“) nicht ankommt). Zu der von der Revision vermissten Berücksichtigung der „überwiegend geständigen Einlassung“ des Angeklagten ist zu bemerken, dass dieser ‒ wie sich aus seiner in den Urteilsgründen wiedergegebenen Einlassung ergibt ‒ überwiegend nicht geständig war, weshalb das von ihm bagatellisierend eingeräumte „Wegrollen“ mit dem Auto in einem Abstand von einem Meter zu der auf dem Fußweg befindlichen Zeugin P. im Rahmen der Strafzumessungserwägungen auch nicht besonders zu honorieren war. Für das Amtsgericht bestand daher kein Anlass, die Angemessenheit des Regelstrafrahmens näher zu erörtern.

    RechtsgebieteStGB, StPOVorschriften§113 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 2 S. 2 Ziff. 1 StGB, § 114 Abs. 1 StGB, § 11 Abs. 1 Nr. 2b) StGB, § 267 Abs. 1 S. 1 StPO