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  • 06.09.2023 · IWW-Abrufnummer 237211

    Landgericht Hamburg: Beschluss vom 09.08.2023 – 612 Qs 75/23

    Ein bedeutender Schaden an fremden Sachen im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist entstanden, wenn die Reparatur eines Kfz die Wertgrenze von 1.800 Euro überschreitet. Bei der Beurteilung eines Schadens als bedeutend im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB sind auch die fortschreitende Entwicklung der Reparaturkosten und die Einkommensentwicklung zu berücksichtigen.
    LG Hamburg, Beschluss vom 9. August 2023 – 612 Qs 75/23


    Verfahrensgang
    vorgehend AG Hamburg, 14. Juni 2023, 249 Gs 49/23, Beschluss
    Tenor
    1. Auf die Beschwerde der Beschuldigten wird der Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 14.06.2023 (Az.: 249 Gs 49/23) aufgehoben.
    2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen der Beschuldigten.
    Gründe
    I.
    Randnummer1
    Die gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis gerichtete, nach § 304 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige (§ 306 Abs. 1 StPO) Beschwerde der Beschuldigten, die dem Landgericht am 03.08.2023 zur Entscheidung vorgelegt worden ist, ist begründet. Die Voraussetzungen für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a Abs. 1 StPO liegen nicht vor, da derzeit keine dringenden Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass der Beschuldigten die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB entzogen werden wird.
    Randnummer2
    Die Beschuldigte ist zwar dringend verdächtig, am 07.10.2022 gegen 13:30 Uhr in H. auf dem M.-Parkplatz in der Straße L. auf Höhe der Hausnummer... einen Verkehrsunfall verursacht zu haben, indem sie ihren Pkw VW Touran (amtliches Kennzeichen:...) nach dem Abstellen nicht ausreichend sicherte, sodass dieser rückwärts aus der Parklücke herausrollte und mit dem auf der gegenüberliegenden Seite geparkten Pkw Opel Mokka (amtliches Kennzeichen:...) des Zeugen D. kollidierte, und sich, als sie kurz darauf zu ihrem Fahrzeug zurückkehrte und auf die Kollision angesprochen wurde, vom Unfallort entfernt zu haben, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen. Damit besteht der dringende Tatverdacht des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gemäß § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Die Beschuldigte befand sich zwar zum Zeitpunkt des Unfalls nicht am Unfallort, sondern auf dem benachbarten Gelände der dortigen Mercedes-Werkstatt. Sie hatte indes durch ihr vorangegangenes Verhalten ‒ die unzureichende Sicherung ihres Fahrzeuges gegen ein Wegrollen ‒ das entscheidende Gefahrenmoment geschaffen, welches sich sodann in dem Unfallhergang realisiert hat (vgl. zu einer derartigen Fallkonstellation Fischer, Strafgesetzbuch, 70. Auflage 2023, § 142 Rn. 16).
    Randnummer3
    Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen erweist sich die Beschuldigte jedoch nicht als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 69 StGB. Weder ist das Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB einschlägig (dazu unter 1.), noch ergibt sich nach § 69 Abs. 1 StGB aus der Tat selbst, dass die Beschuldigte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist (dazu unter 2.).
    Randnummer4
    1. Das Regelbeispiel des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB ist nicht verwirklicht. Danach ist von der Ungeeignetheit eines Täters zum Führen eines Kraftfahrzeugs auszugehen, wenn dieser sich unerlaubt vom Unfallort entfernt, obwohl er weiß oder wissen kann, dass bei dem Unfall ein Mensch getötet oder nicht unerheblich verletzt worden oder an fremden Sachen bedeutender Schaden entstanden ist. Entgegen der Annahme des Amtsgerichts ist am Pkw des Zeugen D. mit 1.625,25 Euro (vgl. Kfz-Haftpflichtschadensgutachten des Autotax-Expert e.K. vom 13.10.2022, Bl. 34 ff. d.A.) kein bedeutender Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB entstanden. Zwar haben die Verkehrsbeschwerdekammern des Landgerichts Hamburg bislang einen bedeutenden Fremdschaden ab einer Wertgrenze von 1.500,00 Euro angenommen (st. Rspr. seit dem Beschluss des LG Hamburg vom 01.02.2007 zum Az. 603 Qs 54/07, BeckRS 2008, 11566). Jedoch sind bei der Beurteilung eines Schadens als bedeutend im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB auch die fortschreitende Entwicklung der Reparaturkosten und die Einkommensentwicklung zu berücksichtigen (vgl. bereits LG Hamburg, Beschluss vom 19.07.1991, Az.: 603 Qs 607/91 Rn. 9, zitiert nach juris). Bereits aus diesem Grunde erscheint eine Anhebung der Wertgrenze mittlerweile angebracht. Zudem sollte die Wertgrenze deshalb nicht zu niedrig bemessen werden, weil sonst die Relation zu den anderen Merkmalen „Tötung oder nicht unerhebliche Verletzung eines Menschen“ nicht gewahrt wäre (von Heintschel-Heinegg/Huber in Münchener Kommentar zum StGB, 4. Auflage 2020, § 69 Rn. 72). Ausgehend davon haben sich sämtliche Verkehrsbeschwerdekammern des Landgerichts Hamburg darauf verständigt, den Wert, ab welchem ein bedeutender Schaden im Sinne des § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB anzunehmen ist, auf 1.800,00 Euro anzuheben. Diese moderate Erhöhung trägt der allgemeinen Preissteigerung1 Rechnung und setzt die Merkmale „Tötung oder nicht unerhebliche Verletzung eines Menschen“ und „bedeutender Schaden“ in ein dem Telos des Regelbeispiels entsprechendes Verhältnis.
    Randnummer5
    2. Die Beschuldigte erweist sich zudem nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit nach § 69 Abs. 1 StGB als zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet. Keine Eignung besteht, wenn sich aus der Tat ergibt, dass das Führen von Kraftfahrzeugen durch die Beschuldigte infolge eines körperlichen, geistigen oder charakterlichen Mangels eine inakzeptable Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellt (Kretschmer in Münchener Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2016, § 69 Rn. 37). Dabei bildet die Tat die gesetzlich zwingende Grundlage der Beurteilung (Fischer, 69. Auflage 2022, § 69 Rn. 19). Charakterliche Mängel können die Ungeeignetheit begründen, wenn sich aus ihnen eine Unzuverlässigkeit im Hinblick auf die Sicherheit des öffentlichen Kraftfahrzeugverkehrs und verkehrsspezifische Gefahren für Rechtsgüter Dritter ergeben (BGH, Beschluss vom 27.04.2005, Az.: GSSt 2/04 -, BGHSt 50, 93-105 Rn. 27, zitiert nach juris). Bei der Tat ist zumindest nach derzeitigem Stand der Ermittlungen kein Verhalten der Beschuldigten zutage getreten, dass deutliche, der Geeignetheit zum Führen eines Kraftfahrzeugs entgegenstehende gesundheitliche oder charakterliche Mängel aufzeigt. Zwar ergeben sich aus der Aussage des Zeugen K. (Bl. 14 d.A.) sowie aus der Beschwerdebegründung der Beschuldigten selbst (Bl. 81 f. d.A.) Anhaltspunkte dafür, dass die Begehung der ihr vorgeworfenen Tat auf einen gesundheitlichen Mangel zurückzuführen ist. Eine ausreichend hohe Wahrscheinlichkeit, dass sich ein möglicher gesundheitlicher Mangel auf die künftige Eignung des Beschuldigten zum Führen von Kraftfahrzeugen auswirkt, besteht nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen jedoch nicht. Entsprechende Feststellungen bleiben dem Tatrichter unter Berücksichtigung der dann voraussichtlich vorliegenden Entscheidung der Führerscheinstelle der Stadt W. (vgl. Bl. 83 d.A.), die auf Basis eines verkehrsmedizinischen Gutachtens erfolgen wird, vorbehalten.
    II.
    Randnummer6
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO analog.
     Fußnoten
    1 )
    allein im Jahr 2022 stiegen die Verbraucherpreise im Schnitt um 7,9%, vgl. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/01/PD23_022_611.html#:~:text=022%20vom%2017.,Januar%202023&text=WIESBADEN%20%E2%80%93%20Die%20Verbraucherpreise%20in%20Deutschland,als%20in%20den%20vorangegangenen%20Jahren, zuletzt abgerufen am 08.08.2023.