12.10.2023 · IWW-Abrufnummer 237750
Oberlandesgericht Köln: Beschluss vom 30.05.2023 – 1 RBs 288/22
Dem Verteidiger ist ggf. auf Antrag die vollständige Messreihe zur Verfügung zu stellen.
OBERLANDESGERICHT KÖLN
BESCHLUSS
In der Bußgeldsache
Gegen pp.
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Köln auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 19. April 2022 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß §§ 349 Abs. 4 StPO, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG am 30. Mai 2023
beschlossen:
Gründe:
I.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat den zugrunde liegenden Sachverhalt in ihrer Vorlageverfügung wie folgt zusammengefasst:
„Mit Bußgeldbescheid vom 08.10.2021 hat die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h gemäß § 41 Abs. 1 i. V. m. Anlage 2, § 49 StVO; § 24, § 25 StVG; 11.3.7. BKat; § 4 Abs. 1 BKatV ein Bußgeld in Höhe von 160,00 Euro sowie ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat festgesetzt (BI. 41 ff. VV).
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 11.01.2022 hat der Betroffene erneut Akteneinsicht in „sämtliche Unterlagen" beantragt, insoweit aber nur die Roh-messdaten und die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe näher bezeichnet (BI. 16 ff. d. A.).
Die zuständige Richterin des Amtsgerichts Köln hat dem Verteidiger des Betroffenen mit Schreiben vom 18.01.2022 mitgeteilt, die Rohmessdaten bei der Bußgeldbehörde anzufordern. Gleichzeitig hat sie den Verteidiger darüber unterrichtet, dem Antrag auf Einsichtnahme in die gesamte Messreihe mangels erkennbarer Relevanz für die Verteidigung nicht zu entsprechen (BL 24 f. d. A.). Der Verteidiger des Betroffenen hat mit Schreiben vom 24.01.2022 (BI. 29 ff. d. A.) an seinem Einsichtsgesuch in die gesamte Messreihe festgehalten. Die Einsichtnahme und folgende technische Prüfung der Messreihe sei erforderlich, um die Plausibilität und damit die Ordnungsgemäßheit der Messung überprüfen zu können.
Auf ein schriftliches Akteneinsichtsgesuch des Verteidigers des Betroffenen vom 11.02.2022 ist ihm durch das Amtsgericht die Akte samt der zwischenzeitlich angeforderten Rohmessdaten in digitaler Form zur Verfügung gestellt worden (BI. 42 d. A.).
In der Hauptverhandlung vom 19.04.2022, in der der abwesende und durch seinen Verteidiger vertretene Betroffene durch die Vorsitzende des Amtsgericht von seinem persönlichen Erscheinen entbunden worden ist (BI. 44 f. d. A.), hat der Verteidiger des Betroffenen seinen Antrag auf Herausgabe/Einsichtnahme in die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe wiederholt, der Verwertung der streitgegenständlichen Messung widersprochen und hilfsweise beantragt, die Hauptverhandlung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 228 StPO auszusetzen und die Akte an die Bußgeldbehörde zurückzugeben mit der Anweisung, der Verteidigung sämtliche angeforderten Unterlagen/Informationen zur Verfügung zu stellen (BI. 47, 52 ff. d. A.).
Mit Urteil vom 19.04.2022 hat das Amtsgericht Köln (802 01/44 972 Js 13136/21 — 622/21) gegen den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 41 Abs. 1 i. V. m. Anlage 2, 49 StVO, 24, 25 StVG, 11.3.7. BKat, § 4 Abs. 1 BKatV auf eine Geldbuße von 160,00 Euro erkannt. Zusätzlich hat es dem Betroffenen das Führen von Kraftfahrzeugen aller Art für die Dauer von einem Monat untersagt (BL 50, 57 ff. d. A.).
Gegen das dem Verteidiger des Betroffenen auf Verfügung der Vorsitzenden (BL 64 d. A.) am 07.06.2022 zugestellte (BI. 66 d. A.) Urteil hat der Betroffene mit Schreiben seines Verteidigers vom 19.04.2022 (BI. 56 d. A.), Eingang bei dem Amtsgericht Köln per elektronischer Post am 25.04.2022 (BI. 55 d. A.), Rechtsbeschwerde eingelegt und um Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolls vom 19.04.2022 gebeten.
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 28.06.2022 (BI. 68 ff. d. A), Eingang bei dem Amtsgericht Köln per elektronischer Post am selben Tag (BI. 67 d. A.), hat der Betroffene die Rechtsbeschwerde weitergehend begründet und erneut um Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolls vom 19.04.2022 gebeten. Bezogen auf die Rechtsbeschwerde hat er die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts erhoben und hierzu ausgeführt, das Urteil des Amtsgerichts Köln verletze den Betroffenen in seinen Rechten auf Durchführung eines fairen Verfahrens (Art 6 EMRK) und der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Ihm sei keine Einsicht in die Falldaten der gesamten Messreihe gewährt worden. Hilfsweise hat er die Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf eine bei dem Bundesgerichtshof noch anhängige Divergenzvorlage des Oberlandesgerichts Koblenz beantragt.“
Diese Ausführungen macht sich der Senat zu eigen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das angefochtene Urteil mit der Maßgabe als unbegründet zu verwerfen, dass der Betroffene wegen fahrlässigen Oberschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt sei; sein hilfsweise gestellter Antrag auf Aussetzung des Verfahrens sei zurückzuweisen.
II.
Die Sache war durch die Rechtsunterzeichnerin als Einzelrichterin gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu über-tragen, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil zur Fortbildung des Rechts so-wie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nachzuprüfen.
Die gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde hat - zumindest vorläufig - Erfolg.
Das Urteil ist auf die Verfahrensrüge, welche der Betroffene auf die Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens stützt, mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Der Betroffene rügt mit Erfolg, dass seinen Anträgen auf Überlassung der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe und Aussetzung der Haupt-verhandlung nicht entsprochen und seine Verteidigung daher in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt unzulässig beschränkt worden sei (§ 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWG).
Da das Urteil bereits vor diesem Hintergrund aufzuheben war, bedurfte es einer Erörterung der weiteren Verfahrensrügen und der Sachrüge nicht.
Im Einzelnen:
A. Zulässigkeit der Verfahrensrüge
Die Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWG) ist von dem Betroffenen zulässig erhoben worden.
Sein Vortrag genügt den Darlegungserfordernissen der §§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG.
Bedenken gegen die Zulässigkeit der Rüge erwachsen namentlich nicht aus dem Umstand, dass die Rechtsbeschwerde den Gang der Hauptverhandlung zumindest insoweit nicht ausreichend mitteilt, als nicht vorgetragen wird, ob das Amtsgericht über die in der Hauptverhandlung gestellten Anträge des Betroffenen auf Heraus-gabe der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe und Aussetzung der Haupt-verhandlung durch Beschluss entschieden und - gegebenenfalls - welchen Inhalt dieser Beschluss hat.
Der Betroffene hat insoweit in seiner Beschwerdebegründung darauf hingewiesen, dass ihm entsprechender Vortrag nicht möglich gewesen sei, da ihm eine Einsichtnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll trotz mehrfachen Antrags nicht ermöglicht worden sei. Seinem Vorbringen kann allerdings jedenfalls entnommen werden, dass der Betroffene in der Hauptverhandlung erneut Einsicht in die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe begehrt und beantragt hat, das Verfahren auszusetzen und die Behörde anzuweisen, der Verteidigung die geforderten Daten zu überlassen. Zudem ist seinem Vorbringen zu entnehmen, dass das Amtsgericht diesen Anträgen in der Hauptverhandlung nicht entsprochen hat, und zwar entweder, weil sie durch Beschluss zurückgewiesen oder weil sie nicht beschieden worden sind.
Dieses Vorbringen genügt den Anforderungen.
Die Bestimmung des § 338 Nr. 8 StPO ist zwar grundsätzlich nur auf eine Beschränkung anwendbar, die durch einen förmlichen Beschluss des Gerichts herbeigeführt wird (SenE v. 01.12.1989, Ss 489/89 (B); SenE v. 24.03.2000, Ss 134/00; SenE v. 07.08.2012, 111-1 RVs 135/12), etwa weil ein Aussetzungsantrag in der Hauptverhandlung durch Beschluss abgelehnt wird (OLG Hamm, NJW 1972, 1096). Die Nichtbescheidung eines Antrags steht einem solchen förmlichen Beschluss jedoch gleich (OLG Hamm, StV 2003, 490). Der Betroffene hat hiernach ausreichend dargelegt, dass das Amtsgericht seine in der Hauptverhandlung gestellten Anträge auf Aussetzung des Verfahrens und Überlassung der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe entweder durch Beschluss abgelehnt oder aber gar nicht beschieden hat.
B. Begründetheit der Verfahrensrüge
Die zulässig erhobene Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung im Sinne von § 338 Nr. 8 StPO 1.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG ist auch begründet.
Durch die Ablehnung bzw. Nichtbescheidung des Aussetzungsantrages des Betroffenen ist dieser in seinem Recht auf Durchführung eines fairen Verfahrens verletzt worden. Denn dem Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung wäre stattzugeben gewesen, um dem Betroffenen Gelegenheit zur Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen digitalen Falldaten der gesamten Messreihe zu geben.
Der Senat kann auch nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann (vgl. Gericke in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl., § 338 Rdn. 101 m.w.N).
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren, wozu auch ein - wenn auch nicht unbegrenzt geltendes - Recht auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen gehört (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
Insoweit ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
a) Das Recht auf ein faires Verfahren, das auch in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert ist, zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (BVerfG, NJW 1969, 1423). Zu diesem gehört auch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher „Waffengleichheit" von Ankläger und Beschuldigtem. Es dient damit in besonderem Maße dem Schutz des Beschuldigten, für den bis zur Verurteilung die Vermutung seiner Unschuld streitet (BVerfG, NJW 1975, 103; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung wendet sich dabei nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Strafverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben (BVerfG, NJW 1981, 1719; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
b) Ebenso wie ein Beschuldigter im Strafverfahren hat auch der Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (BVerfG, NJW 1992, 2472; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
Aus diesem Recht folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch ein Recht des Betroffenen auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455; BVerfG, Beschluss v. 04.05.2021, 2 BvR 868/20, BeckRS 2021, 10638). Danach hat der Betroffene grundsätzlich das Recht, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden, aber nicht zur Akte genommen wurden, und durch seine Verteidigung einsehen zu lassen (BVerfG, Beschluss v. 12.01.1983, NJW 1983, 1043; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Er erhält auf diese Weise die Möglichkeit, selbst nach Entlastungsmomenten suchen, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind.
Die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung und die Urteilsfeststellungen lassen das Bedürfnis der Betroffenen am Zugang zu weiteren die Messung betreffenden Informationen nachvollziehbar erscheinen (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Denn ein Betroffener kann nur - wie von ihm verlangt - konkrete Anhaltspunkte gegen die Richtigkeit der Messung vortragen, wenn es ihm möglich ist, sich die für seine Verteidigung erforderlichen Informationen über die gegen ihn verwendeten Beweismittel zu beschaffen. Der Betroffene muss damit in die Lage versetzt werden, bereits im Vorverfahren durch einen nicht behinderten Zugriff auf Messdaten und Messunterlagen, ggf. auch mit Hilfe eines privat hinzugezogenen und von ihm mit den notwendigen Anknüpfungstatsachen ausgestatteten Sachverständigen, die konkreten Anhaltspunkte zu ermitteln, die er dann der Bußgeldstelle oder dem Gericht vortragen kann, um die Amtsaufklärungspflicht auszulösen (vgl. Cierniak, zfs 2012, 664 (669)). Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass es einen Erfahrungssatz, dass die eingesetzten Messgeräte zur Geschwindigkeitsmessung unter allen Um-ständen zuverlässige Ergebnisse liefern, nicht gibt (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455; BGH, NJW 1993, 3081). Das Informationsrecht des Verteidigers kann hiernach deutlich weitergehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (KG, Beschluss v. 02.04.2019, 3 Ws (B) 97/19, 122 Ss 43/19, BeckRS 2019, 12070; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 16.07.2019,1 Rb 10 Ss 291/19, NStZ 2019, 620).
c) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 12. November 2020 allerdings auch klargestellt, dass das Recht auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen nicht unbegrenzt gilt (NJW 2021, 455).
Im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten, da andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausweitung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs besteht. Hiernach ist nicht jedem Informationsverlangen des Betroffenen zu entsprechen. Vielmehr müssen die begehrten, hinreichend konkret zu benennenden Informationen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen. Zudem müssen sie nach der vorgenannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, wobei maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen ist. Entscheidend ist, ob der Betroffene bzw. sein Verteidiger eine Information verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Hiernach kann die Verteidigung grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen. Ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachten, ist dagegen unerheblich. Des Weiteren muss der Betroffene den Zugang zu weiteren Informationen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt haben (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Zudem können der Gewährung des begehrten Informationszugangs gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen, wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter, widerstreiten (BVerfG, Beschluss v. 12.01.1983, NJW 1983, 1043; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
2. Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben ist die Entscheidung des Amtsgerichts, die in der Hauptverhandlung gestellten Anträge des Betroffenen auf Zugang zu den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe und Aussetzung der Hauptverhandlung durch Beschluss abzulehnen bzw. nicht zu bescheiden, verfahrensfehlerhaft erfolgt.
Die Voraussetzungen, unter welchen dem Betroffenen Zugang zu den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe zu gewähren ist, liegen vor.
a) Die Frage, ob aus dem Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren auch ein Anspruch auf die Überlassung der Daten der gesamten Messreihe folgen kann, wird in der Rechtsprechung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 (NJW 2021, 455) uneinheitlich beantwortet
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat sich mit dieser Frage in seiner Entscheidung nicht explizit befasst.
Teilweise wird ein Recht auf Überlassung der gesamten Messreihe verneint (vgl. OLG Koblenz, Beschluss v. 17.11.2020, 1 OWi 6 SsRs 271/20, NZV 2021, 201; BayObLG, Beschluss v. 04.01.2021, 202 ObOWi 1532/20, SVR 2021, 279; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 22.02.2021, 3 OWi 6 SsBs 275/20, BeckRS 2021, 15340; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 04.05.2021, 1 OWi 2 SsRs 19/21, NZV 2022, 27; OLG Koblenz, Beschluss v. 01.02.2022, 3 OWi 32 SsBs 99/21, DAR 2022, 218; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 02.06.2022, 1 OWi 2 Ss Rs 19/21, BeckRS 2022, 15436; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 19.09.2022, IV 4 RBs 118/22, BeckRS 2022, 45726; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 01.03.2023, 1 OWi 2 SsBs 49/22, BeckRS 2023, 6312; AG Stuttgart, Beschluss v. 04.01.2021, 18 OW 65 Js 87970120, NZV 2022, 335; AG St. Ingbert, Urteil vom 13.01.2021, 23 OWi 68 Js 1367/20 (2105/20) BeckRS 2021, 174; AG Wiesbaden, Beschluss v. 18.10.2021, 90 OWi 24/21, BeckRS 2021, 32489). Eine Relevanz der Messreihe für die Verteidigung des Betroffenen sei nicht ersichtlich. Dies wird überwiegend damit begründet, dass nach der öffentlich zugänglichen Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) vom 30. März 2020 („Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung") von vornherein schlechterdings auszuschließen sei, dass sich aus der Messreihe brauchbare Erkenntnisse für die streitgegenständliche Einzelmessung ergeben könnten, jedenfalls sei eine etwaige Relevanz von dem Betroffenen im Einzelfall nicht plausibel dargelegt worden.
Teilweise wird ein Anspruch auf Überlassung der gesamten Messreihe, insbesondere unter Hinweis auf deren Relevanz für die Verteidigung des Betroffenen, bejaht (vgl. Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Stuttgart, Beschluss v. 03.08.2021, 4 Rb 12 Ss 1094/20, NStZ-RR 2022, 60; OLG Stuttgart, Beschluss v. 12.10.2021, 4 Rb 25 Ss 1023/20, BeckRS 2021, 39363; LG Köln, Beschluss v. 08.12.2020, 323 Qs 109/20, BeckRS 2020, 36839; AG Leverkusen, Beschluss v. 08.02.2021, 55 OW 120/21 [b], BeckRS 2021, 3108; AG Herne, Beschluss v. 04.06.2021, 22 OWi 697/21 [b], BeckRS 2021, 16813; AG Dillingen a. d. Donau, Beschluss v. 07.07.2021, 304 OW 58/21, BeckRS 2021, 36897; AG Bernau, Beschluss v. 09.09.2021, 2 OWi 79/21, BeckRS 2021, 32495; LG Hagen, Beschluss v. 30.09.2021, 46 Qs 59/21, BeckRS 2021, 36504; AG Bad Saulgau, Beschluss v. 13.12.2021, 1 OWi 25 Js 27436/21, BeckRS 2021, 40801; AG Ellwangen (Jagst), Beschluss v. 14.01.2022, 6 OWi 3/22, zfs 2022, 533; AG Bielefeld, Beschluss v. 09.06.2022, 861 OWi 75/22, BeckRS 2022, 15233; AG Nauen, Beschluss v. 19.10.2022, 34 OW 263/22, BeckRS 2022, 29732; AG Köln, Beschluss v. 23.11.2022, 805 OWi 112/22, BeckRS 2022, 37880; AG Würzburg, Beschluss v. 19.12.2022, 7 OW 952 JS 5972122, BeckRS 2022, 37872).
Der Bundesgerichtshof hat eine Divergenzvorlage (§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG) des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 4. Mai 2021 (1 OW 2 SsRs 19/21, NZV 2022, 27) mit Beschluss vom 30. März 2022 (4 StR 181/21, NZV 2022, 287) als unzulässig zurückgewiesen und die Sache an das Oberlandesgericht zurückgegeben. Bei der aufgeworfenen Frage, ob die dem Betroffenen von der Bußgeldbehörde verweigerte Einsicht in die gesamte Messreihe eine Relevanz für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen zur Last gelegten Einzelmessung habe, handele es sich nicht um eine Rechts-, sondern um eine Tatfrage, deren Beurteilung dem Vorlegungsverfahren entzogen sei.
Auch die vergleichbar gelagerte weitere Divergenzvorlage des Oberlandesgerichts Koblenz vom 1. Februar 2022 (3 OW 32 SsBs 99/21, DAR 2022, 218) hat der Bundesgerichtshof abschlägig beschieden (Beschluss v. 16.03.2023, 4 StR 84/22) und auch diese Sache an das Oberlandesgericht zurückgegeben. Es fehle an der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage, da die Verteidigung des Betroffenen in der Hauptverhandlung keinen auf die Zugänglichmachung der begehrten Daten abzielenden Antrag gestellt und damit das Einsichtsbegehren nicht weiterverfolgt habe. Eine Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren komme in einem solchen Fall aber nicht in Betracht.
b) Nach Ansicht des Senats liegen die Voraussetzungen, unter denen der Betroffene nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2021, 455) Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen begehren kann, vor.
aa) Der Betroffene hat die von ihm begehrten Informationen hinreichend konkret benannt, indem er im Verfahren wiederholt die Vorlage der .digitalen Falldaten der gesamten Messreihe begehrt hat.
Unter der „Messreihe wird gemeinhin die Gesamtheit der in einem Messbetrieb generierten Falldatensätze bezeichnet. Insoweit wird von denjenigen Fahrzeugen, die an der Messstelle von dem Geschwindigkeitsmessgerät als zu schnell erfasst wer-den, regelmäßig ein digitales Messfoto angefertigt und zusammen mit bestimmten Messdaten als Falldatensatz digital gespeichert. Zu jedem Falldatensatz gehören hiernach auch personenbezogene Informationen in Form des Fahrzeugs, des Kennzeichens und einer Abbildung des Fahrers.
bb) Der Betroffene hat sein Begehren auf Vorlage der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe im Verfahren auch rechtzeitig begehrt.
Ein Betroffener kann mit der Rüge unzulässiger Informationsbeschränkung im gerichtlichen Verfahren nur durchdringen, wenn er den Zugang zu nicht zur Akte genommener Unterlagen frühzeitig im Bußgeldverfahren beantragt und im behördlichen und gerichtlichen Verfahren nach § 62 OWiG begehrt hat (vgl. BVerfG, Be-schluss v. 12.11.2020, 2 11/R 1616/18, NJW 2021, 455; BGH, Beschluss v. 16.03 2023, 4 StR 84/22; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023, 1 ORbs, 35 Ss 72/23, BeckRS 2023, 9523). Zudem muss er sein Einsichtsbegehren auch in der Hauptverhandlung weiterverfolgen (BGH, Beschluss v. 16.03.2023, 4 StR 84/22).
Dies ist vorliegend geschehen.
Der Betroffene hat die Zugänglichmachung zu den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe erstmals mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2021- im Zuge der Einspruchs-einlegung - gegenüber der Bußgeldbehörde beantragt und an seinem Begehren auch in weiteren an das Amtsgericht adressierten Schriftsätzen vom 11. und 24. Januar 2022 festgehalten. Auch in der Hauptverhandlung hat der Betroffene seinen Antrag auf Einsichtnahme in die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe wiederholt und beantragt, die Hauptverhandlung auszusetzen und die Akte mit der Anweisung an die Bußgeldbehörde zurückzugeben, der Verteidigung die angeforderten Informationen zur Verfügung zu stellen.
cc) Die begehrten Falldateien der gesamten Messreihe stehen auch in dem von dem Bundesverfassungsgericht geforderten sachlichen und zeitlichen Zusammenhang, mit dem dem Betroffenen zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß.
Ein solcher Zusammenhang wird selbst von den Oberlandesgerichten, die einen Anspruch auf Herausgabe der Messreihe verneint haben, nicht in Abrede gestellt (vgl. OLG Zweibrücken v. 04.05.2021, NZV 2022, 27; OLG Koblenz, Beschluss v. 01.02.2022, DAR 2022, 218). Die Daten der Messreihe betreffen zwar andere Verkehrsteilnehmer, wurden aber im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem dem Betroffenen vorgeworfenen Verstoß erhoben.
dd) Der Betroffene darf den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe verständigerweise auch eine Relevanz für seine Verteidigung beimessen.
Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshof vom 30. März 2022 (NZV 2022, 287) ist es Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte, im Einzelfall zu beurteilen, ob den begehrten Informationen, die sich außerhalb der Akte befinden, durch den Betroffenen verständiger Weise Relevanz für seine Verteidigung beigemessen werden kann.
Eine solche Relevanz kann vorliegend nicht in Abrede gestellt werden.
Die PTB hat zwar in ihrer bereits zitierten Stellungnahme vom 30. März 2020 aus-geführt, dass sich aus den Daten der gesamten Messreihe keine brauchbaren Er-kenntnisse für die gegenständliche Messung ergeben würden. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen dem Messwert einer konkreten Einzelmessung und den Messergebnissen für Fahrzeuge, die in den Stunden davor und danach erfasst würden. Nur weil viele nur wenig zu schnell fahren würden, hieße das nicht, dass nicht ab und zu jemand deutlich schneller unterwegs gewesen sein könne. Selbst extreme Geschwindigkeitsüberschreitungen könnten keinen Zweifel an der Korrektheit der Messung wecken.
Auch der Senat verfügt über keine eigenen Erkenntnisse, wonach die Einsicht eines Betroffenen in die gesamte Messreihe schon einmal konkrete Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des ihn betreffenden Messergebnisses ergeben hätte.
Indes hat der Betroffene vorgetragen, dass es zu seiner effektiven Verteidigung erforderlich sei, Einsicht in die komplette Messreihe zu nehmen, um die Plausibilität und damit die Ordnungsgemäßheit der Messung überprüfen zu können. Es gebe mehrere Möglichkeiten der Untersuchung von Messserien. Die trivialsten und für alle Messgeräte gleichen Untersuchungen seien die Prüfungen auf unplausible Messwerte (Traktor mit 100 km/h), Leerbilder oder etwa die Erfassungsentfernungen. Der Betroffene beruft sich insoweit auf die im Internet zugängliche Stellungnahme vom 21. Dezember 2021 von VUT Verkehr (VUT Sachverständigengesellschaft mbH &Co. KG in Saarbrücken; https://vut-verkehr.de/aktuelles/71/neveren-dinq-stoni-oder-ein-letztes-aufbaeumen-), in welcher selbiges ausgeführt wird.
Der Senat vermag jedenfalls nicht auszuschließen, dass etwa ein gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse, welches für den Betroffenen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln ist, die Möglichkeit bietet, aus der Messreihe Entlastungsmomente abzuleiten.
Hieran ändert auch die Stellungnahme der PTB vom 30. März 2020 nichts.
Für die Frage einer Relevanz ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Dies kann hier aber nicht in Abrede gestellt werden, zumal der Betroffene ergänzend darauf verweist, dass ein Sachverständiger - wenn auch in einer anderen Sache - erklärt habe, alle vom Messsystem erhobenen Messdaten, mithin auch die Messreihe, zur Auswertung zu benötigen. Eine solche sachverständige Auskunft vermag der Senat - auch mangels eigener hinreichender technischer Expertise - nicht von vornherein als unzutreffend zu bewerten.
Der Senat sieht sich auch nicht veranlasst, eine ergänzende Stellungnahme der PTB einzuholen. In der gegenwärtigen Diskussion ist nicht erkennbar, dass eine solche geeignet wäre, jegliche Zweifel hinsichtlich einer auch nur theoretischen Aufklärungschance von vornherein auszuräumen.
Damit ist es im Ergebnis nicht auszuschließen, dass sich bestimmte Fehlerquellen - wegen einer fehlerhaften Bedienung oder Fehlfunktionen des Gerätes - gerade erst aus einem Vergleich der eigenen Falldatei mit den anderen im Messzeitraum durchgeführten Messungen ergeben können (vgl. auch OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 16.12.2014, 2 Ws 96/14, DAR 2015, 405; LG Trier, Beschluss v. 14.09.2017, 1 Qs 46/17, DAR 2017, 721; Cierniak, zfs 2012, 664 (676)). Es besteht somit eine zumindest theoretische Aufklärungschance, der der Verteidiger des Betroffenen - ggf. unter Hinzuziehung eines Sachverständigen - nachgehen darf. Der Betroffene kann sich auf diese Weise eine noch breitere Grundlage für die Prüfung verschaffen, ob sich aus der Messreihe für die Beurteilung der Verlässlichkeit der ihn betreffenden Einzelmessung relevante Erkenntnisse ziehen lassen (vgl. Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186).
ee) Auch schützenwerte Interessen Dritter widerstreiten dem Begehren des Betroffenen, Zugang zu der gesamten Messreihe zu erhalten, nicht (vgl. anders aber. OLG Koblenz, Beschluss v. 01.02.2022, 3 OWI 32 SsBs 99/21, DAR 2022, 218; AG Wies-baden, Beschluss v. 18.10.2021, 90 OWi 24/21, BeckRS 2021, 32489).
Die Zugänglichmachung der Daten der gesamten Messreihe begegnet vorliegend weder unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechte der anderen Verkehrsteilnehmer noch aus Gründen des Datenschutzes Bedenken (vgl. BayObLG, Beschluss v. 27.11.1990, 2 Ob OWi 279/90, NJW 1991, 1070; Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023,1 ORbs, 35 Ss 72/23, BeckRS 2023, 9523; LG Köln, Beschluss v. 08.12.2020, 323 Qs 109/20, BeckRS 2020, 36839; LG Trier, Beschluss v. 14.09.2017, 1 Qs 46/17, DAR 2017, 721; AG Kassel, Beschluss v. 23.12.2015, 381 OWi 315/15, BeckRS 2016, 1593; AG Zossen, Beschluss v. 31.01.2018, 11 OWi 16/18, BeckRS 2018, 760; AG Köln, Beschluss v. 22.10.2018, 814 OWi 210/18 [b], BeckRS 2018, 28101; AG Schleiden, Beschluss v. 09.04.2019, 13 OWi 34/19 (b), BeckRS 2019, 10264; AG Gummersbach, Beschluss v. 20.11.2019, 85 OMA - 932 Js 9226/19 - 269/19, BeckRS 2019, 54303; Cierniak, zfs 2012, 664 (676); Niehaus in Messungen im Straßenverkehr, 6. Aufl., Rdn. 190).
Zwar ist bei der Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, konkret das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der anderen Verkehrsteilnehmer betroffen. Denn jede Falldatei einer Messreihe enthält ein digitales Beweisfoto mit personen-bezogenen Informationen in Form des Fahrzeugs, des Kennzeichens und einer Abbildung des Fahrers. Bei der Herausgabe der Messreihe wird insbesondere über jeden anderen Fahrer bekannt, dass er einen bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert hat, dass dies höchstwahrscheinlich mit überhöhter Geschwindigkeit geschehen ist und er deshalb als Betroffener in einem anderen Bußgeldverfahren einer Ordnungswidrigkeit beschuldigt wird.
Indes ist der hiermit verbundene Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der anderen Verkehrsteilnehmer, der von vergleichsweise geringer Intensität ist, mit Rücksicht auf das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren vorliegend hinzunehmen. Denn es überwiegt das Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren und der Möglichkeit zur Überprüfung der Messung, um den ihm gemachten Schuldvorwurf gegebenenfalls entkräften zu können.
Das Bundesverfassungsgericht hat zudem bereits in einer früheren Entscheidung darauf hingewiesen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und der Kontrolle durch die Polizei aussetzen (BVerfG, NJW 2011, 2783). Dabei ist der festgehaltene Lebenssachverhalt auf einen äußerst kurzen Zeitraum begrenzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dritte Person auf einem Messfoto tatsächlich erkannt wird, erscheint eher gering, zumal lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschriften der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden.
Überdies kann den Persönlichkeitsrechten Dritter jedenfalls dadurch Rechnung getragen werden, dass die Datensätze der Messreihe vor ihrer Herausgabe an die Verteidigung durch die Bußgeldbehörde anonymisiert werden (OLG Stuttgart, Be-schluss v. 03.08.2021, 4 Rb 12 Ss 1094/20, NStZ-RR 2022, 60; OLG Stuttgart, Be-schluss v. 12.10.2021, 4 Rb 25 Ss 1023/20, BeckRS 2021, 39363). Für derartige Anonymisierungen stehen, wie dem Senat aus anderen Verfahren bekannt ist, technische Mittel zur Verfügung.
Im Übrigen wird auch darauf verwiesen, dass die Daten der Messreihe lediglich an den Verteidiger als ein Organ der Rechtspflege sowie einen von diesem beauftragten Sachverständigen herausgegeben werden, so dass erwartet werden kann, dass die übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden (Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023, 1 ORbs, 35 Ss 72/23, BeckRS 2023, 9523; LG Trier, Beschluss v. 14.09.2017, 1 Qs 46/17, DAR 2017, 721).
ff) Anhaltspunkte, dass durch die Herausgabe der Messreihe an den Betroffenen die Funktionstüchtigkeit der Verwaltung gefährdet würde, bestehen nicht.
Dass der hiermit verbundene Aufwand derart unzumutbar hoch ist, dass die Funktionsfähigkeit der Verwaltungsbehörde oder der Rechtspflege gefährdet wäre, erschließt sich nicht. Zwar handelt es sich bei Bußgeldverfahren um massenhaft vor-kommende Verfahren, die in der Praxis von den Verwaltungsbehörden und den Gerichten - unter Wahrung der gesetzlich vorgesehenen kurzen Verjährungsfristen - zu bearbeiten sind. Indes sind einem Betroffenen schon jetzt auf sein Verlangen eine Vielzahl von Informationen und Unterlagen zur Verfügung zu stellen, darunter die ihn betreffenden Messdaten, mithin der digitale Falldatensatz der ihn betreffenden eigenen Messung. Dass das Überspielen der digitalen Falldateien der gesamten Messreihe auf einen vom Verteidiger zur Verfügung gestellten Datenträger darüber hinaus einen übermäßigen Aufwand bedeuten würde, ist nicht zu erkennen.
Ebenso erschließt sich nicht, dass eine etwaige Anonymisierung personenbezogener Daten für die Behörde derart zeitintensiv wäre, dass hierdurch die Arbeitsfähigkeit der Bußgeldstelle und damit die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege ernstlich beeinträchtigt wäre. Anonymisierungen werden schon jetzt teilweise praktiziert und können überdies gegebenenfalls auch mit Hilfe entsprechender Software automatisiert erfolgen.
Soweit die PTB in ihrer Stellungnahme vom 30. März 2020 darauf verweist, dass die gesamte Messreihe sehr lang sein könne und praktisch nicht auswertbar sei, spricht auch dies nicht gegen die Herausgabe. Ob eine Auswertung, auch wenn sie lange dauert oder umfangreich ist, erfolgen soll, ist allein der Entscheidung und dem Kostenrisiko des Betroffenen zu überlassen.
Der Senat teilt auch nicht die Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft, dass den von der Herausgabe ihrer Daten betroffenen Dritten in Anwendung der durch das Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze zur Gewährung von Akteneinsicht in Strafverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.04.2002, 2 BvR 465/05) vor der Zurverfügungstellung der Daten an den Verteidiger rechtliches Gehör zu gewähren wäre. Zwar würde dies in der Tat ein erhebliches Arbeitsaufkommen für die Verwaltungsbehörden bedeuten. Anders als bei der genannten Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts geht es vorliegend indes nicht um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Dritten Einsicht in eine Ermittlungsakte gewährt werden kann. Vielmehr geht es darum, welche Daten dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeiten-verfahren zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens zur Verfügung zu stellen und zur Ermittlungsakte zu nehmen sind.
3. Schließlich bestand auch kein Anlass, das Verfahren dem Bundesgerichtshof gemäß §§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG vorzulegen.
Der Senat weicht - soweit ersichtlich - nicht in Bezug auf eine Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs ab.
Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30. März 2022 (NZV 2022, 287) ist vielmehr davon auszugehen, dass der Senat lediglich eine abweichende Bewertung auf tatsächlicher Ebene vornimmt, soweit hier die Relevanz der digitalen Falldateien der gesamten Messreihe bejaht wird (vgl. Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Stuttgart, Beschluss v. 03.08.2021, 4 Rb 12 Ss 1094/20, NStZ-RR 2022, 60; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023, 1 ORbs, 35 Ss 72123, BeckRS 2023, 9523).
BESCHLUSS
In der Bußgeldsache
Gegen pp.
wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Köln auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 19. April 2022 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß §§ 349 Abs. 4 StPO, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG am 30. Mai 2023
beschlossen:
I. Die Sache wird durch die Rechtsunterzeichnerin als Einzelrichterin gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bußgeldsenat in seiner Besetzung mit drei Richtern übertragen.
II. Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Köln zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat den zugrunde liegenden Sachverhalt in ihrer Vorlageverfügung wie folgt zusammengefasst:
„Mit Bußgeldbescheid vom 08.10.2021 hat die Oberbürgermeisterin der Stadt Köln gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 44 km/h gemäß § 41 Abs. 1 i. V. m. Anlage 2, § 49 StVO; § 24, § 25 StVG; 11.3.7. BKat; § 4 Abs. 1 BKatV ein Bußgeld in Höhe von 160,00 Euro sowie ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat festgesetzt (BI. 41 ff. VV).
Gegen den dem Betroffenen am 12.10.2021 zugestellten (BL 48 f. VV) Buß-geldbescheid hat er mit Schreiben seines Verteidigers vom 12.10.2021, bei der Verwaltungsbehörde eingegangen per Fax am 13.10.2021 (BI. 44 ff. VV), Einspruch eingelegt und gleichzeitig beantragt, eine Vielzahl näher bezeichneter Unterlagen/Daten, insbesondere Rohmessdaten in digitaler Form, Messprotokolle, digitale Falldaten der einzelnen Messung mit Statistikdatei/Logdatei und Public Key, Token-Datei, das Passwort, die XML-Datei sowie digitale Falldatensätze der gesamten Messreihe, Statistikdatei und Case-List vorzulegen. Die Bußgeldbehörde hat dem Verteidiger des Betroffenen Akteneinsicht in die Bußgeldakte gewährt, in der sich in diesem Zeitpunkt auch das Messprotokoll, der Eichschein, ein Schulungsnachweis, das Lichtbild der Geschwindigkeitsmessung, eine Dienstanweisung der Messstelle Nr. 447 inklusive der an der Messstelle bestehenden Beschilderung und zulässigen Höchstgeschwindigkeit befunden haben (BL 1 ff., 50 VV).
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 11.01.2022 hat der Betroffene erneut Akteneinsicht in „sämtliche Unterlagen" beantragt, insoweit aber nur die Roh-messdaten und die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe näher bezeichnet (BI. 16 ff. d. A.).
Die zuständige Richterin des Amtsgerichts Köln hat dem Verteidiger des Betroffenen mit Schreiben vom 18.01.2022 mitgeteilt, die Rohmessdaten bei der Bußgeldbehörde anzufordern. Gleichzeitig hat sie den Verteidiger darüber unterrichtet, dem Antrag auf Einsichtnahme in die gesamte Messreihe mangels erkennbarer Relevanz für die Verteidigung nicht zu entsprechen (BL 24 f. d. A.). Der Verteidiger des Betroffenen hat mit Schreiben vom 24.01.2022 (BI. 29 ff. d. A.) an seinem Einsichtsgesuch in die gesamte Messreihe festgehalten. Die Einsichtnahme und folgende technische Prüfung der Messreihe sei erforderlich, um die Plausibilität und damit die Ordnungsgemäßheit der Messung überprüfen zu können.
Auf ein schriftliches Akteneinsichtsgesuch des Verteidigers des Betroffenen vom 11.02.2022 ist ihm durch das Amtsgericht die Akte samt der zwischenzeitlich angeforderten Rohmessdaten in digitaler Form zur Verfügung gestellt worden (BI. 42 d. A.).
In der Hauptverhandlung vom 19.04.2022, in der der abwesende und durch seinen Verteidiger vertretene Betroffene durch die Vorsitzende des Amtsgericht von seinem persönlichen Erscheinen entbunden worden ist (BI. 44 f. d. A.), hat der Verteidiger des Betroffenen seinen Antrag auf Herausgabe/Einsichtnahme in die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe wiederholt, der Verwertung der streitgegenständlichen Messung widersprochen und hilfsweise beantragt, die Hauptverhandlung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. § 228 StPO auszusetzen und die Akte an die Bußgeldbehörde zurückzugeben mit der Anweisung, der Verteidigung sämtliche angeforderten Unterlagen/Informationen zur Verfügung zu stellen (BI. 47, 52 ff. d. A.).
Mit Urteil vom 19.04.2022 hat das Amtsgericht Köln (802 01/44 972 Js 13136/21 — 622/21) gegen den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 41 Abs. 1 i. V. m. Anlage 2, 49 StVO, 24, 25 StVG, 11.3.7. BKat, § 4 Abs. 1 BKatV auf eine Geldbuße von 160,00 Euro erkannt. Zusätzlich hat es dem Betroffenen das Führen von Kraftfahrzeugen aller Art für die Dauer von einem Monat untersagt (BL 50, 57 ff. d. A.).
Gegen das dem Verteidiger des Betroffenen auf Verfügung der Vorsitzenden (BL 64 d. A.) am 07.06.2022 zugestellte (BI. 66 d. A.) Urteil hat der Betroffene mit Schreiben seines Verteidigers vom 19.04.2022 (BI. 56 d. A.), Eingang bei dem Amtsgericht Köln per elektronischer Post am 25.04.2022 (BI. 55 d. A.), Rechtsbeschwerde eingelegt und um Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolls vom 19.04.2022 gebeten.
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 28.06.2022 (BI. 68 ff. d. A), Eingang bei dem Amtsgericht Köln per elektronischer Post am selben Tag (BI. 67 d. A.), hat der Betroffene die Rechtsbeschwerde weitergehend begründet und erneut um Übersendung des Hauptverhandlungsprotokolls vom 19.04.2022 gebeten. Bezogen auf die Rechtsbeschwerde hat er die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts erhoben und hierzu ausgeführt, das Urteil des Amtsgerichts Köln verletze den Betroffenen in seinen Rechten auf Durchführung eines fairen Verfahrens (Art 6 EMRK) und der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Ihm sei keine Einsicht in die Falldaten der gesamten Messreihe gewährt worden. Hilfsweise hat er die Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf eine bei dem Bundesgerichtshof noch anhängige Divergenzvorlage des Oberlandesgerichts Koblenz beantragt.“
Diese Ausführungen macht sich der Senat zu eigen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das angefochtene Urteil mit der Maßgabe als unbegründet zu verwerfen, dass der Betroffene wegen fahrlässigen Oberschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt sei; sein hilfsweise gestellter Antrag auf Aussetzung des Verfahrens sei zurückzuweisen.
II.
Die Sache war durch die Rechtsunterzeichnerin als Einzelrichterin gemäß § 80a Abs. 3 S. 1 OWiG dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern zu über-tragen, weil es geboten ist, das angefochtene Urteil zur Fortbildung des Rechts so-wie zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nachzuprüfen.
Die gemäß § 79 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde hat - zumindest vorläufig - Erfolg.
Das Urteil ist auf die Verfahrensrüge, welche der Betroffene auf die Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens stützt, mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Der Betroffene rügt mit Erfolg, dass seinen Anträgen auf Überlassung der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe und Aussetzung der Haupt-verhandlung nicht entsprochen und seine Verteidigung daher in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt unzulässig beschränkt worden sei (§ 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWG).
Da das Urteil bereits vor diesem Hintergrund aufzuheben war, bedurfte es einer Erörterung der weiteren Verfahrensrügen und der Sachrüge nicht.
Im Einzelnen:
A. Zulässigkeit der Verfahrensrüge
Die Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung (§ 338 Nr. 8 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWG) ist von dem Betroffenen zulässig erhoben worden.
Sein Vortrag genügt den Darlegungserfordernissen der §§ 344 Abs. 2 S. 2 StPO, 79 Abs. 3 S. 1 OWiG.
Bedenken gegen die Zulässigkeit der Rüge erwachsen namentlich nicht aus dem Umstand, dass die Rechtsbeschwerde den Gang der Hauptverhandlung zumindest insoweit nicht ausreichend mitteilt, als nicht vorgetragen wird, ob das Amtsgericht über die in der Hauptverhandlung gestellten Anträge des Betroffenen auf Heraus-gabe der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe und Aussetzung der Haupt-verhandlung durch Beschluss entschieden und - gegebenenfalls - welchen Inhalt dieser Beschluss hat.
Der Betroffene hat insoweit in seiner Beschwerdebegründung darauf hingewiesen, dass ihm entsprechender Vortrag nicht möglich gewesen sei, da ihm eine Einsichtnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll trotz mehrfachen Antrags nicht ermöglicht worden sei. Seinem Vorbringen kann allerdings jedenfalls entnommen werden, dass der Betroffene in der Hauptverhandlung erneut Einsicht in die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe begehrt und beantragt hat, das Verfahren auszusetzen und die Behörde anzuweisen, der Verteidigung die geforderten Daten zu überlassen. Zudem ist seinem Vorbringen zu entnehmen, dass das Amtsgericht diesen Anträgen in der Hauptverhandlung nicht entsprochen hat, und zwar entweder, weil sie durch Beschluss zurückgewiesen oder weil sie nicht beschieden worden sind.
Dieses Vorbringen genügt den Anforderungen.
Die Bestimmung des § 338 Nr. 8 StPO ist zwar grundsätzlich nur auf eine Beschränkung anwendbar, die durch einen förmlichen Beschluss des Gerichts herbeigeführt wird (SenE v. 01.12.1989, Ss 489/89 (B); SenE v. 24.03.2000, Ss 134/00; SenE v. 07.08.2012, 111-1 RVs 135/12), etwa weil ein Aussetzungsantrag in der Hauptverhandlung durch Beschluss abgelehnt wird (OLG Hamm, NJW 1972, 1096). Die Nichtbescheidung eines Antrags steht einem solchen förmlichen Beschluss jedoch gleich (OLG Hamm, StV 2003, 490). Der Betroffene hat hiernach ausreichend dargelegt, dass das Amtsgericht seine in der Hauptverhandlung gestellten Anträge auf Aussetzung des Verfahrens und Überlassung der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe entweder durch Beschluss abgelehnt oder aber gar nicht beschieden hat.
B. Begründetheit der Verfahrensrüge
Die zulässig erhobene Rüge der unzulässigen Beschränkung der Verteidigung im Sinne von § 338 Nr. 8 StPO 1.V.m. § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG ist auch begründet.
Durch die Ablehnung bzw. Nichtbescheidung des Aussetzungsantrages des Betroffenen ist dieser in seinem Recht auf Durchführung eines fairen Verfahrens verletzt worden. Denn dem Antrag auf Aussetzung der Hauptverhandlung wäre stattzugeben gewesen, um dem Betroffenen Gelegenheit zur Einsicht in die nicht bei den Akten befindlichen digitalen Falldaten der gesamten Messreihe zu geben.
Der Senat kann auch nicht ausschließen, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht oder beruhen kann (vgl. Gericke in Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl., § 338 Rdn. 101 m.w.N).
1. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat der Betroffene in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren, wozu auch ein - wenn auch nicht unbegrenzt geltendes - Recht auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen gehört (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
Insoweit ist von folgenden Grundsätzen auszugehen:
a) Das Recht auf ein faires Verfahren, das auch in Art. 6 Abs. 1 EMRK verankert ist, zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (BVerfG, NJW 1969, 1423). Zu diesem gehört auch das Verlangen nach verfahrensrechtlicher „Waffengleichheit" von Ankläger und Beschuldigtem. Es dient damit in besonderem Maße dem Schutz des Beschuldigten, für den bis zur Verurteilung die Vermutung seiner Unschuld streitet (BVerfG, NJW 1975, 103; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Das Gebot zur fairen Verfahrensgestaltung wendet sich dabei nicht nur an die Gerichte, sondern ist auch von allen anderen staatlichen Organen zu beachten, die auf den Gang eines Strafverfahrens Einfluss nehmen, demgemäß auch von der Exekutive, soweit sie sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben (BVerfG, NJW 1981, 1719; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
b) Ebenso wie ein Beschuldigter im Strafverfahren hat auch der Betroffene eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (BVerfG, NJW 1992, 2472; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
Aus diesem Recht folgt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch ein Recht des Betroffenen auf Informationszugang zu den nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455; BVerfG, Beschluss v. 04.05.2021, 2 BvR 868/20, BeckRS 2021, 10638). Danach hat der Betroffene grundsätzlich das Recht, Kenntnis auch von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden, aber nicht zur Akte genommen wurden, und durch seine Verteidigung einsehen zu lassen (BVerfG, Beschluss v. 12.01.1983, NJW 1983, 1043; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Er erhält auf diese Weise die Möglichkeit, selbst nach Entlastungsmomenten suchen, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind.
Die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung und die Urteilsfeststellungen lassen das Bedürfnis der Betroffenen am Zugang zu weiteren die Messung betreffenden Informationen nachvollziehbar erscheinen (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Denn ein Betroffener kann nur - wie von ihm verlangt - konkrete Anhaltspunkte gegen die Richtigkeit der Messung vortragen, wenn es ihm möglich ist, sich die für seine Verteidigung erforderlichen Informationen über die gegen ihn verwendeten Beweismittel zu beschaffen. Der Betroffene muss damit in die Lage versetzt werden, bereits im Vorverfahren durch einen nicht behinderten Zugriff auf Messdaten und Messunterlagen, ggf. auch mit Hilfe eines privat hinzugezogenen und von ihm mit den notwendigen Anknüpfungstatsachen ausgestatteten Sachverständigen, die konkreten Anhaltspunkte zu ermitteln, die er dann der Bußgeldstelle oder dem Gericht vortragen kann, um die Amtsaufklärungspflicht auszulösen (vgl. Cierniak, zfs 2012, 664 (669)). Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass es einen Erfahrungssatz, dass die eingesetzten Messgeräte zur Geschwindigkeitsmessung unter allen Um-ständen zuverlässige Ergebnisse liefern, nicht gibt (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455; BGH, NJW 1993, 3081). Das Informationsrecht des Verteidigers kann hiernach deutlich weitergehen als die Amtsaufklärung des Gerichts (KG, Beschluss v. 02.04.2019, 3 Ws (B) 97/19, 122 Ss 43/19, BeckRS 2019, 12070; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 16.07.2019,1 Rb 10 Ss 291/19, NStZ 2019, 620).
c) Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 12. November 2020 allerdings auch klargestellt, dass das Recht auf Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen nicht unbegrenzt gilt (NJW 2021, 455).
Im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten, da andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausweitung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs besteht. Hiernach ist nicht jedem Informationsverlangen des Betroffenen zu entsprechen. Vielmehr müssen die begehrten, hinreichend konkret zu benennenden Informationen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen. Zudem müssen sie nach der vorgenannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, wobei maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen ist. Entscheidend ist, ob der Betroffene bzw. sein Verteidiger eine Information verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Hiernach kann die Verteidigung grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen. Ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachten, ist dagegen unerheblich. Des Weiteren muss der Betroffene den Zugang zu weiteren Informationen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt haben (BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455). Zudem können der Gewährung des begehrten Informationszugangs gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen, wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder schützenswerte Interessen Dritter, widerstreiten (BVerfG, Beschluss v. 12.01.1983, NJW 1983, 1043; BVerfG, Beschluss v. 12.11.2020, BvR 1616/18, NJW 2021, 455).
2. Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben ist die Entscheidung des Amtsgerichts, die in der Hauptverhandlung gestellten Anträge des Betroffenen auf Zugang zu den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe und Aussetzung der Hauptverhandlung durch Beschluss abzulehnen bzw. nicht zu bescheiden, verfahrensfehlerhaft erfolgt.
Die Voraussetzungen, unter welchen dem Betroffenen Zugang zu den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe zu gewähren ist, liegen vor.
a) Die Frage, ob aus dem Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren auch ein Anspruch auf die Überlassung der Daten der gesamten Messreihe folgen kann, wird in der Rechtsprechung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 (NJW 2021, 455) uneinheitlich beantwortet
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat sich mit dieser Frage in seiner Entscheidung nicht explizit befasst.
Teilweise wird ein Recht auf Überlassung der gesamten Messreihe verneint (vgl. OLG Koblenz, Beschluss v. 17.11.2020, 1 OWi 6 SsRs 271/20, NZV 2021, 201; BayObLG, Beschluss v. 04.01.2021, 202 ObOWi 1532/20, SVR 2021, 279; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 22.02.2021, 3 OWi 6 SsBs 275/20, BeckRS 2021, 15340; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 04.05.2021, 1 OWi 2 SsRs 19/21, NZV 2022, 27; OLG Koblenz, Beschluss v. 01.02.2022, 3 OWi 32 SsBs 99/21, DAR 2022, 218; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 02.06.2022, 1 OWi 2 Ss Rs 19/21, BeckRS 2022, 15436; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 19.09.2022, IV 4 RBs 118/22, BeckRS 2022, 45726; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 01.03.2023, 1 OWi 2 SsBs 49/22, BeckRS 2023, 6312; AG Stuttgart, Beschluss v. 04.01.2021, 18 OW 65 Js 87970120, NZV 2022, 335; AG St. Ingbert, Urteil vom 13.01.2021, 23 OWi 68 Js 1367/20 (2105/20) BeckRS 2021, 174; AG Wiesbaden, Beschluss v. 18.10.2021, 90 OWi 24/21, BeckRS 2021, 32489). Eine Relevanz der Messreihe für die Verteidigung des Betroffenen sei nicht ersichtlich. Dies wird überwiegend damit begründet, dass nach der öffentlich zugänglichen Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) vom 30. März 2020 („Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung") von vornherein schlechterdings auszuschließen sei, dass sich aus der Messreihe brauchbare Erkenntnisse für die streitgegenständliche Einzelmessung ergeben könnten, jedenfalls sei eine etwaige Relevanz von dem Betroffenen im Einzelfall nicht plausibel dargelegt worden.
Teilweise wird ein Anspruch auf Überlassung der gesamten Messreihe, insbesondere unter Hinweis auf deren Relevanz für die Verteidigung des Betroffenen, bejaht (vgl. Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Stuttgart, Beschluss v. 03.08.2021, 4 Rb 12 Ss 1094/20, NStZ-RR 2022, 60; OLG Stuttgart, Beschluss v. 12.10.2021, 4 Rb 25 Ss 1023/20, BeckRS 2021, 39363; LG Köln, Beschluss v. 08.12.2020, 323 Qs 109/20, BeckRS 2020, 36839; AG Leverkusen, Beschluss v. 08.02.2021, 55 OW 120/21 [b], BeckRS 2021, 3108; AG Herne, Beschluss v. 04.06.2021, 22 OWi 697/21 [b], BeckRS 2021, 16813; AG Dillingen a. d. Donau, Beschluss v. 07.07.2021, 304 OW 58/21, BeckRS 2021, 36897; AG Bernau, Beschluss v. 09.09.2021, 2 OWi 79/21, BeckRS 2021, 32495; LG Hagen, Beschluss v. 30.09.2021, 46 Qs 59/21, BeckRS 2021, 36504; AG Bad Saulgau, Beschluss v. 13.12.2021, 1 OWi 25 Js 27436/21, BeckRS 2021, 40801; AG Ellwangen (Jagst), Beschluss v. 14.01.2022, 6 OWi 3/22, zfs 2022, 533; AG Bielefeld, Beschluss v. 09.06.2022, 861 OWi 75/22, BeckRS 2022, 15233; AG Nauen, Beschluss v. 19.10.2022, 34 OW 263/22, BeckRS 2022, 29732; AG Köln, Beschluss v. 23.11.2022, 805 OWi 112/22, BeckRS 2022, 37880; AG Würzburg, Beschluss v. 19.12.2022, 7 OW 952 JS 5972122, BeckRS 2022, 37872).
Der Bundesgerichtshof hat eine Divergenzvorlage (§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG) des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 4. Mai 2021 (1 OW 2 SsRs 19/21, NZV 2022, 27) mit Beschluss vom 30. März 2022 (4 StR 181/21, NZV 2022, 287) als unzulässig zurückgewiesen und die Sache an das Oberlandesgericht zurückgegeben. Bei der aufgeworfenen Frage, ob die dem Betroffenen von der Bußgeldbehörde verweigerte Einsicht in die gesamte Messreihe eine Relevanz für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen zur Last gelegten Einzelmessung habe, handele es sich nicht um eine Rechts-, sondern um eine Tatfrage, deren Beurteilung dem Vorlegungsverfahren entzogen sei.
Auch die vergleichbar gelagerte weitere Divergenzvorlage des Oberlandesgerichts Koblenz vom 1. Februar 2022 (3 OW 32 SsBs 99/21, DAR 2022, 218) hat der Bundesgerichtshof abschlägig beschieden (Beschluss v. 16.03.2023, 4 StR 84/22) und auch diese Sache an das Oberlandesgericht zurückgegeben. Es fehle an der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage, da die Verteidigung des Betroffenen in der Hauptverhandlung keinen auf die Zugänglichmachung der begehrten Daten abzielenden Antrag gestellt und damit das Einsichtsbegehren nicht weiterverfolgt habe. Eine Rüge der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren komme in einem solchen Fall aber nicht in Betracht.
b) Nach Ansicht des Senats liegen die Voraussetzungen, unter denen der Betroffene nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2021, 455) Zugang zu außerhalb der Akte befindlichen Informationen begehren kann, vor.
aa) Der Betroffene hat die von ihm begehrten Informationen hinreichend konkret benannt, indem er im Verfahren wiederholt die Vorlage der .digitalen Falldaten der gesamten Messreihe begehrt hat.
Unter der „Messreihe wird gemeinhin die Gesamtheit der in einem Messbetrieb generierten Falldatensätze bezeichnet. Insoweit wird von denjenigen Fahrzeugen, die an der Messstelle von dem Geschwindigkeitsmessgerät als zu schnell erfasst wer-den, regelmäßig ein digitales Messfoto angefertigt und zusammen mit bestimmten Messdaten als Falldatensatz digital gespeichert. Zu jedem Falldatensatz gehören hiernach auch personenbezogene Informationen in Form des Fahrzeugs, des Kennzeichens und einer Abbildung des Fahrers.
bb) Der Betroffene hat sein Begehren auf Vorlage der digitalen Falldaten der gesamten Messreihe im Verfahren auch rechtzeitig begehrt.
Ein Betroffener kann mit der Rüge unzulässiger Informationsbeschränkung im gerichtlichen Verfahren nur durchdringen, wenn er den Zugang zu nicht zur Akte genommener Unterlagen frühzeitig im Bußgeldverfahren beantragt und im behördlichen und gerichtlichen Verfahren nach § 62 OWiG begehrt hat (vgl. BVerfG, Be-schluss v. 12.11.2020, 2 11/R 1616/18, NJW 2021, 455; BGH, Beschluss v. 16.03 2023, 4 StR 84/22; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023, 1 ORbs, 35 Ss 72/23, BeckRS 2023, 9523). Zudem muss er sein Einsichtsbegehren auch in der Hauptverhandlung weiterverfolgen (BGH, Beschluss v. 16.03.2023, 4 StR 84/22).
Dies ist vorliegend geschehen.
Der Betroffene hat die Zugänglichmachung zu den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe erstmals mit Schriftsatz vom 12. Oktober 2021- im Zuge der Einspruchs-einlegung - gegenüber der Bußgeldbehörde beantragt und an seinem Begehren auch in weiteren an das Amtsgericht adressierten Schriftsätzen vom 11. und 24. Januar 2022 festgehalten. Auch in der Hauptverhandlung hat der Betroffene seinen Antrag auf Einsichtnahme in die digitalen Falldaten der gesamten Messreihe wiederholt und beantragt, die Hauptverhandlung auszusetzen und die Akte mit der Anweisung an die Bußgeldbehörde zurückzugeben, der Verteidigung die angeforderten Informationen zur Verfügung zu stellen.
cc) Die begehrten Falldateien der gesamten Messreihe stehen auch in dem von dem Bundesverfassungsgericht geforderten sachlichen und zeitlichen Zusammenhang, mit dem dem Betroffenen zur Last gelegten Geschwindigkeitsverstoß.
Ein solcher Zusammenhang wird selbst von den Oberlandesgerichten, die einen Anspruch auf Herausgabe der Messreihe verneint haben, nicht in Abrede gestellt (vgl. OLG Zweibrücken v. 04.05.2021, NZV 2022, 27; OLG Koblenz, Beschluss v. 01.02.2022, DAR 2022, 218). Die Daten der Messreihe betreffen zwar andere Verkehrsteilnehmer, wurden aber im zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem dem Betroffenen vorgeworfenen Verstoß erhoben.
dd) Der Betroffene darf den digitalen Falldaten der gesamten Messreihe verständigerweise auch eine Relevanz für seine Verteidigung beimessen.
Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshof vom 30. März 2022 (NZV 2022, 287) ist es Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte, im Einzelfall zu beurteilen, ob den begehrten Informationen, die sich außerhalb der Akte befinden, durch den Betroffenen verständiger Weise Relevanz für seine Verteidigung beigemessen werden kann.
Eine solche Relevanz kann vorliegend nicht in Abrede gestellt werden.
Die PTB hat zwar in ihrer bereits zitierten Stellungnahme vom 30. März 2020 aus-geführt, dass sich aus den Daten der gesamten Messreihe keine brauchbaren Er-kenntnisse für die gegenständliche Messung ergeben würden. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen dem Messwert einer konkreten Einzelmessung und den Messergebnissen für Fahrzeuge, die in den Stunden davor und danach erfasst würden. Nur weil viele nur wenig zu schnell fahren würden, hieße das nicht, dass nicht ab und zu jemand deutlich schneller unterwegs gewesen sein könne. Selbst extreme Geschwindigkeitsüberschreitungen könnten keinen Zweifel an der Korrektheit der Messung wecken.
Auch der Senat verfügt über keine eigenen Erkenntnisse, wonach die Einsicht eines Betroffenen in die gesamte Messreihe schon einmal konkrete Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des ihn betreffenden Messergebnisses ergeben hätte.
Indes hat der Betroffene vorgetragen, dass es zu seiner effektiven Verteidigung erforderlich sei, Einsicht in die komplette Messreihe zu nehmen, um die Plausibilität und damit die Ordnungsgemäßheit der Messung überprüfen zu können. Es gebe mehrere Möglichkeiten der Untersuchung von Messserien. Die trivialsten und für alle Messgeräte gleichen Untersuchungen seien die Prüfungen auf unplausible Messwerte (Traktor mit 100 km/h), Leerbilder oder etwa die Erfassungsentfernungen. Der Betroffene beruft sich insoweit auf die im Internet zugängliche Stellungnahme vom 21. Dezember 2021 von VUT Verkehr (VUT Sachverständigengesellschaft mbH &Co. KG in Saarbrücken; https://vut-verkehr.de/aktuelles/71/neveren-dinq-stoni-oder-ein-letztes-aufbaeumen-), in welcher selbiges ausgeführt wird.
Der Senat vermag jedenfalls nicht auszuschließen, dass etwa ein gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse, welches für den Betroffenen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln ist, die Möglichkeit bietet, aus der Messreihe Entlastungsmomente abzuleiten.
Hieran ändert auch die Stellungnahme der PTB vom 30. März 2020 nichts.
Für die Frage einer Relevanz ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständigerweise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Dies kann hier aber nicht in Abrede gestellt werden, zumal der Betroffene ergänzend darauf verweist, dass ein Sachverständiger - wenn auch in einer anderen Sache - erklärt habe, alle vom Messsystem erhobenen Messdaten, mithin auch die Messreihe, zur Auswertung zu benötigen. Eine solche sachverständige Auskunft vermag der Senat - auch mangels eigener hinreichender technischer Expertise - nicht von vornherein als unzutreffend zu bewerten.
Der Senat sieht sich auch nicht veranlasst, eine ergänzende Stellungnahme der PTB einzuholen. In der gegenwärtigen Diskussion ist nicht erkennbar, dass eine solche geeignet wäre, jegliche Zweifel hinsichtlich einer auch nur theoretischen Aufklärungschance von vornherein auszuräumen.
Damit ist es im Ergebnis nicht auszuschließen, dass sich bestimmte Fehlerquellen - wegen einer fehlerhaften Bedienung oder Fehlfunktionen des Gerätes - gerade erst aus einem Vergleich der eigenen Falldatei mit den anderen im Messzeitraum durchgeführten Messungen ergeben können (vgl. auch OLG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 16.12.2014, 2 Ws 96/14, DAR 2015, 405; LG Trier, Beschluss v. 14.09.2017, 1 Qs 46/17, DAR 2017, 721; Cierniak, zfs 2012, 664 (676)). Es besteht somit eine zumindest theoretische Aufklärungschance, der der Verteidiger des Betroffenen - ggf. unter Hinzuziehung eines Sachverständigen - nachgehen darf. Der Betroffene kann sich auf diese Weise eine noch breitere Grundlage für die Prüfung verschaffen, ob sich aus der Messreihe für die Beurteilung der Verlässlichkeit der ihn betreffenden Einzelmessung relevante Erkenntnisse ziehen lassen (vgl. Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186).
ee) Auch schützenwerte Interessen Dritter widerstreiten dem Begehren des Betroffenen, Zugang zu der gesamten Messreihe zu erhalten, nicht (vgl. anders aber. OLG Koblenz, Beschluss v. 01.02.2022, 3 OWI 32 SsBs 99/21, DAR 2022, 218; AG Wies-baden, Beschluss v. 18.10.2021, 90 OWi 24/21, BeckRS 2021, 32489).
Die Zugänglichmachung der Daten der gesamten Messreihe begegnet vorliegend weder unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechte der anderen Verkehrsteilnehmer noch aus Gründen des Datenschutzes Bedenken (vgl. BayObLG, Beschluss v. 27.11.1990, 2 Ob OWi 279/90, NJW 1991, 1070; Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023,1 ORbs, 35 Ss 72/23, BeckRS 2023, 9523; LG Köln, Beschluss v. 08.12.2020, 323 Qs 109/20, BeckRS 2020, 36839; LG Trier, Beschluss v. 14.09.2017, 1 Qs 46/17, DAR 2017, 721; AG Kassel, Beschluss v. 23.12.2015, 381 OWi 315/15, BeckRS 2016, 1593; AG Zossen, Beschluss v. 31.01.2018, 11 OWi 16/18, BeckRS 2018, 760; AG Köln, Beschluss v. 22.10.2018, 814 OWi 210/18 [b], BeckRS 2018, 28101; AG Schleiden, Beschluss v. 09.04.2019, 13 OWi 34/19 (b), BeckRS 2019, 10264; AG Gummersbach, Beschluss v. 20.11.2019, 85 OMA - 932 Js 9226/19 - 269/19, BeckRS 2019, 54303; Cierniak, zfs 2012, 664 (676); Niehaus in Messungen im Straßenverkehr, 6. Aufl., Rdn. 190).
Zwar ist bei der Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe das allgemeine Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG, konkret das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der anderen Verkehrsteilnehmer betroffen. Denn jede Falldatei einer Messreihe enthält ein digitales Beweisfoto mit personen-bezogenen Informationen in Form des Fahrzeugs, des Kennzeichens und einer Abbildung des Fahrers. Bei der Herausgabe der Messreihe wird insbesondere über jeden anderen Fahrer bekannt, dass er einen bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert hat, dass dies höchstwahrscheinlich mit überhöhter Geschwindigkeit geschehen ist und er deshalb als Betroffener in einem anderen Bußgeldverfahren einer Ordnungswidrigkeit beschuldigt wird.
Indes ist der hiermit verbundene Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der anderen Verkehrsteilnehmer, der von vergleichsweise geringer Intensität ist, mit Rücksicht auf das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren vorliegend hinzunehmen. Denn es überwiegt das Interesse des Betroffenen an der Durchsetzung seines Anspruchs auf ein faires Verfahren und der Möglichkeit zur Überprüfung der Messung, um den ihm gemachten Schuldvorwurf gegebenenfalls entkräften zu können.
Das Bundesverfassungsgericht hat zudem bereits in einer früheren Entscheidung darauf hingewiesen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und der Kontrolle durch die Polizei aussetzen (BVerfG, NJW 2011, 2783). Dabei ist der festgehaltene Lebenssachverhalt auf einen äußerst kurzen Zeitraum begrenzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine dritte Person auf einem Messfoto tatsächlich erkannt wird, erscheint eher gering, zumal lediglich Foto und Kennzeichen, nicht aber die Fahrer- oder Halteranschriften der anderen Verkehrsteilnehmer übermittelt werden.
Überdies kann den Persönlichkeitsrechten Dritter jedenfalls dadurch Rechnung getragen werden, dass die Datensätze der Messreihe vor ihrer Herausgabe an die Verteidigung durch die Bußgeldbehörde anonymisiert werden (OLG Stuttgart, Be-schluss v. 03.08.2021, 4 Rb 12 Ss 1094/20, NStZ-RR 2022, 60; OLG Stuttgart, Be-schluss v. 12.10.2021, 4 Rb 25 Ss 1023/20, BeckRS 2021, 39363). Für derartige Anonymisierungen stehen, wie dem Senat aus anderen Verfahren bekannt ist, technische Mittel zur Verfügung.
Im Übrigen wird auch darauf verwiesen, dass die Daten der Messreihe lediglich an den Verteidiger als ein Organ der Rechtspflege sowie einen von diesem beauftragten Sachverständigen herausgegeben werden, so dass erwartet werden kann, dass die übermittelten Daten nicht an Dritte weitergegeben werden (Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023, 1 ORbs, 35 Ss 72/23, BeckRS 2023, 9523; LG Trier, Beschluss v. 14.09.2017, 1 Qs 46/17, DAR 2017, 721).
ff) Anhaltspunkte, dass durch die Herausgabe der Messreihe an den Betroffenen die Funktionstüchtigkeit der Verwaltung gefährdet würde, bestehen nicht.
Dass der hiermit verbundene Aufwand derart unzumutbar hoch ist, dass die Funktionsfähigkeit der Verwaltungsbehörde oder der Rechtspflege gefährdet wäre, erschließt sich nicht. Zwar handelt es sich bei Bußgeldverfahren um massenhaft vor-kommende Verfahren, die in der Praxis von den Verwaltungsbehörden und den Gerichten - unter Wahrung der gesetzlich vorgesehenen kurzen Verjährungsfristen - zu bearbeiten sind. Indes sind einem Betroffenen schon jetzt auf sein Verlangen eine Vielzahl von Informationen und Unterlagen zur Verfügung zu stellen, darunter die ihn betreffenden Messdaten, mithin der digitale Falldatensatz der ihn betreffenden eigenen Messung. Dass das Überspielen der digitalen Falldateien der gesamten Messreihe auf einen vom Verteidiger zur Verfügung gestellten Datenträger darüber hinaus einen übermäßigen Aufwand bedeuten würde, ist nicht zu erkennen.
Ebenso erschließt sich nicht, dass eine etwaige Anonymisierung personenbezogener Daten für die Behörde derart zeitintensiv wäre, dass hierdurch die Arbeitsfähigkeit der Bußgeldstelle und damit die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege ernstlich beeinträchtigt wäre. Anonymisierungen werden schon jetzt teilweise praktiziert und können überdies gegebenenfalls auch mit Hilfe entsprechender Software automatisiert erfolgen.
Soweit die PTB in ihrer Stellungnahme vom 30. März 2020 darauf verweist, dass die gesamte Messreihe sehr lang sein könne und praktisch nicht auswertbar sei, spricht auch dies nicht gegen die Herausgabe. Ob eine Auswertung, auch wenn sie lange dauert oder umfangreich ist, erfolgen soll, ist allein der Entscheidung und dem Kostenrisiko des Betroffenen zu überlassen.
Der Senat teilt auch nicht die Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft, dass den von der Herausgabe ihrer Daten betroffenen Dritten in Anwendung der durch das Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätze zur Gewährung von Akteneinsicht in Strafverfahren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.04.2002, 2 BvR 465/05) vor der Zurverfügungstellung der Daten an den Verteidiger rechtliches Gehör zu gewähren wäre. Zwar würde dies in der Tat ein erhebliches Arbeitsaufkommen für die Verwaltungsbehörden bedeuten. Anders als bei der genannten Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts geht es vorliegend indes nicht um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Dritten Einsicht in eine Ermittlungsakte gewährt werden kann. Vielmehr geht es darum, welche Daten dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeiten-verfahren zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens zur Verfügung zu stellen und zur Ermittlungsakte zu nehmen sind.
3. Schließlich bestand auch kein Anlass, das Verfahren dem Bundesgerichtshof gemäß §§ 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG vorzulegen.
Der Senat weicht - soweit ersichtlich - nicht in Bezug auf eine Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder des Bundesgerichtshofs ab.
Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 30. März 2022 (NZV 2022, 287) ist vielmehr davon auszugehen, dass der Senat lediglich eine abweichende Bewertung auf tatsächlicher Ebene vornimmt, soweit hier die Relevanz der digitalen Falldateien der gesamten Messreihe bejaht wird (vgl. Thüringer OLG, Beschluss v. 17.03.2021, 1 OLG 331 SsBs 23/20, SVR 2021, 186; OLG Stuttgart, Beschluss v. 03.08.2021, 4 Rb 12 Ss 1094/20, NStZ-RR 2022, 60; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 29.03.2023, 1 ORbs, 35 Ss 72123, BeckRS 2023, 9523).