13.11.2013 · IWW-Abrufnummer 133441
Oberlandesgericht Köln: Beschluss vom 08.07.2013 – 2 Ws 354/13
Zur Frage einer genügenden Entschuldigung gemäß § 329 Abs. 1 StPO.
Bei telefonisch angekündigter Verspätung des Angeklagten infolge witterungsbedingter schlechter Verkehrsverhältnisse ist - ungeachtet eines möglichen Verschuldens durch verspäteten Reiseantritt - regelmäßig eine über den üblichen Zeitraum von 15 Minuten hinaus gehende Wartezeit geboten.
OLG Köln
08.07.2013
2 Ws 354/13
Tenor:
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Dem Angeklagten wird gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Gründe
I.
Der Angeklagte ist durch Urteil des Amtsgerichts S. vom 19.12.2012 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Die 6. kleine Strafkammer des Landgerichts B. hat Termin zur Hauptverhandlung über die Berufung auf den 13.03.2013, 09.00 Uhr, bestimmt und den Angeklagten und seinen Verteidiger hierzu geladen.
Am Terminstag herrschten - wie bereits einen Tag vorher - winterliche Straßenverhältnisse in B. und Umgebung. Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat der Vorsitzende der Strafkammer um 09.00 Uhr mit dem Verteidiger des Angeklagten telefoniert, welcher mitgeteilt hat, er sei mit dem Angeklagten um 08.00 Uhr in Lohmar abgefahren und man stehe nun wegen der winterlichen Witterungsbedingungen im Stau und werde sich voraussichtlich um 20 Minuten verspäten. Der Vorsitzende hat darauf dem Verteidiger mitgeteilt, dass bei Nichterscheinen bis 09.30 Uhr die Berufung verworfen werde. Nachdem der Angeklagte bis 09.35 Uhr nicht erschienen war, hat die Strafkammer die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs.1 StPO verworfen und die Sitzung um 09:38 Uhr geschlossen. Um 09.50 Uhr sind der Angeklagte und sein Verteidiger im Sitzungssaal erschienen, worauf ihnen mitgeteilt worden ist, dass die Berufung zwischenzeitlich verworfen worden sei.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 20.03.2013 hat der Angeklagte beantragt, ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung zu gewähren. Zur Begründung hat er ausgeführt, er sei aufgrund der frostigen Witterungslage unverschuldet nicht in der Lage gewesen, den Hauptverhandlungstermin rechtzeitig wahrzunehmen. Sein Verteidiger und er seien bereits um kurz vor 08.00 Uhr in L. abgefahren, die Wegstrecke sei bei durchschnittlichen Wetterverhältnissen in 25 Minuten zu bewältigen. Jedoch seien die Straßen an der Bonner Stadtgrenze verstopft gewesen. Gegen 08.45 Uhr habe sein Verteidiger telefonisch die Geschäftsstelle des Vorsitzenden über eine voraussichtliche Verspätung von circa 30 bis 40 Minuten informiert. Um 09.07 Uhr habe sich der Vorsitzende telefonisch bei seinem Verteidiger gemeldet, woraufhin dieser ihm mitgeteilt habe, dass er davon ausgehe, spätestens um 09.40 Uhr zur Verhandlung anwesend sein zu können. Nach mehreren weiteren vergeblichen Versuchen, den Vorsitzenden zu erreichen, habe er mit seinem Verteidiger den Sitzungssaal um 09.38 Uhr erreicht, der Vorsitzende habe ihn allerdings nicht mehr sehen wollen.
Mit Beschluss vom 22.03.2012 hat das Landgericht B. den Wiedereinsetzungsantrag des Angeklagten als unbegründet verworfen und ausgeführt, der Angeklagte habe eine unverschuldete Verhinderung weder schlüssig dargelegt noch glaubhaft gemacht. Zwar seien die Witterungsverhältnisse am 13.03.2013 in B. und Umgebung schneebedingt schwierig gewesen, jedoch habe der Angeklagte im Hinblick auf den Schneefall für seine Anreise leichtsinnig zu wenig Zeit eingeplant. Bei einer rechtzeitigen Abfahrt wäre es dem Angeklagten ohne weiteres möglich gewesen, pünktlich zu dem Verhandlungstermin zu erscheinen.
Außerdem sei der Angeklagte entgegen seines Vorbringens erst um 09.50 Uhr im Sitzungssaal erschienen, nachdem sein Verteidiger im Rahmen des vorherigen Telefonats lediglich eine 20-minütige Verspätung angekündigt habe.
Gegen diesen dem Angeklagten am 27.03.2013 zugestellten Beschluss hat der Angeklagte mit anwaltlichem Schriftsatz vom 03.04.2013, eingegangen per Telefax bei dem Landgericht B. am selben Tag, sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung verweist er auf seinen Schriftsatz vom 20.03.2013 und vertritt mit weiterem Schriftsatz vom 28.06.2013 die Auffassung, dass das Landgericht B. den Begriff der genügenden Entschuldigung zu eng ausgelegt habe.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat dem Senat die Akten mit dem Antrag vorgelegt, die sofortige Beschwerde gegen die abgelehnte Wiedereinsetzung zu verwerfen.
II.
Die sofortige Beschwerde ist gemäß §§ 329 Abs. 3, 46 Abs. 3 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg.
Der Antrag des Angeklagten auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zulässig und begründet. Das Landgericht B. hat die Anforderungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen ein Verwerfungsurteil gemäß § 329 Abs. 1 StPO überspannt.
1.
Das Wiedereinsetzungsvorbringen des Angeklagten, das sich auf die dem Gericht bereits vor der Verwerfung der Berufung mitgeteilten Entschuldigungsgründe stützt, ist im Rahmen der §§ 329 Abs. 3, 44, 45 StPO ausnahmsweise zulässig.
§ 329 Abs. 3 StPO räumt dem Angeklagten bei einer Terminversäumung, die zu einer Verwerfung der Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO geführt hat, neben der Möglichkeit der Revisionseinlegung das Recht ein, einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu stellen. Der Angeklagte kann hierbei ausnahmsweise sein Wiedereinsetzungsvorbringen auf die Wiederholung der bereits vor Erlass des Berufungsurteils vorgetragenen Entschuldigungsgründe für das Nichterscheinen stützen, wenn das Gericht sich in seinem Berufungsurteil nicht mit diesen Entschuldigungsgründen auseinandergesetzt hat. Der Grundsatz, dass eine Wiedereinsetzung nicht mit der gleichen Tatsachenbehauptung beantragt werden kann, mit der ein Angeklagter sein Nichterscheinen bereits entschuldigt hat, gilt nämlich dann nicht, wenn es das Berufungsgericht versäumt hat, diese Tatsache in dem Urteil nach § 329 Abs. 1 StPO als nicht ausreichend zu würdigen (vgl. OLG München NStZ 1988, 377, 378; OLG Hamm, NStZ-RR 1997, 368). Vorliegend hat das Landgericht die Berufung lediglich mit der formelhaften Begründung verworfen, der Angeklagte sei ohne genügende Entschuldigung nicht zum Hauptverhandlungstermin erschienen, ohne hierbei auf die von diesem bereits telefonisch vorgetragenen Entschuldigungsgründe einzugehen. Diese Gründe können daher im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand berücksichtigt werden, ohne dass der Angeklagte diesbezüglich darauf beschränkt wäre, sich mit der Revision gegen das Verwerfungsurteil zu wenden.
2.
Die Verwerfung der Berufung durch die Strafkammer war rechtsfehlerhaft, da die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO im Hinblick auf Sinn und Zweck der Vorschrift zum Zeitpunkt der Verkündung des Berufungsurteils in der Berufungshauptverhandlung am 13.03.2013 nicht vorlagen.
Der Zweck des § 329 StPO besteht darin, den Angeklagten daran zu hindern, die Sachentscheidung über seine Berufung dadurch zu verzögern, dass er sich der Verhandlung entzieht (BGHSt 17, 188, 189= NJW 1962, 1117; BGHSt 27, 236, 239 = NJW 1977, 2273; Paul in Karlsruher Kommentar StPO, 6. Aufl. 2008, § 329 Rdnr. 1; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 329, Rdnr. 2). Die Ausnahme von dem Grundsatz, dass gegen einen abwesenden Angeklagten kein Urteil ergehen darf, beruht auf der Unterstellung, dass der säumige Angeklagte an der Durchführung der Hauptverhandlung kein Interesse hat und auf das Rechtsmittel und damit auf eine sachliche Prüfung des angefochtenen Urteils verzichtet (BGHSt 15, 287, 289= NJW 1961, 567 [BGH 23.11.1960 - 4 StR 265/60]; BGHSt 24, 143, 150 = NJW 1971, 1278; 1280; Karlsruher Kommentar StPO, 6. Aufl. 2008, § 329, Rn. 1, Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 329, Rn. 2).
Aufgrund des Ausnahmecharakters der Vorschrift ist der Rechtsbegriff der genügenden Entschuldigung im Sinne des § 329 Abs. 1 StPO zugunsten des Angeklagten weit auszulegen (OLG Hamm NStZ-RR 1997, 368, 369 m.w.N.).
Ein Ausbleiben des Angeklagten im Sinne des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ist nicht schon immer dann anzunehmen, wenn er bei Aufruf der Sache nicht im Sitzungssaal anwesend ist. Es besteht vielmehr für das Gericht innerhalb verständiger Grenzen die Pflicht, eine angemessene Frist zuzuwarten (SenE v. 07.03.2008 - 2 Ws 106/08; Paul, in Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl., § 329 Rn. 4). So ist schon im Falle nicht angekündigten Ausbleibens des Angeklagten und/oder seines Verteidigers ein Zeitraum von etwa 15 Minuten zuzuwarten, bevor mit der Hauptverhandlung begonnen werden kann (vgl. nur OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 303; KG NZV 2001, 356; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 329 Rn. 13 m.w.N.). Bei angekündigter Verspätung ist sogar eine deutlich über 15 Minuten hinausgehende Wartezeit geboten, deren genaue Länge sich nach den Umständen des einzelnen Falles bestimmt (vgl. nur: KG a.a.O.; Senatsentscheidung a.a.O.)
Aus alledem ergab sich hier für die Strafkammer eine Wartepflicht, die bei Verkündung des Verwerfungsurteils noch nicht abgelaufen war.
Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob der Angeklagte mit seinem Verteidiger angesichts der am 13.03.2013 nicht überraschend herrschenden winterlichen Witterungsverhältnisse eine ausreichende Zeit für die Anreise zum Landgericht B. eingeplant hat. Denn der Angeklagte hat über seinen Verteidiger im Rahmen des mit dem Vorsitzenden am Terminstag gegen 09.00 Uhr geführten Telefonats jedenfalls deutlich gemacht, dass er sich dem Verfahren nicht entziehen, sondern an der Hauptverhandlung auf jeden Fall teilnehmen wollte und sein Nichterscheinen lediglich auf einer Verzögerung beruhte, die in absehbarer Zeit behoben sein würde. Eine solche Mitteilung kann zwar nicht dazu führen, dass das Gericht auf unbestimmte Zeit mit dem Verhandlungsbeginn auf den Angeklagten warten muss, jedoch waren vorliegend erweiterte Anforderungen an die Wartepflicht der Strafkammer zu stellen, aufgrund derer diese nicht bereits zwischen 09:35 Uhr und 09:38 Uhr die Berufung nach § 329 StPO hätte verwerfen dürfen. Das Gericht war durch das Telefonat gegen 09.00 Uhr darüber informiert, dass der Angeklagte sich verspäten würde, wobei es dahinstehen kann, ob dem Vorsitzenden eine voraussichtliche Verzögerung von 20 Minuten oder 30 bis 40 Minuten mitgeteilt wurde und ob der Angeklagte den Sitzungssaal um 09.38 Uhr oder erst um 09.50 Uhr erreicht hat. Jedenfalls war aufgrund der Kenntnis des Gerichts von dem Verzögerungsgrund eine längere Wartezeit vor der Verwerfung der Berufung geboten, die zum Zeitpunkt der Verkündung des Verwerfungsurteils noch nicht abgelaufen war, da sich der Angeklagte offensichtlich auf dem Weg zum Gericht befand und zu dem Verwerfungszeitpunkt aufgrund der konkreten, auch dem Gericht bekannten Umstände noch mit einem zeitnahen Eintreffen des Angeklagten zu rechnen war.
Da die Begründungstatsachen des Wiedereinsetzungsantrags des Angeklagten, namentlich die Verspätung aufgrund der witterungsbedingten Verkehrsverhältnisse, bereits durch das Telefonat mit dem Vorsitzenden gerichtsbekannt waren, bedurfte es einer diesbezüglichen Glaubhaftmachung gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 StPO nicht (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. 2012, § 45, Rn. 6 m.w.N, Karlsruher Kommentar StPO, 6. Aufl. 2008, § 45 Rn. 10).