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  • 27.05.2020 · IWW-Abrufnummer 215891

    Amtsgericht Meißen: Beschluss vom 31.01.2020 – 16 OWi 738/19

    Hier hat das AG Meißen ein weitgehendes Einsichtsrecht in nicht bei der Akte befindliche (Mess-)Unterlagen angenommen. Auf Grund der Rechtsprechung zum standardisierten Messverfahren müsse die Verteidigung in der Lage sein, die Messung umfassend zu überprüfen und diesbezüglich vorzutragen. Datenschutzgründe stellten kein Hindernis dar. Zudem gehe das Gericht davon aus, die Unterlagen selbst auf Anforderung zu erhalten, so dass sich nicht erschließe, weshalb der Verteidigung diese nicht zur Verfügung stehen sollen.


    AG Meißen

    Beschluss vom 31.01.2020


    1. Dem Verteidiger sind folgende Unterlagen zur Überprüfung der Messung zur Verfügung zu stellen:

    • Digitale Fallsatze der gesamten Messreihe
    • Statistikdatei
    • Vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen seit der letzten Eichung
    • Unterlagen zum Konformitätsbewertungsverfahren
    • Verkehrsrechtliche Anordnung

    2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Betroffenen trägt die Staatskasse.

    Gründe

    I.

    Das Landratsamt Meißen Kreisordnungsamt ermittelt gegen den Betroffenen wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit des Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 24 km/h bei zulässigen 70 km/h. Insofern soll der Betroffenen am 24.03.2019 gegen … Uhr auf der B 101 in Görna-Soppen, in Höhe der Kreuzung Krögis/Barnitz in Fahrtrichtung Nossen mit einer Geschwindigkeit nach Toleranzabzug von 94 km/h festgestellt worden sein.

    Die Messung erfolgt mit dem Messgerät TraffiStar S 350.

    Die Verwaltungsbehörde erließ daraufhin am 25.07.2019 einen Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen, welcher am 30.07.2019 zugestellt wurde, und setzte eine Geldbuße von 70,00 € fest. Der Betroffene legte gegen den Bescheid mit Schreiben vom 31.07.2019 Einspruch ein und verlangte Akteneinsicht.

    Mit Schreiben vom 23.08.2019 beantragte die Verteidigerin des Betroffenen folgende Unterlagen zur Verfügung zu stellen:

    • Digitale Falldatensätze des Betroffenen sowie der gesamten Messreihe mit Statistikdatei
    • Lebensakte bzw. sämtliche vorhandenen Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen des Messgeräts
    • Verwendungsanzeige bei zuständiger Landesbehörde nach § 32 Abs. 1 und MessEG
    • Konformitätsbescheinigung und Konformitätserklärung
    • Verkehrsrechtliche Anordnung der Geschwindigkeitsbegrenzung
    • Verträge und sonstige Unterlagen zur Zusammenarbeit des Landratsamtes Meißen mit Privatdienstleistern im Rahmen der Verkehrsüberwachung.

    Die Verwaltungsbehörde überließ mit Schreiben vom 16.09.2019 eine Kopie der Konformitätserklärung sowie die Original sbf-Messdatei des Betroffenen. Im Übrigen wies sie daraufhin, dass eine Lebensakte nicht existiere und Messdaten anderer Fahrzeugführer im Rahmen der Akteneinsicht nicht zur Verfügung gestellt werden. Das Messgerät sei Eigentum des Landratsamts Meißen und die Bedienung würde durch geschulte Mitarbeiter erfolgen. Wartungs-, Instandsetzungs- oder Reparaturarbeiten seien seit dem Zeitpunkt der letzten Eichung nicht erforderlich gewesen. Die Beschilderung sei der Kontrollstellendokumentation zu entnehmen. Straßenverkehrsbehördliche Anordnungen seien regelmäßig nicht Aktenbestandteil. Die Inbetriebnahme des Messgeräts sei mit Schreiben vom 16.10.2017 beim Staatsbetrieb für Mess- und Eichwesen Eichamt Zwickau angezeigt worden.

    Mit Schreiben vom 23.09.2019 reichte die Verteidigerin des Betroffenen einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung zu der Verwaltungsbehörde, mit welchem sie die Überlassung der folgenden Unterlagen erstrebte:

    • Digitale Fallsätze der gesamten Messreihe
    • Statistikdatei
    • Vorhandene Wartungs-, Instandsetzungs- und Eichunterlagen seit der letzten Eichung
    • Unterlagen zum Konformitätsbewertungsverfahren
    • Verkehrsrechtliche Anordnung.

    Die Verteidigerin stellt sich dabei auf den Standpunkt, dass die Unterlagen für eine vollständige Überprüfung des Messverfahrens und des Messergebnisses erforderlich sind. Sie hat in der Folge ausführlich dargelegt, welchen Einfluss die Unterlagen auf die Überprüfung haben. Insofern wird auf den Antrag vom 23.09.2019 verwiesen.

    Mit Schreiben vom 07.10.2019 übermittelte die Verwaltungsbehörde noch die verkehrsrechtliche Anordnung. Ansonsten verblieb sie bei ihrer Auffassung, dass die Unterlagen nicht herauszugeben seien bzw. im Fall der Statistikdatei, eine solche nicht existiert.

    Die Verwaltungsbehörde gab daher den Antrag am 15.10.2019 an das Amtsgericht Meißen zur Entscheidung ab.

    II.

    Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG ist zulässig und begründet.

    1.

    Der Antrag ist zulässig.

    Er wurde formgerecht eingereicht.

    Der Betroffene hat schriftlich Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt.

    Der Betroffene ist als Adressat des Bußgeldbescheids beschwert.

    2.

    Der Antrag ist begründet.

    Der Betroffene muss, wenn er die Richtigkeit der Messung angreifen will im jeweiligen Verfahren konkrete Anhaltspunkte darlegen, die für eine Unrichtigkeit der Messung sprechen. Eine pauschale Behauptung genügt dazu nicht. Solange keine konkreten Einwände gegen die Messung und das Ergebnis erhoben werden, besteht für das Gericht kein Anlass, die Messung sachverständig Oberprüfen zu lassen (OLG Braunschweig, Beschluss vom 14. Juni 2017 ‒ 1 Ss (OWi) 115/17). Wenn es aber der Verteidigung obliegt, konkrete Einwände gegen die Messung zu erheben, so muss ihr eine umfassende Überprüfung der Messung möglich sein. Dabei muss die Verteidigung selbst entscheiden, wie umfassend diese Überprüfung erfolgen soll.

    Ein solcher dezidierter Vortrag ist dem Betroffenen jedoch nur möglich, wenn er auch Zugang zu den entsprechenden Messunterlagen hat. Die Verwaltungsbehörde hat dem Betroffenen daher Zugang zu den Messunterlagen zu gewähren. Dies folgt aus dem Recht der Akteneinsicht nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 147 StPO und dem Grundsatz des fairen Verfahren nach Art. 20 Abs. 3 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG.

    Aus dem Gebot der Waffengleichheit folgt, dass der Betroffene ebenso wie die Verwaltungsbehörde in gleicher Weise Teilhabe-, Äußerungs- und Informationsrechte hat. Dazu benötigt der Betroffene jedoch Zugang zu den für die Beurteilung des Messwertes relevanten Unterlagen.

    Die Vorenthaltung der Einsichtnahme in die Unterlagen verwendeter Messgeräte, wie Lebensakte etc. verletzt den aus Art. 6 EMRK folgenden Grundsatz des fairen Verfahrens und beeinträchtigt damit das Recht auf eine effektive Verteidigung.

    a.)

    Der Verteidiger hat das Recht, dass man ihm die vollständige Messdatei sowie die gesamte Messreihe entsprechend § 46 OWiG i.V.m. § 147 StPO zur Verfügung stellt. Nur wenn dem Betroffenen die ganze Messreihe vorliegt, Ist er in der Lage eine Auswertung, ggf. unter Zuhilfenahme eines Sachverständigen, der Messung vorzunehmen.

    Datenschutzrechtliche Gründe sprechen nicht gegen eine solche Aushändigung. Zwar sind bei einer solchen die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer betroffen. Jedoch überwiegt bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen das Interesse des Betroffenen an einem fairen Verfahren. Es handelt sich um einen relativ geringfügigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Dritter. So werden zwar Foto und Kennzeichen Dritter übermittelt, jedoch weder die Fahrer- noch die Halteranschrift. Darüber hinaus dürften der Verwaltungsbehörde technische Mittel zur Anonymisierung der Daten auf der Messdatei zur Verfügung stehen (AG Zossen, Beschluss vom 31.01.2018 ‒ 11 OWi 16/18). Die aufgezeichneten Sachverhalte betreffen nur einen äußerst kurzen Zeitraum.

    Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass vorliegend dem Verteidiger die Daten zur Verfügung gestellt werden sollen. Dieser ist als Person der Rechtspflege dem Datenschutz verpflichtet (AG Gießen, Beschluss vom 01. Marz 2016 ‒ 510 OWi 5/16). Das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren ist nur gewährleistet, soweit das Akteneinsichtsrecht auch auf Beweismittel erstreckt wird, die nicht unmittelbarer Aktenbestandteil sind. Das Gericht geht davon aus, dass es selbst auf Anforderung die entsprechenden Unterlagen zur Vertagung gestellt bekäme. Weshalb diese aber nicht der Verteidigung zur Vertagung stehen sollen, erschließt sich nicht.

    Die Verteidigerin des Betroffenen hat vorliegend detaillierten und fundierten Vortrag dazu gehalten, warum die Einsicht in die komplette Messreihe erforderlich ist. So besteht dadurch die Möglichkeit Fehlerquellen aufgedeckt werden.

    b)

    Dies gilt ebenso für die Statistikdatei (txt-Datei). Eine solche ist bei dem Gerät TraffiStar S350 vorhanden und enthält Informationen, wie die Entfernung zum Messbeginn, die Entfernung zum Messende, die Anzahl durchgefahrener Fahrzeuge, etc. Auf der Grundlage dieser Datei wird dem Verteidiger die Überprüfung ermöglicht, ob alle Messfotos tatsächlich vorliegen oder ob verschiedene Messungen gelöscht oder annulliert wurden. Dies gibt wiederum Hinweise auf die Fehlerträchtigkeit der Messung und ermöglicht damit eine Verteidigung des Betroffenen.

    c)

    Ebenfalls besteht ein Anspruch auf die Überlassung vorhandener Reparatur-, Wartungs- oder Instandsetzungsunterlagen seit der letzten Eichung. Damit kann der Verteidiger überprüfen, ob Veränderungen seit der letzten Eichung des Geräts vorgenommen worden sind. Häufige Reparaturen sind möglicherweise geeignet die Vermutung eines standardisierten Messverfahrens zu erschüttern. Zur Führung derartiger Wartungsunterlagen ist die Verwaltungsbehörde nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 MessEG verpflichtet. Diese Verpflichtung erstreckt sich jedoch lediglich auf den Zeitraum seit der letzten Eichung. Weitere Modalitäten, wie beispielsweise die Organisation in einer bestimmten Lebensakte, sind diesbezüglich nicht vorgeschrieben. Die Verwaltungsbehördehat bereits mitgeteilt, dass derartige Arbeiten seit der letzten Messung nicht erforderlich waren.

    d)

    Unterlagen zum Konformitätsbewertungsverfahren sind erforderlich und dem Verteidiger zur Verfügung zu stellen. Die Konformitätsbewertung verfolgt den Zweck, die Konformität des Messgeräts mit den geltenden Rechtsvorschriften auszuweisen. Dies ersetzt die frühere Ersteichung. Dass der Zulassungsschein durch den Eichschein in Bezug genommen wird, ist nicht ausreichend, da so die Grundlagen der Zulassung nicht erkennbar und nachprüfbar sind. Die Überprüfung, ob das Messverfahren entsprechend der Zulassung erfolgt ist, setzt eine Kenntnis der jeweiligen Urkunden voraus. Dass sich bereits aus dem Eichschein ergibt, dass die Bauart des Messgerats von der PTB zur innerstaatlichen Eichung zugelassen wurde, führt nicht zum Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses, da die gutachterlichen Grundlagen der Zulassung gerade nicht erkennbar und nachprüfbar sind. Eine Überprüfung dahin, ob das Messverfahren entsprechend den Grundlagen im Zulassungsschein der PTB erfolgt sind, setzt voraus, dass diese bekannt und nachprüfbar sind, sodass der Betroffene Einsicht in die entsprechenden Unterlagen verlangen kann.

    e)

    Dem Verteidiger ist zudem Einsicht in die entsprechende verkehrsrechtliche Anordnung zu gewähren. Dieser hat hinreichend dargelegt, dass die Einsicht in diese für die Überprüfung der Messung entscheidend sein kann, da auf dieser Grundlage Oberprüft werden kann, ob beispielsweise die Geschwindigkeitsbegrenzung rechtzeitig wahrnehmbar ist und in genügendem Messabstand zum Messpunkt aufgestellt worden ist. Die Verwaltungsbehörde hat diese bereits zur Akte gereicht.

    III.

    Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 62 Abs. 2 OWiG, 473 Abs. 3 StPO.

    IV.

    Diese Entscheidung ist unanfechtbar, § 62 Abs. 2 Satz 3 OWiG.