21.01.2022 · IWW-Abrufnummer 227074
Bayerisches Oberstes Landesgericht: Beschluss vom 13.12.2021 – 201 ObOWi 1543/21
1. Nicht jede Missachtung eines Wechsellichtzeichens trotz bereits länger als eine Sekunde andauernder Rotphase stellt eine typische, die Verhängung der erhöhten Geldbuße sowie eines Fahrverbotes nach Nr. 132.3 BKat indizierende Pflichtverletzung dar. Insbesondere im Falle einer einspurigen Verkehrsführung an einer Baustellenampel kann die Indizwirkung des Regelbeispiels entkräftet sein.
2. In einem solchen Fall sind im tatrichterlichen Urteil nähere Darlegungen zur Tatörtlichkeit sowie zur konkreten Verkehrssituation erforderlich, die die Beurteilung erlauben, ob das Gewicht der Pflichtverletzung dem Typus des Regelfalles entspricht (Anschluss u.a. an BayObLG, Beschl. v. 16.10.1996 – 1 ObOWi 611/96 = NStZ-RR 1997 = NZV 1997/ 242 = DAR 1997, 28; OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.06.2003 – 1 Ss [OWi] 97 B/03 = ZfSch 2003, 471; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 08.03.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 107/18 = ZfSch 2018, 290).
I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts vom 09.08.2021 im Rechtsfolgenausspruch sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben; jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.
II. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.
III. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen wegen (einer am 07.12.2020 um 13.15 Uhr erfolgten) Missachtung des Rotlichts einer Lichtzeichenanlage, wobei die Rotphase bereits länger als eine Sekunde andauerte, zu einer Geldbuße von 200 Euro und verhängte gegen ihn wegen eines groben Pflichtenverstoßes ein mit der Vollstreckungserleichterung gemäß § 25 Abs. 2a StVG versehenes Fahrverbot für die Dauer eines Monats. Tatörtlichkeit war nach den Feststellungen des Amtsgerichts die A.-Straße innerorts in B., welche aufgrund von Bauarbeiten nur auf einem Fahrstreifen für beide Richtungen befahrbar war. Der Verkehr wurde mit einer Baustellenampelanlage geregelt. Bei der Lichtzeichenanlage handelte es sich um eine Baustellenampel mit dazugehöriger „Countdown-Uhr“. Der Betroffene hielt zunächst auf Höhe der Hausnummer 26 als erstes Fahrzeug in der Warteschlange an der rot zeigenden Ampel an. Sodann fuhr der Betroffene über die Ampel, obwohl die Rotphase (Gesamtdauer 2-10 Minuten) noch 6 Sekunden Rotlicht anzeigte. Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Mit Antragsschrift vom 12.11.2021 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 09.08.2021 als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde hat, soweit sie sich gegen den Rechtsfolgenausspruch richtet, auf die Sachrüge - jedenfalls vorläufigen - Erfolg. Im Übrigen ist sie unbegründet.
1. Hinsichtlich des Schuldspruchs hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Rechtsbeschwerde jedenfalls keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Betroffenen ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG).
a) Die im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen insbesondere auch zur Dauer der Rotlichtphase, an die der Senat im Rahmen der Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge gebunden ist, tragen die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes in objektiver Hinsicht. Dass das Amtsgericht von Fahrlässigkeit ausgegangen ist, wiewohl die Möglichkeit vorsätzlicher Tatbegehung hier nahe liegt, beschwert den Betroffenen jedenfalls nicht.
b) Im Übrigen kann der Senat offen lassen, ob das Amtsgericht vorliegend davon absehen durfte, die von der Verteidigung benannte Gegenzeugin zu vernehmen, welche die Aussage des einzigen Belastungszeugen entkräften sollte (instruktiv hierzu OLG Hamm NStZ 1984, 462). Insoweit fehlt es bereits - wie die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 12.11.2021 zutreffend ausführt - an einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge der Verletzung des Beweisantragsrechts bzw. der gerichtlichen Aufklärungspflicht.
2. Indes begegnet der Rechtsfolgenausspruch durchgreifenden rechtlichen Bedenken, soweit das Amtsgericht für die festgestellte Missachtung des Rotlichts einer Baustellenampel bei einer schon länger als eine Sekunde andauernden Rotlichtphase die nach §§ 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., 26a Abs. 1 Nr 3, Abs. 2 StVG i.V.m. §§ 1,3,4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV (2013) i.V.m. lfd.Nr. 132.3 BKat vorgesehene Regelahndung einer Geldbuße von 200 Euro sowie eines einmonatigen Fahrverbotes zur Anwendung gebracht hat. Jedenfalls die bisher getroffenen Feststellungen sind lückenhaft und rechtfertigen nicht die Annahme eines Regelfalles nach lfd.Nr. 132.3 BKat.
a) Der Verordnungsgeber hat eine schärfere Ahndung der Missachtung eines Wechsellichtzeichens trotz bereits länger als eine Sekunde andauernder Rotphase im Hinblick darauf für geboten erachtet, dass dieses Verhalten als besonders gefährlich anzusehen ist, weil sich der Querverkehr nach dieser Zeit bereits in dem Bereich der durch Rotlicht gesperrten Fahrbahn befinden kann (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 08.03.2018 - 1 OWi 2 Ss Bs 107/18 = ZfSch 2018, 290; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.09.1994 - 5 Ss (OWi) 299/94 = NZV 1995, 35; vgl. auch BGHSt 45, 134). Indes beschränkt sich der Anwendungsbereich der Bestimmung nicht auf den Schutz des Querverkehrs; auch wenn das Wechsellichtzeichen allein dem Schutz des Gegen- oder Diagonalverkehrs dient, sind Verkehrssituationen denkbar, in denen es durch die Missachtung des Rotlichts zur zumindest abstrakten Gefährdung bevorrechtigter Verkehrsteilnehmer kommen kann, die auf das eigene Grünlicht vertrauen (BayObLG, Beschl. v. 16.10.1996 - 1 ObOWi 611/96 = NZV 1997, 2423; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.07.1999 -- 2a Ss (OWi) 197/99 = NStZ-RR 1999, 376 = NZV 2000, 89 = VRS 98, 47 = VerkMitt 2000, Nr. 30; OLG Zweibrücken a.a.O.). Ein Regelfall ist danach nur bei Vorliegen gewöhnlicher Tatumstände (§ 1 Abs. 2 Satz 2 BKatV) und nur dann gegeben, wenn die Tatausführung allgemein üblicher Begehungsweise entspricht und weder subjektiv noch objektiv Besonderheiten aufweist. Daher sind jeweils im tatrichterlichen Urteil - wie auch sonst - Feststellungen zu treffen, die die Beurteilung ermöglichen, ob das Gewicht des Rotlichtverstoßes durch die von dem Verordnungsgeber gesehenen gewöhnlichen Tatumstände bestimmt wird, er also dem Typus des Regelfalles entspricht, was etwa dann nicht der Fall wäre, wenn aufgrund konkreter Gegebenheiten eine auch nur abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden kann (BayObLG a.a.O. unter Hinweis auf BayObLG, Beschl. v. 20.10.1995 - 2 ObOWi 672/95 = DAR 1996, 31). In einem solchen Fall kann, wenn nicht andere gewichtige Aspekte vorliegen, die Indizwirkung des Regelbeispiels entkräftet sein. Sind mithin im Einzelfall Umstände ersichtlich, die einer auch nur abstrakten Gefährdung anderer Verkehrssteilnehmer entgegenstehen können, hat der Tatrichter nähere Feststellungen zu treffen, die dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung ermöglichen, ob die Annahme eines typischen qualifizierten Rotlichtverstoßes dennoch gerechtfertigt erscheint (OLG Saarbrücken a.a.O. mit Hinweis auf BayObLG, Beschl. v. 16.10.1996 a.a.O. sowie OLG Dresden, Beschl. v. 02.08.2002 - Ss [OWi] 361/02 bei juris). Ein solcher Umstand, der nähere Feststellungen zu den konkreten örtlichen Gegebenheiten sowie zu sonstigen verkehrsrelevanten Umständen gebietet, ist nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung das Vorliegen einer - wie hier - einspurigen Verkehrsführung an einer Baustellenampel (vgl. nur OLG Zweibrücken a.a.O.; OLG Brandenburg, Beschl. v. 20.06.2003 - 1 Ss [OWi] 97 B/03 = ZfSch 2003, 471; OLG Dresden a.a.O.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.07.1999 a.a.O.; BayObLG, Beschl. v. 30.12.1996 - 2 ObOWi 940/96 = VersR 1997, 1546; OLG Schleswig, Beschl. v. 22.08.1996 - 1 Ss OWi 262/96 = SchlHA 1997, 176; OLG Celle, Beschl. v. 26.01.1996 - 1 Ss (OWi) 312/95 = VerkMitt 1996, Nr. 94 = VRS 91, 306; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 27.09.1994 a.a.O.; OLG Hamm, Beschl. v. 24.05.1994 - 2 Ss OWi 524/94 = NZV 1994, 369; zum atypischen Rotlichtverstoß vgl. auch König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. § 37 StVO Rn. 54 m.w.N. sowie Hühnermann in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. § 37 StVO Rn. 30h, 30l).
b) Gemessen hieran erweisen sich die knappen Feststellungen des Amtsgerichts, die sich auf den Umstand der einspurigen Verkehrsführung an einer Baustellenampel beschränken, als unzureichend, denn sie ermöglichen dem Senat nicht die Nachprüfung, ob das Amtsgericht ohne Rechtsfehler vom Vorliegen eines Regelfalles ausgegangen ist. Um das Gewicht des Rotlichtverstoßes zu verdeutlichen, hätte es vielmehr Feststellungen zur Tatörtlichkeit sowie zur konkreten Verkehrssituation bedurft, etwa zur Länge und Übersichtlichkeit der Baustelle, zur Breite der befahrbaren Spur, zu Ausweichmöglichkeiten, zu einer etwaigen Geschwindigkeitsbeschränkung (BayObLG, Beschl. v. 16.10.1996 a.a.O.), aber auch zur Frage, ob Querverkehr in die Baustelle einfahren konnte, ob sich Gegenverkehr in der Baustelle befand oder vor dieser gewartet hat (OLD Dresden a.a.O.; OLG Hamm, Beschl. v. 24.05.1994 a.a.O.). An derartigen Feststellungen fehlt es vorliegend, sodass die Annahme des Amtsgerichts, hier handele es sich um einen besonders schwerwiegenden Rotlichtverstoß im Sinne einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (§ 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StVG), welcher einen Regelfall i.S.d. Lfd.Nr. 132.3 BKat begründet, einer tragfähigen Grundlage entbehrt und damit rechtsfehlerhaft ist.
III.
Aufgrund der aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mängel ist das angefochtene Urteil auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hin im Rechtsfolgenausspruch sowie in der Kostenentscheidung aufzuheben. Indes bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten. Weitergehende Feststellungen, die zu den bislang getroffenen Feststellungen nicht in Widerspruch stehen, sind möglich und - wie dargelegt - geboten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).
IV.
Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.
Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.