08.02.2024 · IWW-Abrufnummer 239588
Oberlandesgericht Brandenburg: Beschluss vom 18.01.2024 – 2 ORbs 202/23
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Brandenburgisches Oberlandesgericht
Beschluss vom 18. Januar 2024
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Strausberg vom 15. August 2023 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Strausberg zurückverwiesen.
Gründe
I.
1
Das Land Brandenburg ‒ Zentraldienst der Polizei ‒ verhängte gegen den Betroffenen wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften eine Geldbuße in Höhe von 200 €. Den Einspruch des Betroffenen hiergegen hat das Amtsgericht Strausberg durch Urteil vom 15. August 2023 verworfen, weil der Betroffene ohne genügende Entschuldigung zum Termin der Hauptverhandlung nicht erschienen sei. Zur Begründung hat das Amtsgericht wie folgt ausgeführt:2
„Die von den Betroffenen telefonisch am Sitzungstag um 12:00 Uhr angegebenen Gründe vermögen über das Fernbleiben nicht zu entschuldigen, weil sie offensichtlich ein Verschulden des Betroffenen begründen.“3
Gegen dieses Urteil richtet sich der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er neben der Rüge der Verletzung materiellen Rechts unter näherem Vorbringen u.a. ausführt, das Amtsgericht habe sein Entschuldigungsvorbringen unzureichend und rechtsfehlerhaft gewürdigt.4
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.II.
5
Die vom Einzelrichter des Senats zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassene Rechtsbeschwerde hat Erfolg.6
Die zulässig erhobene, den Begründungsanforderungen gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG genügende Verfahrensrüge, das Amtsgericht habe rechtsfehlerhaft und mit unzureichender Würdigung angenommen, das Ausbleiben des Betroffenen sei nicht genügend entschuldigt, dringt durch.7
1. Nach dem Rügevorbringen hat der Betroffene am Sitzungstag um 12:00 Uhr zu Beginn der Hauptverhandlung telefonisch mitgeteilt, „dass er sich im Gericht geirrt“ habe und „zum Gericht nach („Ort 01“) in die („Adresse 01“) gefahren“ sei. Ein diesbezüglicher Telefonvermerk der Verwalterin der Geschäftsstelle ist im Termin bekannt gegeben worden. Der Betroffene habe auch „angeboten, noch zum Gericht zu fahren“ und damit seine Absicht, an der Verhandlung teilzunehmen, telefonisch bekundet. Ihm hätte deshalb die Möglichkeit gegeben werden müssen, zu einer späteren Terminsstunde zu erscheinen. Das Amtsgericht habe rechtsfehlerhaft konkrete Feststellungen zur Frage der genügenden Entschuldigung nicht getroffen.8
2. Das angefochtene Urteil unterliegt bereits deshalb der Aufhebung, weil sich das Amtsgericht in den Urteilsgründen mit dem Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen nicht konkret und aus sich heraus verständlich befasst hat und dies dem Rechtsbeschwerdegericht keine hinreichende Überprüfung erlaubt, ob das Tatgericht rechtsfehlerfrei angenommen hat, dass der Betroffene ohne genügende Entschuldigung zum Termin der Hauptverhandlung nicht erschienen war.9
a) Urteile, durch die ein Einspruch des Betroffenen gemäß § 74 Abs. 2 Satz 1 OWiG verworfen wird, sind so zu begründen, dass das Rechtsbeschwerdegericht die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung nachprüfen kann. Hat der Betroffene Entschuldigungsgründe für sein Nichterscheinen vor dem Hauptverhandlungstermin mitgeteilt, oder bestehen sonst Anhaltspunkte für ein entschuldigtes Ausbleiben des Betroffenen, so muss sich das Urteil mit ihnen auseinandersetzen und erkennen lassen, warum das Gericht den vorgebrachten bzw. ersichtlichen Gründen die Anerkennung als ausreichende Entschuldigung versagt hat (ständige Rechtsprechung der Senate des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, vgl. Beschl. v. 1. Dezember 2011 ‒ 1 Ss [OWi] 207/11; Beschl. v. 21. März 2017 ‒ [2 B] 53 Ss-OWi 124/17 [68/17]; Beschl. v. 20. Februar 2007 - 1 Ss [OWi] 45/07; Beschl. v. 30. Mai 2018 ‒ [2 B] 53 Ss-OWi 164/18 [144/18]; vgl. auch OLG Düsseldorf VRS 74, 284, 285; BayObLG, Beschl. v. 5. Januar 1999 ‒ 2 ObOWi 700/98, NStZ-RR 1999, 187; Göhler/Seitz/Bauer, OWiG 18. Aufl. § 74 Rn. 34, 35). Da das Rechtsbeschwerdegericht an die tatsächlichen Feststellung des angefochtenen Urteils gebunden ist und diese nicht im Wege des Freibeweises nachprüfen oder ergänzen darf (OLG Köln, Beschl. v. 20. Oktober 1998 ‒ Ss 484/98 B, NZV 1999, 261, 262), ist eine tragfähige, in der Rechtsbeschwerdeinstanz nachprüfbare Auseinandersetzung mit dem Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen unabdingbar; das Amtsgericht ist deshalb bei der Verwerfung des Einspruchs wegen Ausbleibens des Betroffenen in der Hauptverhandlung gehalten, die Umstände, die nach Auffassung des Betroffenen sein Fernbleiben im Hauptverhandlungstermin entschuldigen sollen, so vollständig und ausführlich mitzuteilen, dass dem Rechtsbeschwerdegericht die Prüfung, ob zutreffend von einer nicht genügenden Entschuldigung ausgegangen worden ist, allein aufgrund der Urteilsgründe möglich ist (vgl. OLG Hamm VRS 93, 450, 452).10
b) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Weder wird das Entschuldigungsvorbringen des Betroffenen nachvollziehbar mitgeteilt noch ausgeführt, weshalb eine genügende Entschuldigung nicht vorliege. Die Würdigung des Amtsgerichts ist nicht aus sich heraus hinreichend verständlich dargestellt und lässt eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht in ausreichendem Maße zu.11
3. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass das Urteil auf der unzureichenden tatgerichtlichen Würdigung des Entschuldigungsvorbringens beruht. Dies wäre lediglich dann nicht der Fall, wenn die vom Betroffenen vorgebrachten Gründe von vornherein und ohne weiteres erkennbar nicht geeignet waren, sein Ausbleiben in der Hauptverhandlung zu entschuldigen (BayObLG, Beschl. v. 5. Januar 1999 ‒ 2 ObOWi 700/98. NStZ-RR 1999, 187; OLG Oldenburg, Beschl. v. 31. August 2010 ‒ 2 SsRs 170/10, NZV 2011, 96; Göhler/Seitz/Bauer, aaO. § 74 Rdnr. 48). So verhält es sich hier jedoch nicht.12
Das in § 74 Abs. 2 OWiG geregelte Verfahren der Verwerfung des Einspruchs ohne Verhandlung zur Sache beruht auf der Vermutung, dass derjenige sein Rechtsmittel nicht weiterverfolgt wissen will, der sich ohne ausreichende Entschuldigung zur Verhandlung nicht einfindet (Karlsruher Kommentar-OWiG/Senge, 5. Aufl. § 74 Rdnr. 19). Diese Vermutungswirkung ist u.a. dann entkräftet, wenn der Betroffene noch vor oder im Termin mitteilt, nicht rechtzeitig erscheinen zu können und sein Erscheinen in angemessener Zeit ankündigt (KG, Beschl. v. 10. März 2022 ‒ 3 Ws [B] 56/22, zit. nach Juris). Das Gericht ist in diesem Fall gehalten, einen längeren Zeitraum zuzuwarten; nur wenn dem Gericht ein weiteres Zuwarten wegen anstehender weiterer Termine ‒ auch im Interesse anderer Verfahrensbeteiligter ‒ nicht zumutbar ist, gebührt dem Gebot der termingerechten Durchführung der Hauptverhandlung der Vorrang (KG, Beschl. v. 4. Juli 2012 ‒ 3 Ws [B] 359/12, zit. nach Juris). Die Wartepflicht besteht unabhängig davon, ob den Betroffenen an der Verspätung ein Verschulden trifft, es sei denn ihm fällt grobe Fahrlässigkeit oder Mutwillen zur Last (KG aaO., mwN.).13
Gemessen daran ist das Vorbringen des Betroffenen nicht von vornherein ungeeignet, eine genügende Entschuldigung und eine Verpflichtung des Amtsgerichts zu begründen, ihn aufgrund der bestehenden Fürsorgepflicht die Möglichkeit einzuräumen, durch ein verspätetes Erscheinen die Folgen einer Säumnis abzuwenden. Das Tatgericht wäre insofern gehalten gewesen, zu den zugrunde liegenden Einzelheiten ‒ u.a. die Bereitschaft und der zu erwartende Zeitpunkt eines nachträglichen Erscheinens des Betroffenen, gegebenenfalls nach Rücksprache unter der von ihm angegebenen Mobilfunknummer sowie anstehende weitere Termine am Sitzungstag ‒ konkrete Feststellungen zu treffen und diese unter Berücksichtigung des Grundsatzes des fairen Verfahrens in den Urteilsgründen näher zu würdigen.