18.06.2024 · IWW-Abrufnummer 242082
Oberlandesgericht Naumburg: Beschluss vom 06.05.2024 – 1 ORs 38/24
1. Ein allgemein zugänglicher privater Parkplatz gehört zum räumlichen Bereich des öffentlichen Straßenverkehrs.
2. Nicht jeder Unfall ist schon deshalb ein "Unfall im Straßenverkehr" im Sinne des § 142 StGB, weil er sich im öffentlichen Verkehrsraum ereignet. Vielmehr setzt die Annahme eines "Verkehrsunfalls" nach dem Schutzzweck der Norm des § 142 StGB einen straßenverkehrsspezifischen Gefahrenzusammenhang voraus. In dem „Verkehrsunfall” müssen sich gerade die typischen Gefahren des Straßenverkehrs verwirklicht haben.
3. Der erforderliche straßenverkehrsspezifische Zusammenhang ist auch dann gegeben ist, wenn sich die Gefahr verwirklicht hat, die dadurch entsteht, dass sich ein Fußgänger auf einem Supermarktparkplatz im räumlichen Bereich der dort abgestellten Kraftfahrzeuge bewegt, etwa um zu seinem Fahrzeug zu gelangen.
Beschluss
1 ORs 38/24
In dem Strafverfahren
gegen pp.
wegen gefährlicher Körperverletzung u. a.
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Naumburg am 6. Mai 2024 durch den Richter am Oberlandesgericht, den Richter am Oberlandesgericht und die Richterin am Landgericht gemäß § 349 Abs. 2, Abs. 4 StPO einstimmig beschlossen:
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Halberstadt verurteilte den Angeklagten mit Urteil vom 8. September 2022 wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 35,00 EUR.
Die hiergegen gerichtete Berufung des Angeklagten verwarf das Landgericht Magdeburg mit Urteil vom 16. Januar 2024.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Revision des Angeklagten, die mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet wird.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision des Angeklagten im Rechtsfolgenausspruch und hinsichtlich der Feststellungen zur Schadenshöhe aufzuheben und im Übrigen als unbegründet zu verwerfen.
II.
1. Die Revision hat einen ‒ zumindest vorläufigen - Teilerfolg. Auf die erhobene Verfahrensrüge einer Verletzung des § 261 StPO (Inbegriffsrüge) führt sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils im Strafausspruch.
Die Inbegriffsrüge, mit welcher der Angeklagte beanstandet, dass die im angefochtenen Urteil enthaltenen Feststellungen zur Schadenshöhe nicht durch die in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittel gewonnen worden sind, ist in zulässiger Weise erhoben. Sie ist auch begründet, da das Gericht seine Überzeugung von den entstandenen Reparaturkosten unter Verstoß gegen § 261 StPO gewonnen hat, wonach die Überzeugungsbildung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfen ist. Es ist nicht ersichtlich, worauf das Gericht seine Überzeugung, durch die vom Angeklagten verursachten Beschädigungen am Pkw des Geschädigten seien Reparaturkosten in Höhe von 1.041,89 EUR entstanden, stützt. Die Angabe eines bis auf den Cent exakten Betrags legt nahe, dass dieser einer Reparaturkostenrechnung, einem Kostenvoranschlag oder einer ähnlichen Urkunde entnommen wurde. Derartiges ist in der Hauptverhandlung jedoch nicht verlesen worden. Die entsprechende Angabe kann auch nicht im Wege eines Vorhalts durch die Aussage eines Zeugen oder Sachverständigen in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein, da weder Zeugen noch Sachverständige vernommen wurden. Nach den Umständen des Falls erscheint es auch ausgeschlossen, dass die Angabe zur Höhe der Reparaturkosten im Wege eines Vorhaltes an den insoweit nicht sachkundigen und in keinem näheren Verhältnis zum Geschädigten stehenden Angeklagten eingeführt worden ist. Die in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunden verhalten sich zu der Höhe der Reparaturkosten nicht. Auch das in der Berufungshauptverhandlung verlesene Urteil des Amtsgerichts kann die getroffenen Feststellungen nicht begründen, weil dessen Verlesung nicht Teil der Beweisaufnahme, sondern wesentlicher Bestandteil der Berichterstattung nach § 324 StPO ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 4. März 2020 ‒ (2) 121 Ss 32/20 (10/20) ‒, Rn. 11, 13, zitiert nach juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Auflage, § 324 Rn. 5).
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Urteil auf diesem Rechtsfehler beruht. Zwar hat das Landgericht die Schadenshöhe als „eher niedrig“ angesehen und sie bei der Strafzumessung zu Gunsten des Angeklagten gewertet. Jedoch ist nicht auszuschließen, dass das Landgericht bei einer deutlich niedrigeren Schadenshöhe eine noch niedrigere Strafe verhängt hätte.
Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Urteils in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang. Die Sache ist gemäß §§ 353, 354 Abs. 2 S. 1 StPO an eine andere Kammer des Landgerichts Magdeburg zurückzuverweisen.
2. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen tragen die Verurteilung des Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort nach § 142 Abs. 1 StGB.
Nach den Feststellungen des Landgerichts stellte der Angeklagte am Tattag seinen Pkw auf dem Parkplatz eines Supermarktes ab. Anschließend holte er einen Einkaufswagen und begab sich zurück zu seinem Fahrzeug. Da sich dort der Hund des Angeklagten losmachte, ließ der Angeklagte den Griff des Einkaufswagens los, um den Hund wieder anzuleinen. Der Einkaufswagen geriet daraufhin auf dem leicht abschüssigen Parkplatz ins Rollen, drehte sich einmal um die Achse und stieß mit dem Griff voran gegen den Pkw des Geschädigten, an dem eine Schramme und eine deutlich sichtbare Eindellung entstanden. Obwohl der Angeklagte den Anstoß bemerkte, begab er sich den Markt, um einzukaufen.
a) Soweit die Revision unter Hinweis auf die Entscheidungen des Amtsgerichts Dortmund (Beschluss vom 1. September 2020 ‒ 723 Cs - 268 Js 1007/20 - 276/20 ‒, zitiert nach juris) und des Landgerichts Düsseldorf (Urteil vom 6. Mai 2011 ‒ 29 Ns 3/11 ‒, zitiert nach juris) die Auffassung vertritt, bei der Sachlage liege bereits kein Unfall im Straßenverkehr im Sinne des § 142 StGB vor, da dafür Voraussetzung sei, dass der Vorgang im Zusammenhang mit der Fortbewegung eines Fahrzeugs stehe, folgt der Senat dem nicht. Nach Ansicht des Senats liegt vielmehr auch in der hier zu beurteilenden Konstellation ein Unfall im Straßenverkehr vor.
Zum Zeitpunkt des Unfalls haben sowohl der Angeklagte als auch der Eigentümer des geschädigten Fahrzeugs am öffentlichen Straßenverkehr teilgenommen. Ein ‒ wie hier ‒ allgemein zugänglicher privater Parkplatz gehört zum räumlichen Bereich des öffentlichen Straßenverkehrs (ständige Rechtsprechung, siehe BGH, Beschluss vom 22. Mai 2017 ‒ 4 StR 165/17 ‒, zitiert nach juris m. w. N.). Auch derjenige, der sein Fahrzeug auf einer öffentlichen Fläche abstellt, ist während der gesamten Dauer und auch bei Abwesenheit Verkehrsteilnehmer (Türpe in Beck’scher Onlinekommentar zum StVR, 22. Edition, § 1 StVO Rn.14). Der Angeklagte hat nach dem Aussteigen aus seinem Fahrzeug zudem auch zu Fuß am Straßenverkehr teilgenommen, da Verkehrsteilnehmer ist, wer sich als Fußgänger im öffentlichen Verkehrsraum bewegt (vgl. Türpe in Beck’scher Onlinekommentar zum StVR a. a. O; Bender in Münchener Kommentar zum StVR, § 1 StVO Rn. 17).
Allerdings ist nicht jeder Unfall schon deshalb ein "Unfall im Straßenverkehr" im Sinne des § 142 StGB, weil er sich im öffentlichen Verkehrsraum ereignet. Vielmehr setzt die Annahme eines "Verkehrsunfalls" nach dem Schutzzweck der Norm des § 142 StGB einen straßenverkehrsspezifischen Gefahrenzusammenhang voraus. In dem „Verkehrsunfall” müssen sich gerade die typischen Gefahren des Straßenverkehrs verwirklicht haben (BGH, Urteil vom 15. November 2001 ‒ 4 StR 233/01 ‒, BGHSt 47, 158-160, Rn. 7; OLG Köln, Urteil vom 19. Juli 2011 ‒ III-1 RVs 138/11 ‒, Rn. 20, jeweils zitiert nach juris; Fischer, StGB, 71. Auflage, § 142 Rn. 9). Eine solche Reduzierung des Tatbestandes ist erforderlich, um schädigende Geschehensabläufe von der Bewertung als „Verkehrsunfall“ auszuschließen, die völlig außerhalb des Straßenverkehrs liegen (OLG Köln a. a. O.).
Nach Ansicht des Senats liegt hier ein straßenspezifischer Zusammenhang vor, auch wenn der Unfall nicht im Zusammenhang mit der Fortbewegung eines Fahrzeugs steht.
Es trifft zwar zu, dass der Gesetzgeber es gerade aufgrund der Entwicklung des Verkehrs, insbesondere der Verwendung schneller Fahrzeuge und der damit einhergehenden Möglichkeiten, sich bei einem Verkehrsunfall seiner zivilrechtlichen Verantwortlichkeit durch Flucht zu entziehen, für berechtigt gehalten hat, das Feststellungsinteresse eines im Straßenverkehr Geschädigten ‒ anders als das Feststellungsinteresse eines allgemein, außerhalb des Straßenverkehrs Geschädigten ‒ strafrechtlich zu schützen (BT-Drucks. 7/2434, S. 4f). Auch lässt der Wortlaut des § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB, der den Umfang der erforderlichen Feststellungen auf die Feststellungen zum Fahrzeug des Unfallbeteiligten erstreckt, darauf schließen, dass der Gesetzgeber die Vorstellung hatte, dass regelmäßig Fahrzeuge an den Unfällen im Straßenverkehr nach § 142 StGB beteiligt sind.
Es muss aber auch bedacht werden, dass der Gesetzgeber den Täterkreis des unerlaubten Entfernens vom Unfallort auf alle Verkehrsteilnehmer, nicht nur auf Fahrzeugführer, erstreckt hat (vgl. dazu auch BGH, Beschluss vom 3. Februar 1960 ‒ 4 StR 562/59 ‒, BGHSt 14, 116-123, Rn. 10, Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 13. August 1979 ‒ RReg 1 St 216/79 ‒, Rn. 5, jeweils zitiert nach juris), worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht hinweist. Nach dem ältesten Vorläufer der heutigen Bestimmung, dem § 22 des Gesetzes über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3. Mai 1909 (RGBl. 1909 S. 437) konnte nur ein Kraftfahrzeugführer "Unfallflucht" begehen. Durch die Verordnung zur Änderung der Strafvorschriften über fahrlässige Tötung, Körperverletzung und Flucht bei Verkehrsunfällen vom 2.4.1940 (RGBl I S 606) wurde eine Bestimmung über die Unfallflucht als § 139a dem Strafgesetzbuch eingefügt. Hierbei wurden unter anderem die Worte "Der Führer eines Kraftfahrzeugs" durch das Wort "Wer" ersetzt. Zur Begründung wurde in der amtlichen Begründung (DJ 1940, 508, 509) ausgeführt: „§ 22 des Gesetzes über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen vom 3. Mai 1909 (RGBl. S 437) bedrohte in seinem ersten Absatz den Fahrer eines Kraftfahrzeugs mit Strafe, der es nach einem Unfall unternimmt, sich der Feststellung des Fahrzeugs und seiner Person durch die Flucht zu entziehen. Die Erfahrung hat gezeigt, daß diese Vorschrift den Bedürfnissen des Straßenverkehrs nicht genügt. Zunächst ist die Beschränkung des Täterkreises auf den Kraftfahrzeugführer nicht mehr am Platze; der Insasse des Kraftwagens, der etwa dem Fahrer Weisungen erteilt hat, der Radfahrer oder Fußgänger, überhaupt jeder Verkehrsteilnehmer muß grundsätzlich unter die Vorschrift fallen, wenn nach den Umständen in Frage kommt, daß sein Verhalten zur Verursachung des Unfalls beigetragen hat ...". Dies hat sich auch durch die Neufassung des § 142 StGB nicht geändert, wonach das Delikt durch einen „Unfallbeteiligten“ begangen werden kann. In § 142 Abs. 5 StPO wird der Unfallbeteiligte definiert als „jeder“, dessen Verhalten nach den Umständen zur Verursachung des Unfalls beigetragen haben kann. Hieraus ergibt sich für den Senat, dass auch Unfälle, in denen sich die durch die Teilnahme eines Fußgängers am Straßenverkehr typischerweise ausgehende Gefahr verwirklicht, vom Schutzzweck der Norm erfasst werden sollen.
Weiterhin kann auch ein Unfall außerhalb des fließenden Verkehrs, also ‒ wie hier ‒ im ruhenden Verkehr, ein „Unfall im Straßenverkehr“ im Sinne des § 142 StGB sein, wie sich bereits aus der Vorschrift des § 142 Abs. 4 StGB ergibt.
Aus dem Vorgenannten folgt für den Senat, im Übereinstimmung mit der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung (OLG Düsseldorf, Urteil vom 7. November 2011 ‒ III-1 RVs 62/11 ‒, Rn. 6, OLG Nürnberg, Beschluss vom 26. Oktober 2010 ‒ 2 St OLG Ss 147/10 ‒, Rn. 13, KG Berlin, Beschluss vom 3. August 1998 ‒ (3) 1 Ss 114/98 (73/98) ‒, Rn. 4f, jeweils zitiert nach juris; OLG Koblenz, MDR 1993, 366, OLG Stuttgart DAR 1974, 194), dass der erforderliche straßenverkehrsspezifische Zusammenhang auch dann gegeben ist, wenn sich die Gefahr verwirklicht hat, die dadurch entsteht, dass sich ein Fußgänger ‒ wie hier der Angeklagte ‒ auf einem Supermarktparkplatz im räumlichen Bereich der dort abgestellten Kraftfahrzeuge bewegt, etwa um zu seinem Fahrzeug zu gelangen. Dabei handelt es sich um eine völlig übliche Nutzung des öffentlichen Verkehrsraums, für die ein derartiger Parkplatz gerade vorgesehen ist (vgl. auch OLG Koblenz MDR 1993, 366). Auch das Mitsichführen eines Einkaufswagens durch den Fußgänger stellt in diesem Zusammenhang einen üblichen Verkehrsvorgang dar. Schäden, die der Fußgänger in Folge des Mitsichführens des Einkaufswagens verursacht, können vor diesem Hintergrund nicht als verkehrsfremd gewertet werden. In ihnen verwirklicht sich vielmehr die typische Gefahr der Verkehrsteilnahme des Fußgängers an einem solchen Ort. Dies gilt nach Ansicht des Senats nicht nur, wenn der Fußgänger mit dem Einkaufswagen direkt an einen auf dem Parkplatz abgestellten Pkw stößt, sondern auch, wenn ihm der der Einkaufswagen, wie hier, entgleitet und einen in der Nähe befindlichen Pkw touchiert, da auch im letzteren Fall ein ursächlicher Zusammenhang zur Teilnahme des Fußgängers am Straßenverkehr besteht (vgl. OLG Koblenz MDR 1993, 366). Ein Unfall im Straßenverkehr scheidet in diesem Fall nach Ansicht des Senats nicht deswegen aus, weil die schließlich unfallursächliche Bewegung des Einkaufswagens nicht mehr willensgesteuert war. Eine willensgesteuerte Bewegung als Unfallursache ist entgegen der Annahme des Amtsgerichts Dortmund a. a. O. keine zwingende Voraussetzung für einen Unfall im Straßenverkehr. So wäre ein solcher auch dann anzunehmen, wenn z. B. beim
Halten an einer Verkehrsampel an einer abschüssigen Straße der Anhänger des vorderen Pkw versehentlich gelöst wird und gegen das hintere Fahrzeug prallt, oder wenn ein abgestellter Pkw an einer abschüssigen Straße wegrollt und ein anderes Fahrzeug beschädigt (so auch Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 22. Juni 2004 ‒ 1 Ss 70/03 ‒, Rn. 12, zitiert nach juris).
b) Dass die Höhe der durch den Unfall verursachten Reparaturkosten verfahrensfehlerhaft festgestellt wurde, wirkt sich auf den Schuldspruch nicht aus. Der Tatbestand wird lediglich durch einen völlig belanglosen Schaden ausgeschlossen (Fischer, StGB, 71. Auflage, § 142 Rn. 11). Sachschäden werden als völlig belanglos angesehen, wenn Schadensersatzansprüche üblicherweise nicht gestellt werden (Fischer a. a. O.). Das Landgericht hat festgestellt, dass am Fahrzeug des Geschädigten eine Schramme und eine deutlich sichtbare Eindellung entstanden sind. Bei derartigen Schäden an einem Pkw wird aber nicht üblicherweise auf die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen verzichtet.