· Fachbeitrag · Fahrverbot
Aktuelle Rechtsprechung zum Absehen vom Fahrverbot bei einem „Augenblicksversagen“
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a.D., Münster/Augsburg
| Die Anordnung eines Fahrverbots trifft den Betroffenen i.d.R. mehr als die Verhängung einer Geldbuße. Deshalb ist es Aufgabe des Verteidigers, die Festsetzung eines Fahrverbots nach Möglichkeit zu verhindern. Unsere Rechtsprechungsübersicht gibt einen Überblick. |
Rechtsprechungsübersicht / Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts | ||
Umstände des Einzelfalls | Augenblicksversagen: ja oder nein? | Fundstelle |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts. | Ja, aber nur, wenn der Fahrer das Ortseingangsschild übersehen hat und die geschlossene Ortschaft als solche nicht erkennen konnte. | KG DAR 01, 413; OLG Celle NZV 98, 254; OLG Dresden VRS 109, 57; AG Frankfurt a.M. NZV 07, 379 |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, nachts, Ortseingangsschild übersehen. | Nein, wenn der Betroffene aufgrund der Art der Straßenbeleuchtung mit einer geschlossenen Ortschaft hätte rechnen müssen. | BayObLG |
Übersehen der Anordnung einer Tempo-30-Zone und Befahren mit 69 km/h. | Nein, da die innerorts an sich gültige Geschwindigkeit von 50 km/h deutlich überschritten wird. | KG |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, der Betroffene wohnt in der Nähe des Tatorts oder befährt die Strecke regelmäßig. | Nein. | OLG Köln NZV 98, 164; OLG Hamm VA 06, 138 |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, die bei einer Geschwindigkeitsmessung grds. einzuhaltende Mindestentfernung von 200 m zu Beginn und Ende einer Geschwindigkeitsbeschränkung wird nicht eingehalten. | Grds. ja, aber: nein, wenn die Mindestentfernung aus sachlichem Grund (Gefährdung von Verkehrsteilnehmern durch Geschwindigkeitsüberschreitung im Messbereich) unterschritten wird. | OLG Hamm OLG Köln |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, die Aufstellung der Ortseingangsschilder entspricht nicht den Verwaltungsvorschriften. | Ja. Im Fall des AG Zossen befand sich das die Geschwindigkeit begrenzende Schild nur auf einer Seite der Straße. | BayObLG VRS 95, 130; OLG Düsseldorf VA 02, 95; AG Zossen zfs 01, 234, |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, durch vorfahrtsregelnde Verkehrszeichen wird auf Kreuzungsbereich hingewiesen. | Nein, mit Geschwindigkeitsbeschränkungen muss gerechnet werden. | BayObLG NZV 99, 559 |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts zur Nachtzeit in einem Bereich, der bereits am Tag den Eindruck der Außerörtlichkeit erweckt. | Ja. | AG Meißen zfs 03, 570 |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts um 32 km/h, unmittelbar nach Fahrtbeginn; Fahrerin ist durch gerade Erlebtes emotional „völlig derangiert“. | Ja. | OLG Koblenz 21.6.02, |
Geschwindigkeitsüberschreitung innerorts, auf dem Straßenpflaster befindet sich das Verkehrszeichen „Vorsicht Kinder“. | Nein, da sich dem Betroffenen aufdrängen musste, dass er sich innerhalb einer Geschwindigkeitsbeschränkung befand. | AG Riesa |
Tempo-30-Zone, Verkehrsschild nur einmal aufgestellt, Strecke erstmalig befahren. | Ja. Im Fall des OLG Celle war der Grund für die Geschwindigkeitsbeschränkung erkennbar weggefallen. | OLG Hamm NZV 98, 334; OLG Köln VRS 97, 375; OLG Celle DAR 03, 323 |
Tempo-30-Zone, zugleich mit oder unmittelbar hinter dem Ortseingangsschild. | Ja. | OLG Hamm NStZ-RR 99, 313; DAR 99, 327 |
Tempo-30-Zone ist dem Betroffenen „bewusst“, Verbreiterung der Straße. | Nein, die Verbreiterung der Straße berechtigt nicht zur Annahme, dass die Geschwindigkeitsbeschränkung aufgehoben ist. Das gilt auch, wenn der Betroffene abgelenkt war (Streit seiner Kinder im Pkw). | OLG Hamm VA 01, 73 |
Betroffener überschreitet nicht nur die durch Zeichen 274 beschränkte Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, sondern auch die an sich innerörtlich zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h in erheblicher Weise (hier: um 16 km/h). | Nein. | OLG Dresden |
Betroffener sucht eine Tempo-30-Zone zunächst als Fußgänger auf, um seinen dort von einem Anderen abgestellten Pkw abzuholen. | Grds. ja, sofern sich nicht anderes aufdrängen musste. | BayObLG |
Übersehen von Verkehrsschildern innerorts durch einen Ortsfremden. | Nein, wenn dieser durch zu schnelles Fahren (Überschreiten der an sich innerorts zulässigen Geschwindigkeit um 9 km/h) selbst zu seiner eigenen Unaufmerksamkeit beigetragen hat. | OLG Karlsruhe VA 03, 71 |
Betroffener hat nachts und bei fehlender Straßenbeleuchtung das auf der linken Straßenseite befindliche Ortsausgangsschild passiert und daher geglaubt, er befinde sich außerorts, er hat aber das Ortseingangsschild des nächsten Orts auf gleicher Höhe auf der rechten Seite übersehen und die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. | Ja. | OLG Rostock zfs 04, 480 |
Der Betroffene macht geltend, aufgrund eines Wahrnehmungsfehlers eine innerorts angeordnete Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h übersehen zu haben. | Augenblicksversagen nur ausnahmsweise, wenn der Betroffene zugleich die nach § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO innerhalb geschlossener Ortschaften gültige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h deutlich (hier: um 30 Prozent) überschritten hat (Problem der sog. hypothetischen Höchstgeschwindigkeit). | OLG Bamberg VA 10, 193 |
Der Betroffene passiert vor dem Erreichen eines Parkplatzes ein die Höchstgeschwindigkeit begrenzendes Verkehrszeichen und überschreitet nach dem Parken die zulässige Geschwindigkeit. | Nein, der Betroffene kann sich nicht damit entlasten, dass sich nicht unmittelbar nach der Ausfahrt des Parkplatzes erneut ein entsprechendes Verkehrszeichen befunden und er die angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzung mittlerweile vergessen habe. | OLG Oldenburg |
Rechtsprechungsübersicht / Geschwindigkeitsüberschreitung außerorts | ||
Umstände des Einzelfalls | Augenblicksversagen: ja oder nein? | Fundstelle |
Geschwindigkeitsüberschreitung um 42 km/h außerorts, der Betroffene achtet aus Sorge um seine schwangere, aus seiner Sicht möglicherweise bereits in den Wehen liegende Ehefrau, nicht mit der gebotenen Sorgfalt auf die einzuhaltende Geschwindigkeit. | Ja. | OLG Karlsruhe VA 02, 78 |
Geschwindigkeitsüberschreitung auf Landstraße, Übersehen des Zeichens 274 an Straßeneinmündung. | Nein. | OLG Zweibrücken |
Betroffener befährt außerorts eine dreispurig autobahnmäßig ausgebaute Fahrbahn einer Landstraße mit Mittelleitplanke. | Ja, ein auswärtiger Verkehrsteilnehmer muss außerhalb geschlossener Ortschaften auf einer solchen Straße nicht mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 70 km/h rechnen. | OLG Karlsruhe VA 06, 66 |
Geschwindigkeitsüberschreitung, Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit von 70 km/h um 62 km/h außerorts. | Nein. | OLG Karlsruhe VA 07, 164 |
Rechtsprechungsübersicht / Geschwindigkeitsüberschreitung Autobahn | ||
Umstände des Einzelfalls | Augenblicksversagen: ja oder nein? | Fundstelle |
Geschwindigkeitsüberschreitung um 50 km/h auf BAB. | Trotz Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung ja, da die Höhe allein die grobe Pflichtwidrigkeit nicht begründet. | OLG Zweibrücken |
Betroffener übersieht auf BAB eine sich über die Breite mehrerer Fahrbahnen erstreckende Leuchtanzeige, die flexibel die Geschwindigkeitsanzeige an die gegebenen Verkehrsverhältnisse anpasst. | Nein, wegen der besonderen Auffälligkeit dieser Anzeige. | OLG Hamm VA 06, 16 |
Geschwindigkeitsüberschreitung um 76 Prozent auf BAB, zulässige Geschwindigkeit durch Zeichen 274 auf 60 km/h beschränkt | Nein, und zwar auch nicht, wenn ein sog. Geschwindigkeitstrichter nicht eingerichtet ist bzw. dazu Feststellungen fehlen. | OLG Hamm |
Geschwindigkeitsüberschreitung auf einer BAB, Beschränkung auf 120 km/h eingehalten. | Ja, die Verminderung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit muss sich dem Betroffenen nicht allein aufdrängen, weil er sich einer Anschlussstelle nähert. | OLG Braunschweig OLG Rostock DAR 99, 277 (Geschwindigkeitsüberschreitung wegen instabiler Brücke) |
Verfahren auf BAB und darauf zurückzuführende Geschwindigkeitsüberschreitung nach dreimaligem Übersehen der entsprechenden Begrenzungsschilder. | Nein. | OLG Hamm VA 02, 157 |
Fahren auf BAB und Übersehen der Geschwindigkeitsbegrenzungsschilder wegen eines Gesprächs über geschäftliche Angelegenheiten. | Nein. | OLG Hamm NZV 02, 142, 143 |
Geschwindigkeitsüberschreitung zur Nachtzeit auf einer BAB bei geringem oder nahezu fehlendem Verkehrsaufkommen. | Nein, wenn nicht weitere Umstände hinzukommen. | OLG Bamberg VA 07, 50 |
Rechtsprechungsübersicht / Rotlichtverstoß | ||
Umstände des Einzelfalls | Augenblicksversagen: ja oder nein? | Fundstelle |
Rotlichtverstoß, weil sich der Betroffene von einem wegen eines Defekts liegen gebliebenen Fahrzeug hat ablenken lassen. | Nein. | OLG Karlsruhe VA 07, 14 |
Bei einem Rotlichtverstoß wird versehentlich auf das falsche Lichtzeichen geschaut. | Ja. | AG Frankfurt |
„Frühstarter“ bei einem Rotlichtverstoß. | Nein, allein das reicht nicht zum Absehen vom Fahrverbot, es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, wenn z.B. das Rotlicht gerade nicht dem Schutz des Querverkehrs dient. | OLG Bamberg VA 09, 209; OLG Karlsruhe |
Der Betroffene hat, nachdem er an einer Kreuzung rechts abgebogen ist, an einer kurz nach der Kreuzung befindlichen, Rotlicht zeigenden Fußgängerampel angehalten und einen oder zwei Fußgänger die Straße queren lassen. Dann ist er weitergefahren, obwohl ihm die Fußgängerampel durch Rotlicht (seit mehr als 1 s) noch das Anhalten gebot. | Nein, reicht noch nicht aus, um eine abstrakte Gefährdung zu verneinen. | OLG Hamm VA 10, 49 |
Bei einem Rotlichtverstoß kann es von vornherein nicht zur Gefährdung des Querverkehrs kommen. | Ja. | KG |
Betroffener übersieht Rotlicht der Lichtzeichenanlage, es kann zunächst noch ein bevorrechtigtes Fahrzeug die Kreuzung folgenlos passieren, während der Betroffene mit seinem Fahrzeug sodann erst mit dem nächsten, ebenfalls die Kreuzung von rechts nach links querenden Fahrzeug kollidiert. | Nein. | AG Gelnhausen 30.10.13, 44 OWi - 2255 Js14481/13 |