· Fachbeitrag · Geschwindigkeitsüberschreitung
Rechtsprechungsübersicht zur Geschwindigkeitsüberschreitung (2016‒2020)
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a. D. Münster/Augsburg
| Wir haben die in den letzten Jahren ergangene Rechtsprechung für Sie zusammengestellt. Die Rechtsprechung der OLG im Anschluss an die BVerfG-Entscheidung vom 12.11.20, 2 BvR 1616/18 (dazu VA 21, 33 ) ist noch nicht enthalten. |
Übersicht I / Allgemeine Fragen | ||
Umstände des Einzelfalls | Rechtsfolge | Fundstelle |
Verkehrsüberwachung durch Private. | Die Überwachung des fließenden Verkehrs ist Kernaufgabe des Staates. Er kann die Regelungs- und Sanktionsmacht nicht an „private Dienstleister“ abgeben, damit diese für ihn als „Subunternehmer“ ohne Legitimation hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Verstöße können zu einem Verwertungsverbot führen. | OLG Frankfurt a. M. DAR 17, 386; OLG Frankfurt a. M. VA 20, 29; AG Hanau VA 20, 10 |
Nicht bei der Akte befindliche Messunterlagen und Messdaten, die auch nicht Gegenstand der Urteilsfindung gewesen sind, werden nicht überlassen. | Keine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. | OLG Karlsruhe zfs 20, 171; OLG Stuttgart DAR 19, 696 |
Geschwindigkeitsmessung durch einen Angestellten im öffentlichen Dienst. | Verwertbar. Auf Person und Schulung der Auswertekraft kommt es nicht entscheidungserheblich an. Das Messfoto ist das maßgebliche Beweismittel und nicht die Aussage der Auswertekraft. | OLG Celle VA 19, 104 |
Der Betroffene macht bei einem standardisierten Messverfahren ein Einsichtsrecht in die Quellen der Sachverhaltsfeststellung geltend. | Das Einsichtsrecht steht ihm aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens zu.
Praxistipp | Ein Anspruch des Betroffenen auf Überlassung der gesamten unverschlüsselten Messreihe und der diesbezüglichen Statistikdatei soll sich aber nicht aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens ergeben (OLG Koblenz 17.7.18, 1 OWi 6 SsBs 19/18). | AG Landstuhl DV 19, 121 |
Anspruch auf Herausgabe der Messdaten geltend gemacht. | Der Anspruch besteht nicht. | LG Stuttgart 29.4.19, 7 Qs 27/19 |
Die Geschwindigkeitsmessgeräte speichern aufgrund einer Zulassungsänderung außer dem Falldatensatz keine „Hilfsgrößen“ mehr. | Entsprechende Beiziehungs- und Einsichtsanträge sind gegenstandslos geworden. Auch die Frage, ob das rechtliche Gehör dadurch verletzt wird, dass mögliche weitere Daten aus dem Messgerät dem Betroffenen nicht zugänglich gemacht werden bzw. werden können, hat sich damit erledigt. | OLG Frankfurt a. M. |
Erforderlicher Abstand zwischen Verkehrszeichen und Messstelle in Baden-Württemberg. | Durch Verwaltungsvorschriften ist in Baden-Württemberg seit dem 1.7.15 kein bestimmter Abstand zwischen dem die Geschwindigkeitsbeschränkung anordnenden Verkehrszeichen und der Messstelle mehr vorgeschrieben. Ob dieser Abstand Einfluss auf die Bewertung des Verstoßes hat, ist danach einzelfallabhängig und deshalb keine Grundlage für die Zulassung der Rechtsbeschwerde. | OLG Karlsruhe VA 18, 84 |
Unzulänglichkeiten bei der Beschreibung der Funktionsweise des Geschwindigkeitsmessgeräts in einem Prüfbescheid. | Grundsätzlich kein Einfluss auf die Wirksamkeit einer Bauartzulassung bzw. Konformitätserklärung. Somit wird auch nicht die Verwertbarkeit von Messungen mit einem Gerät der geprüften Art infrage gestellt. | OLG Koblenz 20.11.18, 1 OWi 6 SsRs 179/17 |
Frage des Toleranzwerts. | Zum Toleranzwert bei Ermittlung der Geschwindigkeit mittels Nachfahrens mit einem Motorrad unter Verwendung der Anlage ProViDa 2000 Modular und unter manueller Berechnung der Geschwindigkeit anhand des aufgenommenen Messfilms. | OLG Hamm zfs 20, 472 |
Der Betroffene fährt bei starken Regenfällen auf einer BAB mit einer Geschwindigkeit von 100 km/h. | Das kann zu hoch sein. Bei der angepassten Geschwindigkeit ist auch die Art und der Zustand der Bereifung zu berücksichtigen. Bei 345 Millimeter breiten Reifen mit einer Profiltiefe von nicht mehr als zwei Millimetern kann die angepasste Geschwindigkeit bei 60 km/h liegen. | AG Tübingen 14.2.20, 16 Owi 16 Js 25507/19 |
Messung mit Messgerät ProVida 2000 modular. | Die Frage der Schulung des Messbeamten für das Messgerät ist für die Entscheidung ohne Bedeutung, weil es für die Geschwindigkeitsmessung auf besondere Kenntnisse im Umgang mit diesem Messgerät nicht ankam; allein maßgeblich ist die Schulung mit dem zur Auswertung verwendeten Verfahren ViDistA. | OLG Karlsruhe 26.11.19, 2 Rb 35 Ss 795/19 |
Schulung des Messbeamten liegt über zwölf Jahre zurück. | Unbeachtlich, auch wenn der Hersteller zwischenzeitlich eine neue Gebrauchsanweisung erstellt hat. | KG |
Es wird wegen fehlender Speicherung von Einzelmessdaten ein Beweisverwertungsverbot geltend gemacht. | Der Verwertung muss in der Hauptverhandlung spätestens zu dem in § 257 StPO bezeichneten Zeitpunkt widersprochen werden. | OLG Düsseldorf 21.10.19, 2 RBs 141/19; OLG Karlsruhe 6.11.19, 2 Rb 35 Ss 808/19 |
Der Fahrer eines Lkw bereitet sich während der Fahrt Essen zu und verzehrt es. | Das kann wegen Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit eine Ordnungswidrigkeit sein. | AG Karlsruhe 29.4.19, 6 OWi 440 Js 24131/18 |
Der Betroffene hat bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung keinen Führerschein bei sich. | Die beiden Ordnungswidrigkeiten stehen regelmäßig auch dann im Verhältnis der Tateinheit, wenn sie fahrlässig begangen wurden. | KG VRS 135, 205 |
Minimale Veränderung des Messwerts durch wenige Einzelmessungen. | I. d. R. wird eine relevante Veränderung des Messergebnisses auch ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen ausgeschlossen werden können. | OLG Brandenburg 13.2.19, (1 Z) 53 Ss-OWi 63/19 (43/19) |
Der Betroffene verlässt die Straße, für die eine Geschwindigkeitsbeschränkung gilt, kurzzeitig und fährt dann wieder auf sie auf. | Vorwerfbare Geschwindigkeitsüberschreitung, sofern es sich um eine einheitliche Fahrt handelt und der Betroffene somit Anlass gehabt hätte, sich an die Fortgeltung der Geschwindigkeitsbegrenzung zu erinnern. | OLG Oldenburg 15.1.19, 2 Ss (OWi) 10/19 |
In Fahrtrichtung war kein Verkehrszeichen aufgestellt. | Ein Geschwindigkeitsverstoß kommt auch dann in Betracht, wenn in Fahrtrichtung kein Verkehrszeichen passiert wurde, aber in der anderen Fahrrichtung, die der Betroffene passiert hatte. | OLG Oldenburg 30.4.20, 2 Ss (OWi) 111/20 |
Umstritten ist, ob eine durch Verkehrszeichen angezeigte Geschwindigkeitsbeschränkung gültig ist. | Eine durch Zeichen 274 der Anlage 2 zur StVO angeordnete und mit Zeichen 101 ‒ allgemeine Gefahr ‒ verbundene Geschwindigkeitsbeschränkung gilt grundsätzlich solange, bis sie wieder aufgehoben wird. | OLG Celle VA 19, 30 |
Fortlaufende Geschwindigkeitsüberschreitung. | Bei einem engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang, wie er bei einem Verstoß gegen eine fortdauernde, in demselben Autobahnabschnitt angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzung innerhalb von höchstens einer Minute gegeben ist, liegt ein einziges zusammengehöriges Tun, mithin eine natürliche Handlungseinheit und damit nur eine Tat vor. | OLG Koblenz |
Geschwindigkeitsmessung mit dem Lasermessgerät Riegl LR 90-235/P. | Bei einer Geschwindigkeitsmessung in einer Messentfernung von 312 Meter kann nicht ausgeschlossen werden, dass Lasermessstrahlen auf hinter oder neben dem anvisierten Pkw fahrende Fahrzeuge treffen können, die die Messwertbildung störend beeinflussen. | AG Dortmund DAR 18, 700; AG Dortmund zfs 17, 472 zur Zuordnungssicherheit |
Die Datenzeile auf dem in Augenschein genommenen Messfoto wird nicht gesondert ‒ etwa durch Verlesung ‒ in die Hauptverhandlung eingeführt. | Die Inaugenscheinnahme kann ausnahmsweise dann genügen, wenn sich auch der gedankliche Inhalt der Urkunde durch einen Blick erfassen lässt. | OLG Stuttgart 4.9.18, 6 Rb 16 Ss 469/18 |
Verurteilung aufgrund polizeilicher Geschwindigkeitsschätzung. | Ist ohne weitere tatsächliche Feststellungen nicht ausreichend als Verurteilungsgrundlage. | AG Dortmund VA 18, 67 |
Schrittgeschwindigkeit. | Schrittgeschwindigkeit (Zeichen 325.1) lässt keine höhere Geschwindigkeit als 7 km/h zu. | OLG Karlsruhe VA 18, 84 |
Schrittgeschwindigkeit. | Schrittgeschwindigkeit (Zeichen 325.1) lässt keine höhere Geschwindigkeit als höchstens 10 km/h zu. | OLG Naumburg VA 18, 30; so wohl auch KG 26.2.20, (3 Ws (B) 27/20); OLG Hamm 28.11.19, 1 RBs 220/19) |
Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit mit dem Zusatzzeichen „Montag bis Freitag, 07:00‒17:00 h“ und dem weiteren Schild „Vorsicht Kinder“. | Die Beschränkung gilt auch an gesetzlichen Feiertagen. | OLG Saarbrücken VA 19, 47 |
Das AG folgt der Einlassung des Betroffenen, er habe eines oder mehrere Verkehrszeichen infolge Unachtsamkeit übersehen. | Gegenstand freier richterlicher Beweiswürdigung und durch das Rechtsbeschwerdegericht in aller Regel auch dann hinzunehmen, wenn die Verkehrszeichen gut sichtbar waren. | KG 31.7.20, 3 Ws (B) 174/20 |
Der Betroffene hat in der Hauptverhandlung einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gestellt, den das AG ohne nähere Begründung zurückgewiesen hat. | Unzulässig, der Ablehnungsbeschluss eines unbedingten Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens muss begründet werden. Die Begründung darf nicht den Urteilsgründen überlassen werden. | BayObLG 4.12.20, 201 ObOWi 1471/20, Abruf-Nr. 219723 |
Übersicht II / Urteilsgründe | ||
Umstände des Einzelfalls | Rechtsfolge | Fundstelle |
Nachfahrmessung. | Eine verwertbare Nachfahrmessung setzt konkretere Angaben, u. a. zum Abstand zwischen dem Fahrzeug des Betroffenen und dem verfolgenden Polizeifahrzeug voraus. Es handelt sich nicht um ein standardisiertes Messverfahren. | OLG Hamm VA 17, 103; OLG Oldenburg DAR 19, 586 |
Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mit einem Polizeifahrzeug mit ungeeichtem/unjustiertem Tachometer. | Die Urteilsfeststellungen müssen bei Geschwindigkeiten von 100 km/h und mehr belegen, dass die Messstrecke nicht kürzer als 500 Meter war; bei Geschwindigkeiten über 90 km/h soll der Verfolgungsabstand nicht mehr als 100 Meter betragen. | KG VRS 135, 292 |
Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren (bei schlechten Sichtverhältnissen) zur Nachtzeit. | Im Urteil sind besondere Feststellungen zu den Beleuchtungsverhältnissen sowie zur Länge der Messstrecke erforderlich. | KG VA 18, 20; OLG Hamm VA 18, 66; OLG Oldenburg DV 19, 111; OLG Oldenburg VA 17, 159 |
Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mittels eines (ungeeichten) Navigationsgerätes in einem Privatfahrzeug. | Zur Nachprüfung einer zugunsten des Betroffenen ausreichenden Messtoleranz sind Feststellungen zur Art des Geräts und dessen konkreter Funktionsweise für eine zuverlässige Ermittlung der Geschwindigkeit unabdingbar. | BayObLG 18.6.20, 201 ObOWi 739/20, Abruf-Nr. 218893 |
Allgemeine Vorgaben beachtet? | Der Vorwurf, der Betroffene sei entgegen § 3 Abs. 1 StVO zu schnell gefahren, setzt klare Feststellungen im Urteil darüber voraus, welche Geschwindigkeit den erwiesenen Umständen nach im Hinblick auf Sichtweite, Straßen-, Verkehrs- und Wetterverhältnisse sowie Eigenschaften des Fahrzeugs und die persönlichen Fähigkeiten des Fahrers höchstens zulässig war, und dass der Betroffene diese zulässige Höchstgeschwindigkeit wesentlich überschritten hat. | OLG Koblenz SVR 20, 33 |
Urteil verweist auf Feststellungen des Bußgeldbescheids. | Unzulässig. | OLG Zweibrücken VA 20, 51 |
Beim Messverfahren ProViDa modular werden die berücksichtigten Toleranzen mitgeteilt und festgestellt, dass der Abstand auf der ausgewerteten Strecke von ca. 1.000 m bei ausreichender Sichtbarkeit gleich geblieben ist. | Ausreichend, wenn eine Auswertung analog der auto 2-Messung ‒ Ermittlung der Geschwindigkeit des Polizeifahrzeugs und Übertragung auf das Tatfahrzeug o‒ durchgeführt worden ist. | OLG Oldenburg 23.6.20, 2 Ss (Owi) 158/20 |
Messung mit Provida. | Sicherheitsabschlag von 5 Prozent ausreichend. | KG 7.3.19, 3 Ws (B) 51/19 |
Urteilsformel sagt nicht, ob der Verstoß „innerhalb geschlossener Ortschaften“ oder „außerhalb geschlossener Ortschaften“ begangen wurde. | Unbeachtlich, denn dieser Umstand gehört nicht zur rechtlichen Bezeichnung der Tat, die in die Urteilsformel aufzunehmen ist. | OLG Düsseldorf 1.10.20, 2 RBs 129/20, Abruf-Nr. 218606 |
Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Geschwindigkeitsüberschreitung auf der Autobahn. | Die tatrichterlichen Feststellungen müssen eindeutig und nachvollziehbar ergeben, dass der Betroffene die Geschwindigkeitsbeschränkung kannte und entweder bewusst dagegen verstoßen oder den Verstoß zumindest billigend in Kauf genommen hat.
Praxistipp | Die Tatgerichte dürfen grundsätzlich davon ausgehen, dass ordnungsgemäß aufgestellte, die zulässige Höchstgeschwindigkeit beschränkende Verkehrszeichen von durchschnittlichen Verkehrsteilnehmern bei zumutbarer Aufmerksamkeit anlässlich der Fahrt in aller Regel wahrgenommen werden. Etwas anderes kann gelten, wenn der Betroffene einwendet, er habe das Verkehrsschild übersehen (KG VRS 134, 152; OLG Hamm zfs 19, 353; OLG Köln NZV 19, 155). | OLG Bamberg VA 19 |
Geschwindigkeitsmessung durch Nachfahren mittels eines (ungeeichten) Navigationsgeräts in einem Privatfahrzeug. | Zur Nachprüfung einer zugunsten des Betroffenen ausreichenden Messtoleranz sind tatrichterliche Feststellungen zur Art des Geräts und dessen konkreter Funktionsweise für eine zuverlässige Ermittlung der Geschwindigkeit unabdingbar. | BayObLG 18.6.20, 201 ObOWi 739/20 |
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