Arbeitshilfe / Grundregeln in zehn Punkten |
- 1. Grundkonstellation Kreuzungsunfall. Grundfall der „halben Vorfahrt“ ist die nicht besonders geregelte Vorfahrt an einer schwer einsehbaren Kreuzung, typischerweise innerorts (BGH VersR 77, 917; zur vergleichbaren Situation außerorts BGH NJW 85, 2757). Entscheidend kommt es darauf an, ob der „halb“ Vorfahrtberechtigte die ihm gegenüber bevorrechtigte, von rechts einmündende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen konnte. Nicht entscheidend ist, ob dort tatsächlich jemand herangefahren kam.
- 2. Abwandlung: Unfall an Einmündung. Wenn der Unfall sich nicht auf einer Kreuzung, sondern an einer Einmündung ohne Vorfahrtregelung ereignet hat, kann gleichfalls ein Fall „halber Vorfahrt“ vorliegen, bei dem der Vorfahrtberechtigte mithaftet.
- 3. Wenn der nach der Regel rechts vor links bevorrechtigte Kraftfahrer freie Sicht nach rechts hatte, sind die Grundsätze über die „halbe Vorfahrt“ von vornherein nicht anwendbar.
- 4. Pflichten des „halb“ Vorfahrtberechtigten gegenüber dem Wartepflichtigen:
- Sie ergeben sich nicht, wie oft zu lesen, aus § 8 Abs. 2 StVO („wer die Vorfahrt zu beachten hat, …“). Vielmehr folgen sie aus anderen Vorschriften der StVO, speziell aus § 3 Abs. 1 S. 2 StVO. Hiernach ist die Geschwindigkeit u.a. den Sichtverhältnissen anzupassen. Eine schlecht einsehbare Kreuzung, an der die Vorfahrt nicht besonders geregelt ist, ist stets eine unübersichtliche und gefährliche Straßenstelle. Sie erfordert vom Fahrzeugführer, dass dieser vorsichtig, insbesondere langsam fährt (BGH VersR 77, 917).
- Die für ihn von links kommenden (wartepflichtigen) Verkehrsteilnehmer muss der „halb“ Vorfahrtberechtigte grundsätzlich nicht beobachten (BGH VersR 77, 917; einschränkend LG Saarbrücken NZV 12, 173 - Verstoß gegen § 1 StVO; s.a. OLG Karlsruhe NVZ 12, 229 - Beobachtungsverschulden verneint). Nähert er sich an die Kreuzung an, kann er sein Augenmerk allein auf den ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehr von rechts richten (BGH VersR 77, 917; OLG Düsseldorf SP 11, 318).
- Auch der nur „halb“ Vorfahrtberechtigte darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass sein eigenes Vorfahrtsrecht beachtet wird (BGH VersR 77, 917; NJW 85, 2757; OLG Düsseldorf SP 11, 318).
- Anders liegt es, wenn er nur langsam an die Kreuzung heranfahren darf, weil diese schlecht eingesehen werden kann (BGH VersR 77, 917). Dann ist das Vertrauen des Vorfahrtberechtigten eingeschränkt. Das folgt daraus, dass der Wartepflichtige seinerseits darauf vertraut, dass der von rechts Kommende vorsichtig/langsam fährt.
- 5. Knackpunkt ist die Ansicht des BGH, dass das Gebot, mit angepasster Geschwindigkeit an eine schlecht einsehbare Kreuzung/Einmündung heranzufahren, auch dem Schutz des Wartepflichtigen dient (BGH VersR 77, 917; NJW 85, 2757).
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- 6. Vorfahrt bleibt Vorfahrt: Auch wenn der „halb“ Vorfahrberechtigte gegen das Gebot angepasster Geschwindigkeit (§ 3 Abs. 1 S. 2 StVO) verstößt, verliert er dadurch nicht sein Vorfahrtrecht (KG DAR 02, 66).
- 7. Mithaftung: Steht fest, dass der „halb“ Vorfahrtberechtigte nicht mit angepasster Geschwindigkeit gefahren ist und dies zum Unfall oder seinen Folgen ursächlich beigetragen hat, kommt eine Mithaftung in Betracht, obwohl der Wartepflichtige die Vorfahrt verletzt hat (BGH VersR 77, 917 - im konkreten Fall 25 Prozent).
- 8. Quotierung: Im Anschluss an BGH VersR 77, 917 hat sich der Satz herausgebildet, dass der Vorfahrtberechtigte bei Verletzung der „halben Vorfahrt“ i.d.R. mit 25 Prozent mithaftet (OLG Hamm NZV 03, 377; KG NZV 10, 255). Kann kein schuldhaftes Mitverursachen nachgewiesen werden, ist 100 : 0 die Regelquote (siehe nachfolgende Tabelle).
- 9. Darlegungs- und Beweislast:
- a) Um den Nachweis der Unabwendbarkeit zu führen (§ 17 Abs. 3 StVG), muss der „halb“ Vorfahrtberechtigte vortragen und ggf. beweisen (SV-Gutachten), dass er die für ihn von rechts kommende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen konnte, sodass kein Grund bestanden hat, die Geschwindigkeit herabzusetzen (BGH NJW 85, 2757).
- b) Um dem „halb“ Vorfahrtberechtigten eine (Mit-)Haftung unter dem Gesichtspunkt schuldhaft gesteigerter Betriebsgefahr anzulasten, muss der Wartepflichtige einen unfallursächlichen Verkehrsverstoß darlegen und beweisen. Dazu hat er zwei Möglichkeiten:
- Er muss einen Verstoß gegen die allgemein zulässige Höchstgeschwindigkeit nachweisen.
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- Ausreichend ist es auch, wenn er zumindest nachweist, dass diejenige Geschwindigkeit überschritten wurde, die aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse für den „halb“ Bevorrechtigten erforderlich war, damit dieser seine eigene Wartepflicht beachten konnte. Dazu muss der Wartepflichtige zunächst die erforderliche Sichtbehinderung des Vorfahrtberechtigten beweisen. Sodann muss er nachweisen, dass die gebotene Geschwindigkeit überschritten war und eine Kausalität des Verstoßes besteht (SV-Gutachten).
- c) Als weitere Mithaftungsansätze kommen infrage:
- ein Beobachtungsverschulden,
- der Aspekt „unklare Verkehrslage“ (zu beidem OLG Karlsruhe NZV 12, 229)
- und schließlich ein Verstoß gegen § 1 StVO (dazu LG Saarbrücken NZV 12, 173; OLG Saarbrücken OLGR 09, 394 - links-rechts-links für bevorrechtigten Abbieger).
- d) Fotos von der Unfallstelle, am besten direkt nach dem Unfall aufgenommen (etwa bei Sichtbehinderung durch abgestellte Fahrzeuge) sind für beide Seiten geeignete Beweismittel. Um seine freie Sicht nach rechts glaubhaft zu machen, kann ein Hinweis auf die erhöhte Sitzposition für den „halb“ Vorfahrtberechtigten empfehlenswert sein (Lkw/Bus).
- e) Näheres zur Feststellung und Zurechnung von Geschwindigkeitsüberschreitungen bei Eggert VA 09, 42.
- 10. Anscheinsbeweis: Der gegen den Wartepflichtigen sprechende Anscheinsbeweis einer schuldhaften Vorfahrtverletzung gilt auch in Fällen „halber Vorfahrt“ (KG DAR 02, 66; AG Berlin-Mitte SP 13, 288). Erschüttert wird er nur durch einen groben Verkehrsverstoß des Vorfahrtberechtigten. Bei nur schwer einsehbarer Kreuzung die Geschwindigkeit nicht angepasst zu haben, genügt nicht.
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