· ZR-Fachgespräch
„Menschen mit Behinderungen sollen sich bei uns willkommen fühlen!“
| Professor Andreas Schulte hat seit 2014 den bundesweit einzigen Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin inne, und das, obwohl es in Deutschland schätzungsweise drei Millionen Menschen gibt, die eine zahnmedizinisch relevante Behinderung haben. Im ZR-Fachgespräch mit Schriftleiterin Dr. med. dent. Kerstin Albrecht erläutert Professor Schulte, welche Anforderungen der Umgang mit Menschen mit Behinderungen an Behandlerinnen und Behandler stellt und wie dies an der Universität Witten/Herdecke Zahnmedizinstudierenden vermittelt wird. |
Frage: Herr Professor Schulte, was genau sind zahnmedizinisch relevante Behinderungen?
Antwort: Zahnmedizinisch relevante Behinderungen finden wir in fünf Personengruppen. Dazu gehört die Gruppe der Menschen, die aus den verschiedensten Gründen nicht in der Lage sind, eigenständig ihre Mundpflege durchzuführen. Die zweite Gruppe fasst all die Menschen zusammen, die sich im Zusammenspiel mit einer Behinderung, einem speziellen Syndrom oder einer Entwicklungsstörung oft sehr süß und kohlenhydratreich ernähren und dadurch besonders kariesgefährdet sind. Eine dritte Gruppe umfasst Menschen, mit denen die Kommunikation ‒ auch die non-verbale ‒ nur eingeschränkt oder gar nicht möglich ist. Eine vierte Gruppe bilden Patienten, die aufgrund ihrer Behinderung, zum Beispiel einer Spastik oder eines Syndroms, sehr unruhig sind oder zittern und bei denen eine reguläre Behandlung deshalb gar nicht möglich ist. Als letzte Gruppe fallen alle die Patienten unter die Bezeichnung einer zahnmedizinisch relevanten Behinderung, die unsere Praxen und Kliniken nur mit Unterstützung erreichen können und auf eine barrierefreie Zugänglichkeit angewiesen sind.
Frage: Was braucht es, um die angesprochenen Patientinnen und Patienten gut zu betreuen?
Antwort: Behandlerinnen und Behandler müssen mit diesen Menschen viel Geduld haben. Dazu gehört die Bereitschaft, die Kommunikation auch anders als auf die herkömmliche Weise durchzuführen, also zum Beispiel durch den Gebrauch der einfachen Sprache. Darüber hinaus zeige ich häufig die Instrumente und lasse sie von den Patienten auch in die Hand nehmen.
Aus der Kinderbehandlung kennen wir den Dreiklang Tell ‒ Show ‒ Do. Bei Menschen mit Behinderungen sind es eher fünf Schritte: Tell ‒ Show ‒ erneut Show ‒ Feel ‒ und dann erst das Do. Es braucht Zeit und Geduld, um diesen Vertrauensaufbau zu leisten. Dies wird übrigens auch vom Team verlangt. Nur dann fühlen sich Menschen mit Behinderungen im zahnärztlichen Umfeld wohl und willkommen.
Frage: Die AG ZMB, die seit letztem Jahr DGZMB heißt, hat ihre Wurzeln in der langjährig bestehenden Arbeitsgemeinschaft für Zahnärztliche Behindertenbehandlung des Berufsverbandes Deutscher Oralchirurgen (BDO). War die Durchführung der Behandlung von Menschen mit Behinderungen bei den Oralchirurgen eine Folge davon, dass häufig viele chirurgische Maßnahmen in Form von Extraktionen durchgeführt wurden und dass weniger der Fokus auf Prävention gelegt wurde? Hat sich das in den letzten Jahren verändert?
Antwort: Ein ganz naheliegender Grund dafür war einfach, dass die Oralchirurgen schon immer die Möglichkeit einer ambulanten Intubationsnarkose (ITN) aufgrund ihrer chirurgischen Tätigkeit vorgehalten haben und Menschen mit Behinderungen eine solche Behandlungsform häufig benötigen. Daneben war die Möglichkeit zur Behandlung in ITN an den Universitätskliniken natürlich auch in den Abteilungen für Zahnerhaltung und/oder Kinderzahnheilkunde bzw. MKG-Chirurgie beheimatet. So wurden und werden auch dort Menschen mit Behinderungen versorgt.
Inzwischen wird auch bei diesen Patienten das Augenmerk vermehrt auf die Prävention gelegt, denn nur so können wir viele schwierige und aufwendige Folgebehandlungen vermeiden. Als ich zum Beispiel meine Tätigkeit an der Universität Witten/Herdecke aufnahm und vorschlug, dass meine Patienten mit Behinderung alle drei bis vier Monate zum Recall kommen sollten, haben mich Angehörige und Betreuer ungläubig angesehen. Mittlerweile sind solche Intervalle durchaus akzeptiert, auch wenn es manchmal für die Angehörigen und/oder Betreuer schwierig ist, diese häufigen Besuche zu leisten.
Frage: Wie wird an der Uni Witten/Herdecke die zahnärztliche Versorgung von Menschen mit Behinderungen gelehrt?
Antwort: Vorlesungen gibt es mindestens einmal pro Studienjahr. Im 8. und 9. Semester finden zudem Seminare für die Studierenden statt. Dort sprechen wir über verschiedene Aspekte bei der Behandlung von Menschen mit Behinderungen und die Studierenden müssen dazu selber Vorträge halten. Daneben gibt es ein Kommunikationspraktikum, das aus fünf Stationen à 45 Minuten besteht. Die Studierenden bilden Dreiergruppen, in denen jeder einmal die Rolle von Patient, Zahnarzt und Assistenz übernimmt. In diesem Setting wird zum Beispiel die Behandlung eines blinden Patienten nachgestellt, wobei der Praktikumsteilnehmer in der Rolle des Patienten tatsächlich die Augen verbunden bekommt und der Praktikumsteilnehmer in der Rolle des Zahnarztes dem „blinden“ Patienten erklären soll, was sein zahnmedizinisches Problem ist und was bei der Behandlung passieren wird. Weitere Übungsszenarien sind der Umgang mit Patienten mit geistiger Behinderung, mit Cerebralparese sowie mit Menschen im Rollstuhl. In einer weiteren Station werden Übungen zur unterstützenden Mundpflege durchgeführt. Dazu gehört unter anderem, dass sich die Praktikumsteilnehmer gegenseitig die Zähne putzen. Schließlich sollen Zahnärztinnen und Zahnärzte später in der Lage sein, den pflegenden Angehörigen die unterstützende Mundpflege zu vermitteln.
Frage: Gibt es eigentlich die Möglichkeit, sich auf die Behandlung von Menschen mit Behinderungen zu spezialisieren?
Antwort: Die Möglichkeit gibt es, indem Kolleginnen und Kollegen einzelne Fortbildungen in diesem Bereich besuchen, aber es gibt keinen „Spezialisten für die zahnmedizinische Behandlung von Menschen mit Behinderungen“, so wie es einen für Alterszahnheilkunde gibt.
Frage: Haben Sie abschließend noch einen Tipp, was Kolleginnen und Kollegen im Umgang mit ihren Patienten mit Behinderungen beachten sollten?
Antwort: Da gibt es natürlich viele Tipps. Ein wichtiges Detail ist zum Beispiel die Sitzposition des Patienten mit Behinderung im Behandlungsstuhl. Ich rate dringend davon ab, nach einer kurzen Kennenlernphase am Behandlungsstuhl den Knopf mit der einprogrammierten Liegeposition zu drücken. Patienten mit einer geistigen Behinderung richten sich dann gewöhnlich sofort wieder auf, und die Vertrauensbildung ist gestört. Ich versuche die Rückenlehne in mehreren Etappen mit Pausen herunterzufahren, während ich mit dem Patienten spreche und Dinge erkläre. Eine Stellung der Rückenlehne über 45 Grad hinaus wird allerdings selten oder erst nach langer Eingewöhnung toleriert.
Herr Professor Schulte, vielen Dank für das Gespräch!